My „Wagon Wheel“

Im Frühjahr 2007 hatte ich eine Reise an die Westküste der USA angetreten. Geflogen war ich direkt nach San Francisco und hatte dort einige Tage in der kleinen Wohnung über dem Tanzstudios eines Freundes verbracht. Von dort aus erkundigte ich am ersten Tag zuerst die Nachbarschaft und unternahm dann mit dem Bus einige Ausflüge in die Bay Area der Stadt. Zum Frühstück war ich in der Zeit meist um die Ecke im Coffeeshop Martha & Bros., wo übrigens auch die Idee zu meinem Song „Black as the Devil“ entstand. Obwohl es tagsüber während meiner Unternehmungen fast immer sonnig war, war der Frühling noch nicht ganz in die Stadt eingezogen. Es dauerte meist bis zur Mittagszeit bis die Sonne durch die Wolken drang und abends war es sehr früh ziemlich kühl und ungemütlich.
Drei Tage nach meiner Ankunft holte ich mir Downtown den bereits in Deutschland gebuchten Leihwagen in einer Parkgarage ab und fuhr dann von San Francisco den Highway 1 entlang Richtung Süden. Als ich am späten Vormittag aus der Stadt herauskam, wusste ich noch nicht wo ich abends schlafen würde. Auf Anraten meines amerikanischen Gastgebers hatte ich im Internet aber zur Sicherheit einige Übernachtungsadressen herausgesucht, die ungefähr auf dem Weg lagen. Am ersten Tag schaffte ich es über San Jose und Santa Cruz bis nach Monterey und übernachtete dort in einem sehr angenehmen HI-Hostel in einem Mehrbettzimmer. In den amerikanischen Hostels Süd-Kaliforniens bekam man für die Übernachtung im Zimmer zwar frische Bettwäsche, aber kein eigentliches Frühstück. Es gab aber eine Gemeinschaftsküche und da wurden morgens eine Kochgelegenheit, Pfannen, Geschirr und Pancake-Teig zum Selberbacken kostenlos zur Verfügung gestellt. Beim Frühstück meiner selbstgebackenen Pancakes (sehr sättigend) kam ich dann mit einigen anderen Reisenden ins Gespräch, die meisten von ihnen waren überzeugte Hiker & Biker. Ich besorgte mir beim Checkout eine Übersichtskarte mit weiteren Hostels der HI-Kette und fuhr dann weiter die Küste entlang nach Big Sur. Nachdem ich die Bucht von Monterey hinter mir gelassen hatte, spürte ich förmlich die Wärme des Frühlings durch die geöffneten Fenster meines Wagens wehen, es war herrlich. Ich fuhr die wunderbare Strecke am Pazifik entlang der Santa Lucia Range  und hielt hin und wieder an um Fotos zu machen (von denen einige im Booklet des Albums „Shine like Gold“ landeten). Ich ließ mir Zeit, wollte nicht hetzen und als es langsam Abend wurde war klar, dass ich es nicht mehr bis Santa Barbara schaffen würde. Auf der Karte, die ich mir besorgt hatte, war ein kleines Hostel eingezeichnet und so fuhr ich mit der sinkenden Abendsonne hinein in das kleine, mir bis dahin völlig unbekannte Städtchen San Luis Obispo. Bevor ich das Hostel ansteuerte drehte ich eine kleine Runde durch die Stadt und stellte fest: Viel zu sehen gab es da nicht. Das Hostel selbst war ein kleines Wohnhaus in einem ruhigen und altwürdigen Mittelklasseviertel. Obwohl ich nicht reserviert hatte, wurde ich freundlich empfangen und es war auch noch ein Bett für mich frei. Weil klar war, dass die verdöste Stadt nichts zu bieten hatte und weil der Tag lang gewesen war, entschloss ich mich dazu im Gemeinschaftsraum des Hostels zu bleiben und mit dem frei zugänglichen Computer meine Mails zu checken und einige organisatorische Dinge zu regeln (zwei Interviewtermine standen kurz bevor). Weil niemand anderes da war, hatte ich den Raum für mich alleine und tippte und las so vor mich hin. Insgesamt muss ich wohl an die 2-3 Stunden da verbracht haben und die ganze Zeit lief das CD-Album einer Band im Hintergrund auf Repeat. Ich muss das Album wohl ca. 3-4 mal komplett durchgehört haben und langsam kamen mir die Songs immer vertrauter vor. Irgendwann ging ich dann zu Bett und erst am nächsten Tag fragte ich die junge Frau an der Rezeption was ich da am gestrigen Abend so oft gehört hatte. Es war das Debut-Album „O.C.M.S.“ der jungen, amerikanischen Band Old Crow Medicine Show von 2004. An dem Tag fuhr ich weiter nach Santa Barbara. In Santa Monica traf ich den Musiker und Transkripteur Fred Sokolow und führte ein Interview mit ihm, danach traf ich den Autor Jim Dawson und führte mit ihm ebenfalls ein Interview. Ich fuhr weiter nach San Diego und begegnete dort Ingrid Croce, der Witwe meines großen Idols Jim Croce, in ihrem berühmten Restaurant „Top Hat Bar & Grill“. Danach war ich in Tijuana, Mexico, im Folk Music Center der Mutter von Ben Harper in Claremont, in den Spielhallen von Las Vegas, in der trockenen Salzwüste des Death Valley, bei Verwandten in Bishop am Fuße der verschneiten Sierra Nevada, am eiskalten Lake Tahoe, in Sacramento, der Hauptstadt des Bundesstaates Kalifornien (zu der Zeit auch Regierungssitz des Gouvernators), dann zurück in San Francisco und die ganze, lange Zeit ging mir die Musik, die ich an diesem einen Abend im Hostel in der Kleinstadt San Luis Obispo gehört hatte nicht mehr aus dem Sinn. Ich hatte das Städtchen falsch eingeschätzt, es hat durch dieses Erlebnis einen mindestens genau so tiefen Eindruck bei mir hinterlassen wie alle anderen Stationen meines Trips und ich denke gerne an den einsamen Abend im Hostel zurück.
Als ich wieder zuhause in Deutschland war, bestellte ich mir das Album der Band von der bis dahin noch niemand etwas gehört hatte, den ich kannte. Ich hörte das Album wochenlang, von vorn bis hinten und rauf und runter. Der letzte Song des Album war „Wagon Wheel“ in klingend A-Dur, Capo zweiter Bund. Ohne Capo (in G-Dur) war es einer der wenigen Songs des Albums, den ich mit meiner Stimmlage ohne Probleme singen konnte. Es hat eine Weile gedauert bis ich mir den langen Songtext fehlerlos merken konnte, aber ich fand mich sofort darin wieder. Es geht ums Unterwegssein, ums Loslassen, ums Weitermachen, darum Hindernisse zu überwinden und ins Ungewisse zu gehen. Der Sänger bewegt sich nach Süden, fährt stundenlang die Küste entlang, freut sich auf die Dame seines Herzens, er flieht vor der Kälte, er ist Musiker, spielt Banjo, hat kein Geld mehr in den Taschen, jede Menge Ärger am Hals, trotzdem begegnet er auf seinem Weg freundlichen Fremden, die ihm weiterhelfen, aber er muss doch weiter, immer weiter, „and if I die (…) at least I will die free.“
Seit 2008 ist der Song „Wagon Wheel“ der erste und letzte Songs bei meinen Konzerten. Er ist auch der Eröffnungssong auf meinem Album „B-Sides & Rarities“ von 2010 mit dem für mich eine neue Phase begann, weil ich zum ersten Mal mit meiner eigenen Band aufnahm, die bis heute in nahezu gleicher Besetzung besteht.

Die Songkomposition „Wagon Wheel“ besteht aus zwei Teilen. Der Chorus wurde als „Rock me Mama“ von Bob Dylan geschrieben und ist ein nur als Bootleg erschienener Outtake der Session zu dem Soundtrack „Pat Garrett and Billy the Kid“. Die Strophen wurden ergänzt von Ketch Secor, dem Geiger, Sänger und Mundharmonikaspieler der Band Old Crow Medicine Show. Zur genauen Entstehungsgeschichte siehe: http://en.wikipedia.org/wiki/Ketch_Secor

Epi-Log: Im Januar 2013 wurde eine an den Mainstream-Country-Markt gerichtete Version des Songs „Wagon Wheel“ von dem schwarzen Countrysänger Darius Rucker veröffentlicht.

5 Gedanken zu „My „Wagon Wheel“

  1. how exciting a report. thx 4 sharing, dennis. let me go ahead and jam „O.C.M.S.“. having read your story i now will hear the album w/ different ears 😉

    • Herzlichen willkommen auf meinem Blog und danke für den Kommentar, Mandy. Muss allerdings noch meine Linie finden. Aber so ähnliche Storys wie My „Wagon Wheel“ sind wahrscheinlich in Zukunft öfter dabei. Freue mich auf weitere Besuche und Kommentare von Dir.

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