Einer der Söhne meines Ururgroßvaters Ludwig Schütze (Senior) war Ludwig Hermann Schütze (mein Urgroßvater). Er wurde am 12. April 1869 in Düsseldorf geboren, wuchs dort auf, ging zur Schule und absolvierte ab 1886 eine Lehre zum Kunsthändler in der Firma Ed. Schulte, bei der sein Vater als Geschäftsführer angestellt war. Nach seiner Lehrzeit zog er 1889 nach Berlin und trat dort eine Stelle als Korrespondent bei der Photographischen Gesellschaft Berlin an. Von Herbst 1891-92 musste er die Arbeit dort unterbrechen und absolvierte seinen Militärdienst. In seinen Lebenserinnerungen äußert er sich kritisch über die „Willkür der Subalternen“, „die oft recht rohe Behandlung wehrloser Rekruten durch brutale Unteroffiziere“, den „vielfach geistlosen Drill“. Einige kleinere Verletzungen lassen ihn mehrmals Zeit im Lazarett verbringen, er nahm deswegen nicht am Manöver teil und die übliche Beförderung blieb aus. Das scheint ihm aber nichts ausgemacht zuhaben. Amüsiert erzählt er die Anekdote, dass er aufgrund seines Nachnamens von den Militärs vorab maßlos überschätzt wurde und bei den Schießübungen dann kläglich versagte. Nach seiner Rückkehr an seinen Arbeitsplatz in Berlin macht man ihm das Angebot doch für einige Zeit in die Filiale nach New York zu wechseln. Als abenteuerlustiger und noch lediger, junger Mann nahm er diese einmalige Gelegenheit dankend an. Er reiste zuerst nach London und arbeitete eine Zeit lang in der dortigen Filiale um sich mit dem Abläufen vertraut zu machen. Ende Oktober 1892 bestieg er in Southampton den Schnelldampfer „Lahn“, überquerte den Atlantik und betrat in New York erstmals amerikanischen Boden. Zur Jahreswende arbeitete er bereits in der New Yorker Filiale der Photographischen Gesellschaft, übernahm kurz danach die Geschäftsleitung und verbrachte dort seine nächsten elf Lebensjahre. Am 10. Oktober 1896 heiratete er die deutschstämmige Amerikanerin Frida Volkmann, sie galt als kulturell gebildet und spielte Klavier. Aus dieser Ehe gingen vier Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter, hervor. Die Familie wohnte in Brooklyn und hier wurde im August 1902 in Flatbush mein Großvater Ralph Ernst Schütze geboren. Kurz danach übersiedelte die ganze Familie zurück nach Berlin. Mein Urgroßvater arbeitete noch bis Ende der 1920er Jahre für die Photographische Gesellschaft Berlin, im Jahr 1928 eröffnete er zusammen mit Charlotte Luke die Galerie „Kunststube“ in Berlin. Er schrieb – wie sein Vater – nebenberuflich feuilletonistische Artikel und Kunstkritiken für amerikanische und deutsche Zeitungen und Zeitschriften u.a. für die Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ). Ab Anfang der 1930er Jahre zog er sich aus dem beruflichen Leben zurück und verbrachte mehrere, längere Aufenthalte in einem Sanatorium. Er litt unter einem sog. „schweren Gemüt“, war im Alter vermutlich depressiv. Aus dieser Zeit stammen die umfangreichen Lebenserinnerungen („Aus den Erinnerungen eines alten Kunsthändlers“) und diverse Kurzgeschichten. Für ihn als aufgeschlossenen und weltgewandten Kunst- und Kulturliebhaber müssen die politischen Verhältnisse zum Ende seines Lebens bedrückend gewesen sein. Er äußert sich dazu in seinen Erinnerungen fast gar nicht und wenn, dann nie konkret. Ob das eine Vorsichtsmaßnahme angesichts der totalitären Überwachung gewesen ist oder ob er sich tatsächlich nicht für Tagespolitik interessierte, wird nicht ganz klar. Er stirbt im November 1943 in Berlin eines natürlich Todes, an Kamphandlungen war er Zeit seines Lebens nicht beteiligt.
Ralph Ernst Schütze (mein Großvater) wurde am 18. August 1902 in Flatbush, Brooklyn geboren. Bereits als Kleinkind siedeln die Eltern um, zurück nach Berlin. Zwei Jahre später wird dort im Jahr 1904 sein kleiner Bruder Ludwig Joseph Schütze als jüngstes Kind der Familie geboren. Ralph Ernst geht in Berlin zur Schule, absolviert eine Lehre und macht am 17. Dezember 1924 seinen Führerschein. Automobile, Motoren und Technik sollen zeitlebens seine große Leidenschaft bleiben, er arbeitet bis zum Ende des Krieges für die Bayerischen Motorenwerke in Berlin und heiratet zweimal in seinem Leben. Aus der ersten Ehe gehen drei Kinder, zwei Töchter und ein Sohn hervor. Die zweite Ehe schließt er am 16. Februar 1942 mit der blutjungen Esther Ruth Reger (meiner Großmutter). Ihr erster Sohn Christian Michael Schütze (mein Onkel) wird im März 1942 in Berlin geboren, ihr zweiter Sohn Thomas Ralph Schütze (mein Vater) wird am 13. November 1943 geboren, ebenfalls in Berlin. Kurz danach verlassen Ehefrau, Ex-Ehefrau, die fünf Kinder und weitere Verwandte die Hauptstadt, die zunehmend unter alliierten Bombardements zu leiden hat. Für mehrere Jahre leben große Teile der Familie Schütze in Sicherheit vor den Kriegshandlungen in dem kleinen Bergdorf Gerlos in Tirol in Österreich. Mein Großvater arbeitet derweil immer noch für BMW in Berlin, kann es aber einrichten, dass er regelmäßig in einer Fabrik in der Nähe zu tun hat und kommt alle paar Wochen oder Monate vorbei. Erst 1946 kehrt die Familie nach Berlin zurück, ihre Wohnungen sind nicht zerstört worden und alle haben überlebt. Ralph Schütze gilt als stattlicher und gewitzter Mann, er spielt etwas Gitarre und singt dazu mit kräftiger Stimme. Nach dem Krieg arbeitet er als Autohändler bei dem amerikanischen Hersteller Ford. Zum Ende seines Lebens wird auch er – wie sein Vater – schwermütig kommt in Zeiten des Wirtschaftswunders nicht mehr zurecht. Er stirbt am 27. September 1964, also acht Jahre vor meiner Geburt.
Erwähnen will ich in diesem Zusammenhang noch den kleinen Bruder meines Großvaters. Ludwig Joseph Schütze wurde 1904 in Berlin geboren. Nach seiner Schulzeit und einer Lehre zum Buchhändler studierte er am Berliner Konservatorium Klavier. Danach arbeitete er als privater Musiklehrer und unterrichtete Klavier und Blockflöte. Im Laufe seines Lebens vertonte er Gedichte zu Liedern und komponierte für Klavier und Blockflötenensemble. Etliche seiner Liedkompositionen wurden im Rahmen von Liederabenden öffentlich aufgeführt, nach dem Krieg wurden einige Lieder im Radio gesendet, Tonaufnahmen existieren leider nicht. Seine musikalische Hinterlassenschaft befindet sich mittlerweile in meinem Besitz. Ein „Allegro für Klavier und Klarinette“ in F-Dur habe ich transkribiert. Es liegen nun ein Notensatz und eine ePlayer-Version vor. Sein Stil ist stark von der klassisch-romantischen Tradition geprägt. Klassische Moderne oder gar Folklore, Jazz oder Unterhaltungsmusik spielen keine erkennbare Rolle.
Mein Vater Thomas Ralph Schütze wurde am 13. November 1943 in Berlin geboren. Sein früheste Kindheit verbrachte er in dem kleinen Bergdorf Gerlos in den Tiroler Alpen. Ab ca. 1946 wuchs er in Berlin auf, ging dort zur Schule, absolvierte eine Lehre zum Schlosser, arbeitet dann auf einer Werft in Hamburg und fuhr für etliche Jahre zur See. Auf großen Tankern schipperte er durch alle Weltmeere und studierte anschließend Ingenieurswesen. Ich wurde im Juli 1972 noch in Elmshorn bei Hamburg geboren, kurz danach zog die kleine Familie nach München, wo mein Vater Arbeit als Betriebsingenieur am neu errichteten Klinikum Großhadern gefunden hatte. Aus der Ehe mit Heidelore Marie-Luise Zerbe (meiner Mutter) gingen zwei Kinder hervor. Im Juni 1975 wurde in München meine Schwester Melanie geboren.
Soweit mein erster Überblick, ist doch ein ganzes Stück länger geraten als ich dachte. Einige der Gedichte, Kurzgeschichten, Lebenserinnerungen, Fotos, Zeichnungen und Kompositionen meiner Vorfahren werde ich im Lauf der nächsten Wochen und Monate auf diesem Blog vorstellen. Ich habe zwar schon einiges gesichtet, habe aber auch noch einiges vor mir, teilweise müssen die Dokumente auch vorbereitet und aufgearbeitet werden. Die Familiengeschichte(n) wird mich noch eine Weile beschäftigen.
Quellen:
Ludwig Hermann Schütze: Aus den Erinnerungen eines alten Kunsthändlers. (Privat)
Ludwig Joseph Schütze: Sämtliche Werke. (Privat)
Ulrich Parenth: Wie Goethes „Faust“ auf die Bühne kam. (Gerd J. Holtzmeyer Verlag)
L. von Alvensleben: Biographisches Taschenbuch deutscher Bühnen-Künstler und Künstlerinnen (Leipzig, 1837)
A. Entsch: Deutscher Bühnenalmanach (Berlin, 1869)
Recht spannungsreich!
@Dennis: Es wäre praktisch, wenn du ein Widget „Letzte Kommentare“ in dein Blog einbinden könntest, man verliert ja sonst den Überblick. Danke 🙂
@Stefan, das stimmt. Ich hatte nur durch Zufall deine Antwort in „Familiengeschichte(n): Das Bildnis meines Urgroßvaters“ gefunden. Habe darauf geantwortet, aber ohne Widget landen späte Entgegnungen durchaus im „Aus“ (wo sie vielleicht eh hingehören).
@Alle beide: Ich dachte ihr werdet durch den RSS-Feed „Kommentare abonnieren“ informiert. Danke jedenfalls für den Hinweis, werde mich zeitnah drum kümmern. Ins „Aus“ gehören die Kommentare auf jeden Fall nicht.
@Dennis: Ja, der RSS-Feed ist natürlich am Wichtigsten, aber eben nicht immer zur Hand (z. B. wenn man fremde Rechner benutzt).
Herrlich in solchen Berichten sind auch immer diverse altsprachliche Termini, wie „Schnelldampfer“, „schweres Gemüt“ oder „Dilettanten-Vereine“ …
@Axel. Bist anscheinend auch ein Exotische-Worte-Sammler. Die Texte über meinem Urururgroßvater und die Lebenserinnerungen meines Urgroßvaters bieten da eine reiche Auswahl. Gut fand ich auch die „Willkür der Subalternen“.
Werde ich den kommenden Wochen einige Originaltexte und auch eine Komposition posten. Stay tuned!
..ja die Dilletanten waren mal das Gegenteil von dem was man heute so allgemein darunter versteht; ich sehe mich als solcher im Besten Sinne https://de.wikipedia.org/wiki/Dilettant
Sehr, sehr interessant!! Ich kann leider nur ahnen, was wohl in einem vorgeht, wenn man derart weit und auch tief in das Leben seiner Vorfahren zurück blicken und teilweise auch eintauchen kann! Spannend!