Gastbeitrag von Prof. Dr. Norbert Schläbitz (Westfälische Wilhelms-Universität Münster)
Postfaktisch ist zum Wort des Jahres 2016 ausgelobt worden. Das soll so viel heißen, dass Fakten eine mehr nachgeordnete bis gar keine Bedeutung haben und gefühlsmäßige Stimmungen zum Eigentlichen erhoben werden. Zahlreiche Beispiele lassen sich für die jüngere Vergangenheit dafür benennen, die an dieser Stelle gleichwohl keine besondere Rolle spielen.
Es mutet allerdings vielleicht sonderbar an, dass diese auf die gegenwärtigen Verhältnisse bezogene Zuschreibung auf eine vermeintlich wissenschaftliche Disziplin angewendet wird, zumal diese in einem Jahrhundert an Universitäten sich etabliert, die vom Positivismus, vom Rationalismus, von auf harten Fakten beruhenden technischen Innovationen bestimmt ist. Von postfaktischen Zuständen kann da zunächst einmal keine Rede sein.
Genauer gesagt ist vom 19. Jahrhundert die Rede. Das 19. Jahrhundert lässt sich in der Tat als ein Jahrhundert der Wissenschaften herausstellen, die nach der Diktion von Luhmann allein dem Kriterium von wahr/falsch sich verpflichtet fühlen. Daneben gibt es aber auch Disziplinen, die sich zwar wissenschaftlich wähnen, aber stattdessen dem Gefühl ihre Referenz erweisen. Zu diesen gehört auch die Musik-„Wissenschaft“. Sie orientiert sich weniger an Fakten denn mehr an Gefühlen und Stimmungen, gibt sich diesen hin. Und auf der Basis dieser Hingabe werden Schriften verfertigt, die sich zwar wissenschaftlich nennen, aber postfaktisch unterminiert sind. Das sieht seinen Grund darin, dass der Bezugspunkt der Historischen Musikwissenschaft weniger die Wissenschaft ist denn mehr die Romantik mit ihren geradezu märchenhaften Schriften. Ja, die Romantik wendet sich sogar explizit gegen das harte Zahlen- und Faktenargument von Wissenschaft. Und genau hier, in der Romantik, hat die Historische Musikwissenschaft primär ihre Heimat; aus der Romantik geboren, nimmt die Historische Musikwissenschaft den Stift, schreibt auf, was sie bewegt.
Das Postfaktische in der Historischen Musikwissenschaft
Einige Beispiele, wie wenig auf Faktentreue die Historische Musikwissenschaft Wert legt, mögen hierzu angeführt werden. Nehmen wir Adolph Bernhard Marx und sein 1867 posthum erschienenes Buch Das Ideal und die Gegenwart, in dem mit märchenhaften, sprich: postfaktischen Worten Folgendes geschrieben steht: »Das inwendig wallende und waltende und fortwirkende Leben, das im getreuen Wiederhall uns zu offenbaren, – vielmehr die Räthselwelt des verhüllten Innern in Räthselsprache uns geheimnisvoll zu deuten: das ist die Bestimmung der Musik, – Räthsel sie selber, Räthselsprache für die ewigen Geheimnisse derMenschenbrust. […] Dennoch war es nicht den Alten beschieden […], die Kunst des Innern zur Vollendung zu führen. […] Erst das Christentum, dem innerlichen Leben zugewendet, den Blick auf das Ueberirdische, Körperlose geheftet, seinem ganzen Wesen nach Mysterium, gleichsam die Geburtsstätte des in sich zur Selbsterkennung gewendeten Seelenlebens und die Zufluchtsstätte für die nach ihrem Ursprung hinverlangende Seele, erst das Christentum konnte diese Kunst, das seligspielende Abbild seiner selbst, zur Vollendung und Herrschaft bringen. […] Sehr spät erst ist diese jüngste der Künste zu ihrer Vollendung gelangt; Sebastian Bach und Händel, die Söhne des vorigen Jahrhunderts, bezeichnen die ersten Fußstapfen auf der Höhe.« Das sind Worte, die von einem gefühlsträchtigen Glaubensbekenntnis bestimmt sind, aber keineswegs Worte, die bemüht sind, möglichst objektiv oder faktentreu über Musik zu schreiben. Adolph Bernhard Marx ist nun kein irgendwer. Im Gegenteil, mit seiner Berufung im Jahr 1830 auf den Berliner Lehrstuhl kann im Grunde die Geburtsstunde der Musikwissenschaft ausgerufen werden. Beispiele wie diese durchziehen die Geschichte der Musikwissenschaft zuhauf.
Ernst Bücken schreibt 1942 in dem von ihm herausgegebenen Handbuch für Musikwissenschaft über Mozart in folgender Weise: »Was in der c–moll-, der e-moll-Sonate in wildem, trotzigem Ungestüm losbricht und manchmal schon ein jung-Beethovensches Titanentum vorklingen läßt, ist die erste große Eigenprägung des Mozartschen Schöpfertums. […] Welche Fülle von feinen Details alles dessen, in dem Mozart weit über den Zeitstil hinaus der Einzige ist und geblieben ist! Das Brausen einer feurigen Jünglingsseele, der epochale Sturm und Drang haben zum ersten Male eine Schöpferkraft entfesselt, die ein summum opus des siebzehnjährigen Künstlers entstehen ließ.« Trotzig und ungestüm bricht die Musik los, so will es Ernst Bücken ausgemacht haben. Auf welche Weise man methodisch hier das Trotzige in einer Musik ermittelt, ist leider dann nicht vorgestellt. Hier liefert die eigene Begeisterung für die Musik von Mozart die Grundlage zum romantisch verklärten Schreiben, das einem Titanentum und Geniekult huldigt, das von allen irdischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen losgelöst wild und märchenhaft drauflosfantasiert – postfaktisch eben. Was kümmern schon tatsächliche Gegebenheiten, wo die Begeisterung des Schriftsetzers einen anderen Menschen in Szene setzen will?
Der so Schreibende ist mehr ein vom Musikgenuss eingenommener Kulturbewahrer, aber kaum ein Wissenschaftler. Möchte man als Wissenschaftler möglichst getreu wissen, was war, so schafft man als begeisterter Kulturbewahrer in dieser, aber auch späteren Zeit sich eine eigene Welt; eine Welt, so geschaffen, wie man sie gerne hätte. Christian Kaden weiß zu berichten: »Das Stereotyp vom ›guten (toten) Künstler‹, und der Beweihräucherungs-Service an diesem Guten, verbesserte kostenfrei das Eigenbild und das Eigenbewusstsein des Diensttuenden. Es beschert ihm, durch Übertragung, vorzeigbare Identität, kräftigt die Selbstbehauptung. Nur so lässt sich verstehen, dass auch härteste Lebens-Tatsachen der zum Idol-Deklarierten unter den Teppich gekehrt werden. Beethoven ist ein Beispiel dafür. Ein drastischeres noch ist die Rezeption Richard Wagners.« Als Beleg nennt Kaden neben Beethoven insbesondere Richard Wagner, dessen antisemitisches »Pamphlet« Aufklärungen über das Judentum in der Musik z. B. aus dem Jahre 1869, wie Kaden schreibt, »von der musikwissenschaftlichen Wahrnehmung ausgeblendet« geblieben ist. Im Klartext: So genau möchte die Fachdisziplin es gar nicht wissen, was für ein Mensch hinter dem Komponisten hervorlugt. Die Sentenz, was nicht passt, wird passend gemacht, findet hier ihren schlechten Ort, wo die Fachdisziplin Musik herumschwadroniert von Titanen und Genies, wo man sich lieber dem zuwendet, was dem eigenen Weltbild zuarbeitet und anderes Missliebiges korrigiert oder am besten gleich ganz weglässt. Der Heroenkult ersetzt wissenschaftliche Reflexivität und Genauigkeit durch unreflektierte Begeisterung mit fast schon religiös anmutender Gläubigkeit. Um diese Religionsgemeinschaft herum aber regieren längst die harten Faktenwissenschaften, die die Welt umgestalten.
Zur Gilde der Produzenten von Fake-News, die sich dessen gar nicht bewusst ist, zu sehr ist man umfangen von seiner eigenen Ideologie, gehört ganz fraglos an prominenter Stelle auch Arnold Schering mit seiner Beethovendeutung, die er in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts vorlegte. Er glaubt in der Musik von Beethoven, dabei mit dem Finger auf den Notenlinien Note für Note voranschreitend, symbolträchtige und vor allen Dinge eindeutige Motive auszumachen. Das liest sich dann wie folgt: »Das Folgende zeigt nämlich, daß Beethoven in diesem Satze den Daseinskampf eines von Gewalt bis zum Wahnsinn getriebenen Volkes hat darstellen wollen. Jedesmal, wenn die drohende musikalische Geste der Tyrannenwut (1–5, 22–24) erklungen, ächzen die Unterdrückten auf und versuchen eine Gegenwehr, die ihr Ziel zwar nie erreicht, aber mehrmals (so in 44ff.) bis zum gewaltigen Aufbäumen geht. Ein zweiter solcher Ansturm des Volkes war in Takt 58 vorüber. Ihn dämpft der Tyrann, indem er der drohend heranflutenden Menge seine Wächter entgegenstellt. Breitspurig und roh pflanzen sie sich auf (59–62). Läßt man dieses Bild gelten, dann ergibt sich für das p und dolce vorzutragende Seitenthema 63-ff. das Bild einer schützenden, beruhigenden Geste, etwa der Mütter, die ihre furchtsamen Kinder mit zärtlichem Zuruf besänftigen. Aus dem Zuruf entwickelt sich leidenschaftliche Ungeduld und drängende Sehnsucht (cresc., 84ff.) bis zum Erlösungsgedanken (94ff.): Ach, wären wir erst frei, alles wäre gut! Um diesen Preis willen wollen wir weiterkämpfen! […] Das Tyrannenmotiv bleibt auf unisone Tuttischläge beschränkt, während die Volkskampfmotive in allen Stimmen, Lagen und Schattierungen erscheinen können und in der Regel einen aufgelockerten Satz zeigen. Dort Unbeugsamkeit, brutaler Wille, hier Ratlosigkeit und Durcheinander. Mit beiden Gegensätzen arbeitet auch die Durchführung. Die freiheitliche Aufwallung, mit der der erste Teil schloß, wird mit einer neuen furchtbaren Drohung der Wächter beantwortet (125–128). Sie löst Trotz aus, der, dreimal mit ohnmächtigen Ansätzen beginnend, zu offener Empörung führt. Wie sich das zusammenrottet (158-ff.), in Wut die Fäuste schüttelt (168ff.), wie die Henkersknechte mit breiten Schritten heraneilen (179ff.) und die Menge zurückdrängen, bis alles erschöpft am Boden liegt, wie zwei maßlose Drohungen erfolgen – die zweite (240ff.) unter Aufgebot der gesamten fühllosen Henkerschar -, diese Szenen mag Beethoven in voller Realistik vor seinem inneren Auge erblickt haben.« Über mehrere hundert Seiten wolken solche musikalischen Blütenträume empor. Solchen postfaktischen Deutungsversuchen wollen dann selbst Zeitgenossen von Schering nicht mehr folgen, wenn 1949 von Andreas Liess geschrieben wird, dass mit dieser »völligen« ins Poetische abdriftenden Beethoven-Deutung Schering »über das Ziel hinausgeschossen« sei. Am Rande erwähnt: Interessant hier zu wissen wäre, bis zu welchem Grad die community in der Musik solche postfaktischen Schriften als wissenschaftlich akzeptiert und ab wann die Sache kippt und man davon spricht, dass wer über das Ziel hinausgeschossen sei bzw. dass gerade blühender Unsinn verbreitet wird.
So an den Haaren herbeigezogen Scherings Ausführungen auch klingen, theoretisch könnte es sich ja trotzdem so verhalten wie beschrieben, immerhin war für Menschen früher die Welt eine still stehenden Scheibe, der Gedanke einer runden, sich bewegenden Erde blühender Unsinn. Doch der vermeintliche Unsinn hat sich als gegenwartsfester erwiesen. So könnte, so märchenhaft das Geschriebene von Schering auch klingt, in diesem trotzdem eine den kompositorischen Tatsachen nahestehende Deutungsarbeit sich abbilden. Kopernikus Formeln konnten von anderen nachgerechnet werden, was zuletzt das Modell der stillstehenden Erde wegfegte. Es gilt also auch bei Schering, zu belegen, zu beweisen, damit Dritte den Schering’schen Ansatz überprüfen können. Es gilt also, eine halbwegs logische Kette aufzumachen, methodisch so zu arbeiten, dass Dritte zu ähnlichen Schlüssen kommen können. Vorgelegtes sollte also in irgendeiner Art und Weise zumindest ansatzweise objektivierbar sein, in irgendeiner Weise validierbar oder reliabel. Bei Scherings gedanklichen Schweifzügen ist das aber unmöglich. Wer immer will, kann und wird in die Musik von Beethoven etwas anderes hineinlegen können, da Musik von sich aus absolut nichtssagend ist und jeder hineinfantasieren kann, was ihm gerade vorschwebt. Das ist ja gerade die Stärke von Musik, ihre absolute Leere, die Bedeutungsfülle verspricht. Scherings Ansatz erfüllt hierin nicht einmal minimalste Wissenschaftsansprüche, denn er liefert ja nur eine bestenfalls hübsche Geschichte, die man auch anders hätte erzählen können.
Scherings selbst scheint die Unbeweisbarkeit seiner eigenen Deutung bewusst gewesen zu sein, denn er setzt dieser Aneinanderreihung von fantasiegesättigten Zeilen noch einen drauf, wenn er darauf zu sprechen kommt, inwieweit seine Schreibarbeit wissenschaftlich legitimiert sei. Seine so entworfene Auslegung kritisch zu hinterfragen verwirft Schering als »ungerechtfertigte Zumutung«, denn seine Beweisführung wäre von einem »innere[n] Verstehen, das gleicherweise geistiger wie seelischer Natur ist«, geleitet. So ist das also. Jedem Studenten damals, aber mehr noch heute würde man so eine Aussage um die Ohren schlagen, wo eine Einzelperson geistig-seelisches Verstehen zum Gradmesser von Wissenschaft macht. Schering ist obendrein von seiner eigenen Fake-News-Arbeit derart begeistert, dass er nicht nur glaubt, eine mögliche Interpretation zu Beethovens Werk geliefert zu haben, sondern gleich die Interpretation. »Ein Zweifel, ob wirklich der richtige Schlüssel gefunden ist oder ob außer der angegebenen Deutung nicht noch eine andere möglich sei, wird jedesmal von der Musik selbst zerstreut. Unsere Deutungen treten mit dem Anspruch auf, zum ersten Mal das von Beethoven geübte Prinzip der Anlehnung an poetische Vorbilder festgestellt und nachgewiesen zu haben.«
Wissenschaft nach Schering operiert also auf folgende Art und Weise:
1. Geistiges wie seelisches Verstehen ist für eine Auslegung unbedingte Voraussetzung,
2. auf dieser Grundlage hört/liest man die Musik und schreibt parallel dazu sozusagen 1:1 auf, auf welche Weise die von der Musik affizierte Seele zu einem spricht,
3. die vorgelegte Auslegung wird sodann als die Auslegung proklamiert, da man ja vom eigenen richtigen seelischen Verstehen überzeugt, ein Irrtum unmöglich ist,
4. zum Beleg eigenen Verstehens wird wieder auf die Musik zurückverwiesen.
Ein solches methodisches Vorgehen nennt man wohl tautologisch, ist vielleicht kurios, aber nicht einmal in rudimentersten Zügen wissenschaftlich. Übertragen wir diese wissenschaftliche Methode mal auf einen gänzlich anderen Fall. Ereignis: Es donnert. Das hinreichende geistige wie seelische Verstehen vorausgesetzt, denn was anderes braucht es ja nicht, fühle ich, dass einzig und allein ein Gott dafür verantwortlich sein kann. Und ich werde auch wohlfeile und reichlich Gründe dafür finden und benennen, von denen ich vollkommen überzeugt bin. Wer das nun nicht glauben mag, den verweise ich zum Beweis der Richtigkeit meiner Ausführungen zurück auf das Ereignis, den Donner. Q.e.d. Wer dann immer noch etwas anderes behauptet, dem fehlt halt das notwendige seelische Verstehen, das man selbst zum Glück irgendwie hat.
So kann man also auch „Wissenschaft“ im Bereich der Fachdisziplin Musik betreiben. Arnold Schering tritt hier eher auf im Gewand eines Schamanen auf, dessen Fähigkeiten nicht jedem gegeben sind und wo obendrein das „Wie“ einer Heilung ein Mysterium bleibt, aber nicht als Wissenschaftler. Aber wahrscheinlich tut man den Schamanen Unrecht, wenn man sie in den gleichen Topf wie Schering wirft. Heute wird in einer Einführung zur Musikwissenschaft Arnold Scherings Beethovendeutung und sein Ansatz von Burkhard Meischein als „berühmt-berüchtigt“ gewürdigt. Das ist noch milde formuliert. Was dort geschrieben steht, ist vollkommener Unsinn, postfaktisch rundherum, und wurde doch anstandslos als Wissenschaft, auch in musikwissenschaftlichen Zeitschriften publiziert und diskutiert. Arnold Schering gilt zudem nach wie vor als angesehener Musikwissenschaftler im Kreise der Fachdisziplin. Zumindest hat er es mit dieser durch und durch unwissenschaftlichen Schreiberei in mehrere Einführungen zur Musikwissenschaft geschafft. Man hat sich damit also tatsächlich ernsthaft mal beschäftigt, ja mehr noch: Es haben doch tatsächlich spätere Vertreter der Fachdisziplin sogar daran angeschlossen.
Im weiteren Verlauf ist daher auch nicht mehr von der Historischen Musikwissenschaft die Rede, das könnte den Irrtum aufscheinen lassen, dass es sich tatsächlich um eine wissenschaftliche Disziplin handelte, sondern von der Fachdisziplin Musik.
Möchte man träumen, schlägt man ein Buch von Vertretern der Fachdisziplin Musik zu Themen mit Herzensangelegenheiten auf, möchte man dagegen wissen, legt man diese lieber beiseite, recherchiert und liest an anderer Stelle besser selber noch einmal nach.
Bis in die Gegenwart hinein spielt das Postfaktische im Raum der Fachdisziplin eine Rolle. Fritz Volbach z.B., der Gründungsdirektor des musikwissenschaftlichen Instituts in Münster, schreibt im Jahre 1926 in seinem Handbuch für Musikwissenschaften über Beethoven und dessen Musik noch folgende salbungsvolle, postfaktisch gesättigte Worte: »Beethovens Kunst ist nicht wie die seiner Vorgänger, eine Kunst des schönen Scheins, des reizvollen Spiels, sie ist eine ethische, im höchsten Sinne sittliche Kunst; freie Bekenntnismusik. Nicht das Schöne allein ist ihr Zweck, durch das Schöne will sie das Gute erreichen«, wobei man kritisch nachfragen darf, wie er das wissenschaftlich ermittelt haben will. Der Gedanke, der hier formuliert ist und in unendlicher Variation in anderen Schriften von Vertretern des Faches proklamiert, ist, dass die richtige Musik nur recht rezipiert den Menschen ethisch läutern würde.
2011 nun schreibt der Philosoph und Musikästhetiker Peter Rinderle noch immer Vergleichbares, wenn geschrieben steht, dass er an eine „Erziehung unserer Emotionen“ an den „richtigen Dingen“ im Raum der Kunst glaubt. Nach Rinderle gibt es explizit „moralisch gute Musik“ und umgekehrt auch „unmoralische, böse Musik“, wobei er in dem heiteren Haydn die gute Musik ausgemacht sehen will und – wen wundert’s – in Rammstein eine böse. Das Böse drückt sich quasi aus in verzerrten Gitarrenklängen. Klammer auf: Man mag sich, bei einer solchen Argumentationsführung gar nicht vorstellen, von welchen bösen Geistern die Musiker von Rammstein besessen sein mögen, dass sie solch böse Musik unter die ahnungslosen Menschen streuen, sie verführen zum Bösen. Es müssen wahrlich Dämonen sein. Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass einer der Musiker von Rammstein auch Kinder-Musicals schreibt, merkt man erst mal, wie perfide, hinterlistig das Böse ist, um sich seinen Opfer anzunähern. Klammer zu. Die hier aufgezeigten Beispiele von Marx bis Schering sind nur wenige. Sie ließen sich endlos fortsetzen, verfertigt von namenhaften Autoren aus dem Raum der Fachdisziplin.
„E“ wie ethisch, erhaben, „U“ wie unterirdisch
Das Postfaktentum treibt bis in die Gegenwart seine märchenhaften Blüten. Untergründig sind solche Worte nach wie vor vom „E“/“U“-Gestus bestimmt, wonach nur eine bestimmte Musik zum Guten treibt, eine andere aber nicht. „E“-Haydn und „U“-Rammstein sozusagen. Die grundlegende Trennung in „E“ und „U“ selbst ist eine aus dem postfaktischen Universum heraus entworfene, gründet diese Trennung doch auf dem Weltenentwurf der Romantiker, die in der Musik eine „Sprache der Engel“ gesehen haben wollen, die auf untergründige Art und Weise für manche Zeitgenossen selbst die Kommunikation mit Gott erlaubte. Wo man aber mit Gott zu kommunizieren glaubt, darf eine Musik auf keinen Fall zugleich profanen weltlichen Dingen genügen, jedwede Funktion, gar Unterhaltung steht außen vor. Also erfindet man im Raum der Fachdisziplin flugs die Trennung in „E“ und „U“ und denkt die gesamte für die eigenen Zwecke taugliche Gebrauchs- und Unterhaltungsmusik der Vergangenheit von Bach, Händel & Co um. Man erfindet sich also eine heroenhafte Ahnengalerie und Musikgeschichte mit guten und bösen Musiken oder auch mit guten und schlechten Musiken. Und in der guten „E“ntwicklungslinie drückt sich das Prinzip der Notwendigkeit aus. Guido Adler schreibt 1923: »Bald glaubte ich zu erkennen, daß ›die Entwicklung der Tonkunst organisch sei. In stetiger Aufeinanderfolge reihen sich die Entwicklungsmomente aneinander‹ – diese These stellte ich an den Anfang meiner erstpublizierten Arbeit ›Die historischen Grundklassen der christlich-abendländischen Musik bis 1600‹«. Diese Umdeutung einstiger Unterhaltungsmusik zur ernsten Musik ist notwendig, denn ohne den großen einen Musik auszeichnenden Ernst lohnt die Beschäftigung mit der Musik nicht. Dass man zu anderen Zeiten zu derselben Musik, die plötzlich ein „E“ im Titel trägt, getanzt, gelacht hat, sich dazu unterhalten, weil sie Hintergrundmusik war, wen kümmert’s schon? Jetzt sitzt man still, stumm und hört andächtig mit großem Ernst zu, lässt sich erbauen, wo man früher plauderte. Das ausgerufene „E“ will es so. Alles Übrige, was nicht zur Wandlung von Unterhaltungsmusik zur ernster Musik vorgesehen ist, wird zum wohlfeilen Antagonisten „U“, über das das ausgerufene „E“ seine vernichtenden Urteile fällt und selbst dabei nur noch heller strahlt.
Der Verblendungseffekt beim Triumph der Analyse
Eine wirklich gute „E“-Musik verfolgt natürlich keinerlei Zwecke, das wäre viel zu profan, weltlich. Sie erweist sich stattdessen als absolut, autonom, sie ist nur sich selbst genug. Funktionale, unterhaltende Zwecke bedient sie ja durch ihre Umdeutung nun nicht mehr. Und weil das so ist, kann man das Klangereignis auch ausschließlich aus sich selbst heraus begründen, glaubt zumindest Carl Dahlhaus. Und damit sind wir bei einem anderen prominenten Vertreter der postfaktischen Disziplin. »Der Triumph der Analyse [!] besteht in dem Nachweis, daß ein Werk, mindestens ein geglücktes, nicht anders sein kann, als es ist.« Dieser vielfach zitierte Satz von Carl Dahlhaus zeigt die Verblendung an, zeigt an die Neigung zum Postfaktischen. Carl Dahlhaus negiert alle außermusikalischen Einflüsse bei einer Komposition, so als ob der Komponist seit Geburt an in einem abgeschlossenen Raum ohne Außenkontakt gesessen hätte und nun aus der Isolation heraus seine Komposition bastelt. Dass biographische, politische, historische, psychische und physische Befindlichkeiten u.a.m eine Komposition immer und – wie auch anders – mitbedingen, ach was – Papperlapapp, das blendet Carl Dahlhaus in bester postfaktischer Tradition einfach aus und wendet sich allein dem Notenskelett zu und analysiert nach Regeln der Musik, die es so auch nicht gibt. Das einzige, was gilt, ist die Musikpartitur. Man tut so, als ob in dieser alles steht, was man braucht, um genau zu bestimmen, warum eine Musik so und nicht anders klingt. »Man muß diesen Gedanken nur einmal aussprechen, um zu sehen, wie absurd er ist«, meint Albrecht Wellmer dazu. Martin Geck kommentiert Dahlhaus Haltung mit den Worten »Die Betriebsblindheit, mit der dieser kluge, vielseitige und hochgebildete Gelehrte hier argumentiert, ist mit Händen zu greifen.« Es ist in der Tat eine Form von Verblendung oder Engstirnigkeit, die manche Vertreter der Fachdisziplin teils bis heute bewegt. Vladimir Karbusicky hat eine solche Form des Analysierens einmal mit folgenden Worten abgelehnt: »Je resoluter verschiedene Urteile und je ›eindeutiger‹ die Auslegung rationalistisch sich stilisierender Analytiker sind, um so mehr zeugen sie von Einbildung, von engstirniger Eingenommenheit«. Das Postfaktische hat also auch und gerade da seinen Platz, wo man allein vermeintlich der Rationalität Folge leistet. Man bosselt oftmals fraglos klug sich seine musikalische Welt zusammen, bis sie einem stimmig scheint. So erfindet man seine Welt mit universaler, einzigartiger Musik, geschuldet einem Absolutheitstraum und ausgewiesen ist das im „E“, das wie eine Monstranz vor der ausgewählten Musik hergetragen wird.
Konklusion: Überall, wo man heute noch zwischen „E“ und „U“ scheidet, von einzigartiger, zeitloser, gar universaler Musik spricht, lebt man diesen postfaktischen Traum weiter und hat sich von der Realität aber völlig verabschiedet. Das Ergebnis sind Fake-News, die aber den Produzenten derselben als solche gar nicht auffallen und die teils heute noch so transportiert und gelehrt werden. Das Postfaktische lebt also oft auch da, wo der Schreibstrom dem Märchenhaften sich versagt und kühl rational die Worte sich fügen, sobald implizit oder explizit die Vorstellungen von „E“ und „U“ die Musikwelt von Schreibenden bewegen.
Die Fachdisziplin Musik und ihre Umwelt
Das ist alles solange nicht sonderlich aufgefallen, wie auch die Umwelt der Fachdisziplin ähnliche Träume bewegte, ausgedrückt in einem Bildungsbürgertum, das in der Kunst unnachahmliche Werte verortete, die denen der Fachdisziplin gleichkamen. Die Fachdisziplin bediente sozusagen die Sehnsucht nach dem Metaphysischen, und ein Bildungsbürgertum sog das gierig auf. Und so konnte sich ein Bürgertum in Andacht in die Kunst versenken und darin sich wiederfinden, ein gemeinsames kulturelles ICH konstruieren, das im Zirkulieren um sich selbst auch nur sich selbst und seine Kunst gelten ließ und anderes verwarf. Man versammelte sich als Bildungsbürgertum mithilfe auch der schriftkundigen Priester, Musikwissenschaftler genannt, um den geschaffenen Götzen „E“-Kultur und feierte sich dabei mehr selbst, weil man sich einer auserwählten Elite zugehörig fühlte, die auch den Zugang zum inneren Zirkel streng regelte. Nicht jeder konnte/durfte Zugang haben. Was dieser geschaffene Götze Kultur nicht inkludierte, dem wurde in der Regel mit Indifferenz, Ignoranz, oftmals auch mit Verachtung begegnet. Und die schriftkundigen Priester lieferten die Argumente dazu.
Als Folge dieser Engstirnigkeit und dieses simplen Weltbildes lässt sich eindeutig Achtung/Missachtung aussprechen, wo das eigene Weltbild, zum Absoluten erhöht, zum Eigentlichen geriet/gerät, alles Fremde andere aber verworfen, nachgeordnet, eben oft missachtet wurde/wird. Diese Ichbezogenheit, auch ignorante Selbstüberhöhung oder dieser Eurozentrismus war von wenig humanistischem Gepräge, obwohl genau das Gegenteil behauptet wurde, wo die ausgewählte Musik zur sittlichen, ethischen erklärt wurde. Gerade das Inhumane konnte oft genug seinen Ausgang davon nehmen, da die Identitätsstiftung über massive Ausgrenzung bewegt wird. Die Fachdisziplin hat ihren nicht geringen Anteil daran, dass aus dem Traum geborene Weltbilder auch den faktisch gewordenen Alptraum vorantrieben.
Die schriftkundigen Priester der Fachdisziplin fühlten sich im völligen Einklang mit den geistigen Eliten der Gesellschaft. Auch der z.B. aufgrund seiner klaren Worte zum Faschismus und zu Weltkrieg II zum ethischen Leuchtturm erhobene Thomas Mann fand während des 1. Weltkrieges überhaupt nichts dabei, den „Zusammenbruch einer „Friedenswelt, die er so satt, so überaus satt hatte“ (Thomas Mann) euphorisch zu feiern. Man möge doch „Gott loben“, dass er es so gefügt habe. Er war ein glühender Verfechter von Weltkrieg I, befand Kunst und Krieg als Brüder oder Schwestern im Geiste, befand, dass Kunst und Barbarei einander bedingen, vorausgesetzt natürlich, es ist die richtige Kunst, die sich paart. Bildungsbürgertum, Künstler, die künstlerisch versierten Schriftgelehrten überboten sich teilweise in dem, was man Andersgläubigen in Sachen Kunst und Kultur (und der fremden Kunst/Kultur) alles antun dürfte, da sie ja der falschen Kunst anhängig waren. Die Zeiten, als die Geschichten vom sittlichen Mehrwert der Künste und denen von Titanen, die mit ihrer Kunst quasi in die Zukunft sahen, ihre Hochzeit hatten, waren so ziemlich die mörderischsten, die man sich denken kann.
Nach dem Ende von Weltkrieg II wurden die erdichteten Geschichten vom ethischen Mehrwert der Kunst zwar – faktisch längst widerlegt – noch einmal neu aufgelegt, aber ihr Niedergang war längst besiegelt. Zu bedauern ist das sicherlich nicht. Es war eh alles nur erfunden, was um die große Kunst sich alles ranken sollte. So konnte der Blick freiwerden für eine klarere Beschreibung von Gesellschaft und eine neue Beschreibung von Kunst sich bilden, ohne gleich von Bildungshütern massiv sanktioniert zu werden. Gelärmt wurde bei allem Neuen zwar trotzdem, aber das Bildungsbürgertum selbst treibt aus dem meinungsbildenden Zentrum allmählich in die Peripherie, findet für sein empörtes Lärmen immer weniger ein nennenswerte Resonanz. Mit dem Niedergang des Bildungsbürgertums, das in den mörderischen Zeiten zuvor nicht nur versagt, sondern seinen eigenen schlechten Teil dazu beigetragen hat, verliert auch die Fachdisziplin Musik allmählich ihre Leser – und mit den Lesern sie selbst als auch die ideologieverdächtige „E“-Musik ihre zuvor unangefochtene Reputation.
Dieser schleichende Wegfall von Anerkennung einerseits und die Möglichkeit zur Implementierung neuer Kunstausformungen andererseits haben aber noch andere Gründe. Je vernetzter Gesellschaft nach dem Weltkrieg zunächst auf elektronischem Wege, schließlich auf digitalem Wege wurde, um so mehr hat das Modell vom „E“ seine Attraktivität verloren. Kultur ist immer weniger ein homogener Raum, in dem sich eine einzige Idee von Kunst, zur Vergöttlichung geeignet, halten kann. Zu viele, unterschiedliche Musiken beginnen, den Raum auszufüllen. Der Sockel des goldenen Kalbs „E“-Musik wird immer mehr eingeebnet, bis der Sockel plan zum ebenen Boden ist und die „E“-Musik als eine unter vielen rangiert. Sie steht, ihrer erhobenen Stellung beraubt, auf einmal in Konkurrenz zu anderen, hat sich zu beweisen und erweist sich als immer weniger konkurrenzfähig. Mittlerweile konkurrieren die unterschiedlichsten Weltmodelle miteinander, und es wird deutlich, dass, anders als im „E“-Universum ausgemacht, kein Modell das Modell ist. Es drückt sich darin lediglich eine mögliche Spielart aus. Das Bildungsangebot, dem das Bürgertum huldigt, verliert auch auf diese Weise mehr und mehr an Einfluss, auch wenn die Bildungsgegenstände nach wie vor die Curricula bestimmen. Doch daneben etablieren sich weitere Angebote (auch in Schule und Studium), die vom Universalen, Einzigartigen Abstand nehmen. „E“rnste Musik hat in Anbetracht der Pluralität von Sichtweisen zur Musik mehr und mehr so seine identitätsstiftende Funktion verloren, ist eine unter vielen geworden und unter den vielen eher ein klingendes Randphänomen geworden. Die Welt ist dadurch bunter, freier im Denken, – man könnte auch sagen – insgesamt pluralistischer geworden.
Vom Spaß an der Musik und lustfeindlichen Erbauungstönen
Ein Grund für die schwindende Akzeptanz in der Breite mag, neben dem nicht gegenwartsfesten Klang, die lustfeindliche Rezeptionsform sein. Der Niedergang der sogenannten klassischen „E“-Musik ist auch darin zu sehen. Geschrieben werden diese Zeilen hier in dem Monat, in der die Elbphilharmonie eröffnet wurde. Die Elbphilharmonie soll nun beispielhaft dafür stehen, dass Menschen der einst postfaktisch ausgerufenen „E“-Kultur nach wie vor zugetan sind oder dass man neue Rezipienten dafür gewinnen kann. Leichte Zweifel können einen beschleichen, wenn man schon allein nur an das Eröffnungskonzert der Elbphilharmonie denkt. Ist die Musikkultur der Vergangenheit wirklich noch eine, die bewegt und erregt, oder nicht eher eine, die man – durch jahrzehntelange Übung – still und stumm erträgt und manchmal nicht einmal das, wo man beim schnellen Schwenk der Kamera durch die Elbphilharmonie während des Eröffnungskonzertes schon manch einen glaubte hinwegdämmern zu sehen. Und das bei einem solchen Ereignis!
Sicher: Auf die Jahre hinaus ist die Elbphilharmonie ausverkauft und sie wird es wohl auch bleiben. Die Frage stellt sich gleichwohl: Kommen die Menschen um der Musik willen oder um des beeindruckenden Gebäudes willen? Die Antwort ist wohl leicht zu geben: Die Veranstaltungen werden oder würden selbst ohne irgendein inhaltliches Programm ausverkauft sein, weil man das Erlebnis Gebäude inhalieren will. Ein Briefkopf der Elbphilharmonie mit dem Hinweis versehen, dass irgendetwas gespielt wird oder dass das Programm noch folgt, dürfte vollkommen hinreichend sein, um den Ausverkauf zu garantieren. Die Rezeptionshaltung von so manchem Zuschauer mag auch dergestalt sein, dass man die gespielte Musik zähneknirschend in Kauf nimmt, gehuldigt wird aber im Anschluss in Gesprächen und Erzählungen dann der Kultur der Architektur. Es stellt sich die Frage, ob die vielen Schulklassen, die die Elbphilharmonie besuchen sollen/müssen sowie dort zum stillen Stillsitzen verdammt sein werden und nicht einmal mehr husten dürfen, weil das Husten den ganzen Raum durchdringt, im Nachhinein zu Freunden der „E“rnsten Musik werden. Leichte Zweifel darf man anmelden.
Musik darf heute und soll wieder Spaß machen. Was zählt, ist die gute Unterhaltung. Der Niedergang der „E“-Musik findet so auch darin seinen Ausdruck, dass eine Jugend zunehmend es befremdend befindet, dass die Vertreter der alten postfaktischen Erzählungen die Disziplinierung zum Stillsitzen aussprechen. Auf diese Weise aber wird dem absoluten musikalischen „E“rnst das Leben ausgeblasen, wo ganz allgemein die gelebte Freude an der Musik wieder ihren akzeptierten Raum zurückgewonnen hat. Wer will beim Hören von Musik schon eine Messe zelebrieren, wo die Musik zur Party aufruft? Ob der Tempel Elbphilharmonie dazu geeignet ist, wird sich erweisen… Zu wünschen wäre es, denn dann wäre es nicht nur die Hülle, die interessierte, sondern auch der Inhalt.
Eigenverantwortliches Urteilen
Da der kommunikative Resonanzraum der Gesellschaft immer weniger die Klagen vom Ende der „E“-Musik aufnimmt, werden auch diese Klagen zur mangelnden Akzeptanz von „E“-Musik als das deutlich, was sie sind: Es drückt sich in ihnen aus die persönliche Haltung von Individuen, die bedauern, dass die eigene Wertschätzung nicht mehr zu der Wertschätzung erhoben wird. Die bildungshumanistische Träumerei eines Adorno, der in der Instrumentalmusik den Gipfel aller Musiken sah und am anderen Ende, dem Bodensatz sozusagen, den Schlager, hat sich wohl endgültig ausgelebt. Und das ist auch gut so, denn war man früher zum blinden Gehorsam genötigt, denn Werturteile waren imperativ ausgesprochen, so werden heute Werturteile mehr eigenverantwortlich getroffen. Wer zu früherer Zeit dem Prometheus eines Beethoven nichts abgewinnen konnte, dem fehlte das nötige Verständnis, wenn der Prometheus heute einem oder vielen nichts sagt, dann liegt es eher daran, dass der Prometheus nicht mehr wirklich in die Zeit passt und der Rezipient sich obendrein nicht mehr vorschreiben lässt, was ihm gefallen soll. Die Zeiten von Befehl und blindem Gehorsam sind passé.
Gesellschaft ist realitätsfester geworden und deren Mitglieder verantwortungsbewusster dergestalt, dass man, ohne sich rechtfertigen zu müssen, sich selbst aussucht, was einem gefällt und was nicht. Die Musik hat sich anzuschmiegen gefallensträchtig an den Rezipienten, nicht der Rezipient an die Musik. Auf diese Weise kann fraglos auch die ehemals im „E“rnsten verortete Musik wieder Spaß machen. Man kann sich von ihr als Evergreen hier und da gut unterhalten lassen und dabei auch die jeweilige Rezeptionsform ohne schlechtes Gewissen selbst wählen. Wer darin die Klangtapete sehen will, der rezipiert sie eben so, wer dazu tanzen will, mag tanzen, wer nur ausschnitthaft jene Musik hören mag und keine ganzen Werke, der tut das, und wer kontemplativ sich darin versenken will, warum nicht? Der große „E“rnst tritt zurück, die „U“nterhaltung wird rehabilitiert. Und wer genug vom alten Evergreen hat, dem man immer seine Klang-Patina anhört, der wendet sich eben der aktuellen Musik wieder zu. Beethoven neben Beyoncé, Bosse und Bono. So what? Und wenn Beethoven sich gefällig zeigt dem Geschmack des Hörers, dann wird auch dieser gehört, zumindest ab und an. Wo die „E“rnste Musik wieder zur Unterhaltung nebst entsprechender Rezeptionsform sich wandelt, hat diese Musik eine Zukunft. Als gelegentlicher Evergreen hat die „E“-Kultur eine Zukunft, im steifen Korsett, als unverrückbare universale, zeitlose Kunst verstanden, ist der siechende Untergang ihr beschieden, der Tod der Kunst ausgemacht, vielleicht sogar schon vollzogen, und nur die letzten Zuckungen werden noch mit Lebendigkeit verwechselt.
Die Zeit der scheinbar wissenden und doch nur träumenden Oberlehrer ist in einer mehr realitätsfesten Gesellschaft vorbei. Realitätsfester heißt nun sicher nicht, dass man sich gegenwärtig nicht in virtuellen Welten verlieren kann, ganz im Gegenteil: In der Regel aber weiß man um die Gemachtheit dieser Welten, man kann sich die Welt, in der man leben will, aussuchen. Sie ist nicht statisch wie im „E“-Universum vorgegeben, wo man dem Einzigartigen, Universalen huldigte und dabei unwiederbringlich in der Irrationalität des Postfaktischen versank. Man kann fast die Formel aufmachen: Je mehr Gesellschaft von traumhaften, virtuellen Dingen wie Undingen durchdrungen wird, umso weniger verliert man sich in Träumen, die die Wirklichkeit an sich abbilden sollen.
Die Fachdisziplin Musik und der musikalische Analphabetismus
Die Fachdisziplin Musik hat sich damit abzufinden, dass paradoxerweise das postfaktische Zeitalter für die postfaktischen Erzählungen aus dem Raum der Fachdisziplin Musik keinen Sinn mehr hat. Wen kümmert es noch, wenn, ohne irgendwelche Belege angeben zu können, vom sittlichen Mehrwert der Künste schwadroniert wird, von Musiken, die mit anderen Sphären kommunizieren soll u.a.m.?
Wie aber reagiert die Fachdisziplin darauf? In der Regel wird geklagt und der alten Zeiten gedacht, als das eigene Tun noch gesellschaftsfähig war. Unfähig, sich der Musik der Gegenwart zu öffnen, bosselte und bosselt nun die Mehrzahl der Vertreter der Fachdisziplin an marginalen Bruchstücken der Vergangenheit herum, verliert dabei zunehmend die Gegenwart aus den Augen und weiß immer weniger über das weite wachsende Feld der Musik zu sagen. Oder man verfertigt Redundanzereignisse wie z.B. Biografien zu Komponisten, zu denen schon mannigfaltige Biografien geschrieben worden sind. Verlegt werden sie gern zu runden Geburtstagen, auch Todestagen, damit überhaupt wer sie kauft.
Man kann sagen: Gerade die Fachdisziplin Musik ist von einem grassierenden musikalischen Analphabetismus bedroht. Während die Musik der Gegenwart mäandriert in allmögliche Bereiche, sich weiter differenziert, spezifiziert, eben lebendig und ungestüm ist, keine maßgeblichen Richtungen mehr kennt, verbleibt die Fachdisziplin prominent der Musik der Vergangenheit statisch treu verbunden, verliert man sich in Kleinoden oder streitet sich über irgendwelche Nebensächlichkeiten. Der musikalische Kosmos wächst, die Fachdisziplin stellt sich diesem aber in großen Teilen nicht. Je mehr sich die Fachdisziplin von den musikalischen Realitäten abschottet, um so weniger weiß sie dazu Stellung zu nehmen. Wie sollte sie auch, fehlt ihr doch einerseits ein auch nur vager Überblick zur Musik, die klingt, und andererseits auch das methodische Rüstzeug, einer Musik der Gegenwart relevant analytisch zu begegnen. Wo sollte das auch herkommen, wenn man nach wie vor gläubig zuvorderst symbolisch codierter Musik, also Notenereignissen und Partituren nachhängt, wo die Musik zu weiten Teilen sich davon wieder gelöst hat und das komplexe Rauschen des Realen regiert?
Das methodische Rüstzeug mag geeignet sein, eine Sonatenhauptsatzform zu erforschen, mit demselben aber eine Soundarchitektur analysieren zu wollen, ist geradezu grotesk albern.
Das ist in etwa so, als ob, wer nur Englisch spricht, Gehaltvolles zu in deutsch verfassten, unverstandenen Schriften sagen will. Als Ergebnis befindet er, ignorant anderen Sprachen gegenüber und überschätzend die eigene sowie den eigenen Wissenshorizont, dass sich in den deutsch gehaltenen Schriften ein verdammt schlechtes Englisch abbildet sowohl grammatikalisch als auch inhaltlich. So etwas mache doch überhaupt keinen Sinn?, mag man staunend einwenden. Richtig! Und doch wird solches getan in der Fachdisziplin, wo man – fugen-/sinfoniekundig sowie entsprechend methodisch aufgestellt – zum Blues, Techno, generell zur Populären Musik sich analytisch verhält und zum trefflich negativen Urteile kommt. Wer umgekehrt den Blues lebt und umfänglich mit diesem kompetenten Genre-Blick Beethoven beurteilte, käme zu dem Schluss, dass Beethoven den Blues nicht hat und verdammt schlechte Blues-Musik geschrieben hat. Aber im Unterschied zu den Fachvertretern unter umgekehrten Vorzeichen käme wohl kein Blues-Kenner auf eine so blöde Idee.
Auch aus dieser mangelnden Lernbereitschaft, ein neues Methodenrepertoire sich zu erarbeiten, erwächst so der musikalische Analphabetismus, von dem die Fachdisziplin im wachsenden Maße umfangen ist. Es fehlt ganz allgemein die Bereitschaft zum Lernen in der Fachdisziplin, und damit die Fähigkeit, sich neue, musikalische Welten zu erschließen.
Wo die gesellschaftliche Kommunikation längst über die Fachdisziplin hinweggefegt ist, die Fachdisziplin Musik den kommunikativen Anschluss verloren hat, ist sie von einer einst meinungsbildenden Disziplin zu einer sektiererischen Disziplin mutiert, die weitestgehend nur noch um sich selbst dreht. Wen kümmert’s noch, was dort betrieben und geschrieben wird? In dieser kleinen Welt der Fachdisziplin spielt die Verblendung notwendigerweise eine gewichtige Rolle. Sie ist so mit Blindheit geschlagen, merkt dies aber nicht einmal. Wo man nicht über den eigenen musikalischen Tellerrand mehr hinausschaut, glaubt man weiter, dem Eigentlichen zuzuarbeiten, nicht registrierend, dass das ausgemachte Eigentliche Ergebnis der eigenen beschränkten Sicht ist. Würde man sich nur der komplexen musikalischen Wirklichkeit stellen, würde das Eigentliche zum Nebensächlichen sich wandeln. Wenn von außen stirnrunzelnd gefragt wird, was man da denn eigentlich tut in der Fachdisziplin, sind die Antworten bestenfalls von Empörung getragen und von einem Nachtrauern nach alten Zeiten.
Schriftstellerisches Hobbytum oder: Leere Betriebsamkeit und das selbstbezügliche Kreisen um sich selbst
Aber nicht einmal intern sind die emsig verfassten Schreiberzeugnisse zuweilen noch groß gefragt. Die großen Themen sind längst abgegrast, was bleibt, sind die immer kleiner werdenden Fragestellungen. Zuweilen ist der Forschungsblick so klein gewählt, dass der Kollege/die Kollegin nebenan das eigene Forschungsfeld schon nicht einmal mehr eines Blickes würdigt. Die selbstbezügliche Sicht auf die eigene kleine Musikwelt, so reich sie auch beschrieben ist, ist demnach so ausgeprägt, dass nicht einmal mehr der Blick auf die Schriften anderer aus der eigenen Fachdisziplin hinreichend getätigt wird. So wird allein geschrieben, um des Schreibens willen, für einen groben Überblick und fürs Lesen reichen die Zeit und das Interesse schon oft nicht mehr. Das hat zum einen mit der trotzdem großen Menge der zur Belanglosigkeit neigenden Publikationen zu tun. »Die schiere Masse der Produktion, die für den Einzelnen ungreifbar bleibt und mit jedem Versuch einer limitierenden Intervention nur noch weiter wächst, frustriert nicht nur das Endlichkeitsbedürfnis von sinnschaffenden Akten in Permanenz, sondern kommuniziert sich subjektiv als Absurdum, dem Gegenteil von Sinn. Der hermeneutische Zirkel wird zum Hamsterrädchen, in dem sich abgestrampelt, aber kein Fortschritt erzielt wird« (Hans Neuhoff). Die Masse macht’s.
Es gilt, auch deshalb möglichst viel zu schreiben, um über die opulente Literaturliste sich interessant zu machen für eine der raren Stellen im Raum der Fachdisziplin, die langsam, aber stetig abschmelzen. Der Grund zum Schreiben liegt daher manchmal auch weniger im Erkenntnisinteresse, sondern in der Stelle, die angestrebt wird. Ludwig Finscher, die Lichtgestalt der Fachdisziplin Musik und einst Herausgeber des MGG, schreibt: »Jeder muß so viel und so schnell schreiben, daß er nicht mehr zum Lesen kommt.«
Diese kleine Welt der Musik erscheint unfähig, sich dem waltenden Kosmos der Musik zu öffnen. Zwar bleibt man im Kreisen um sich selbst schriftstellerisch rege, bewegt aber nichts mehr, nicht einmal mehr in gröbsten Umrissen. Man könnte auch so sagen: In der Fachdisziplin Musik geht so jeder seinem eigenen Hobby nach, was man gerne machen kann. Zum Problem aber gerät, dass dieses Hobbytum von der Gesellschaft alimentiert wird. Hans Heinrich Eggebrecht hat kurz vor seinem Tode selbstkritisch zu Papier gebracht: »Das Altern der Musikhistoriographie zeigt sich äußerlich als Trend zu ihrer Verselbständigung in sich selbst, wo sie im Starren auf ihre Objekte ein geschichtliches Konzept nicht mehr artikuliert, im Sog des Publikationsmarktes sich verschleißt, trotz Mammutkongressen unbeachtet bleibt, in der Uferlosigkeit beliebiger Details endlose Fäden spinnt und der Gefahr erlegen ist, in unreflektierten Fragestellungen und Stoffbereichen im Schatten tradierter Motivationen geschäftig zu sein und in leerer Betriebsamkeit und Bürokratisierung Material zu häufen und zu verwalten«. Diese Analyse zum eigenen Fach hatte Hans Heinrich Eggebrecht in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts getroffen, nur um kurz vor der Jahrtausendwende zu bekennen, dass er die gleichen Worte für den Zustand des eigenen Faches wieder verwenden könnte. Resignierend stellt er fest: »Das könnte ich heute so ähnlich wieder schreiben«. Er wirft dem eigenen Fach vor »Verselbständigung in sich selbst, Konzeptionslosigkeit, leere Betriebsamkeit«. Mit anderen Worten: Nichts bewegt sich trotz unermüdlicher Bewegung, sprich: So bewegt sich das Fach zwar unermüdlich, doch nichts bewegt sich. Bewegender Stillstand allein ist es, was das unermüdlich schreibende Fach noch auszeichnet.
Im Jahre 2006 liest sich das Urteil von Claus-Steffen Mahnkopf zur Fachdisziplin Musik – jede diplomatische Wortakrobatik gänzlich beiseite stellend – noch eindringlicher, wenn er das Fach beschreibt als »behütet im esoterischen Gefilde selbstbezüglicher Forschungszusammenhänge«, dem es als gesellschaftlich wenig relevantes Fach erlaubt ist, »sich mit sich selber zu beschäftigen.« Sein vernichtendes Urteil zur Fachdisziplin lautet, dass es rückständig und mittelmäßig aufgestellt ist. Die Gründe hierfür sind zu sehen, dass man mit einem wirklich wissenschaftlichen Gestus weiterhin fremdelt und den postfaktischen nach wie vor bedient, was meint, dass »Mystizismus, Irrationalismus, ›Metaphysik‹, ›Tiefe‹« (Mahnkopf) weiterhin die Stellschrauben sind, mit denen man glaubt, Musik relevant beschreiben zu können. Man erkennt in der Analyse leicht das romantische Erbe, das wie ein Mühlstein die Fachdisziplin nach unten zieht und das einen prinzipiell nicht ausgeschlossenen wissenschaftlichen Gestus weiterhin lähmt. Die Folge bleibt die nachhaltige Produktion von Fake-News, mit denen man sich selbst etwas vormacht. Im Unterschied zu den vielen anderen misslichen Fake-News, sind die aus der Fachdisziplin formulierten Fake-News aber kaum zum Teilen in den sozialen Netzwerken geeignet noch nachgefragt. Wie schreibt Hans Neuhoff: »Die Publikationen von Musikwissenschaftlern diffundieren nur schwach, die meisten überhaupt nicht in die Strukturen des Musiklebens hinein«.
Modernitätsfeindlich und reformunfähig
Der Ausweg aus der Krise ist von der Fachdisziplin allein kaum zu leisten. Selbstredend gibt es Vertreter, ein paar sind auch hier zitiert worden, die thematisch und methodisch anders aufgestellt sind, nur reicht es nicht zu einer das Fach mitreißenden Meinungsführerschaft. Gelingen kann eine Reformation der Fachdisziplin im Grunde nur dann, wenn die Lehrstühle insbesondere für Historische Musikwissenschaft umgewidmet werden, man ihnen eine andere Denomination gibt, die an die Stelle des Historischen die Gegenwart stellt. Das Fach selbst ist konservativ aufgestellt, ja es ist ein „modernisierungsfeindliches Fach“, wie Neuhoff konstatiert, eine Reformation kann nur von außen geleistet werden, indem man den selbstbezüglichen, autoreferentiellen Schreibfluss unterbricht und einen neuen in Szene setzt. Eine gutgemeinte Anregung von Seiten der Politik z.B., als Institut geschlossen zu werden, wenn man weitermacht wie bisher oder andernfalls sich zu verändern, kann da schon Wunder wirken. Helfen kann auch, wenn bei Verfahren zur Besetzung von Stellen Kommissionsmitglieder von außen bestellt werden. Historische Musikwissenschaftler werden kaum von sich aus auf die Idee kommen, frei werdende Stellen umzuwidmen und so sich selbst abzuschaffen. Auch die Öffnung zu den Naturwissenschaften kann gerade für die Fachdisziplin heilend wirken sowohl inhaltlich als auch wissenschaftsmethodologisch. Der Weg zu einer wirklichen Wissenschaft könnte so geebnet werden. Das alles wird vielen im Fach nicht gefallen, die Medizin nicht schmecken, aber wer sagt, dass eine Medizin schmecken soll, heilen oder zumindest helfen soll sie doch. Und helfende, vielleicht gar heilende Hände hat die Fachdisziplin dringend nötig.
Der Verabschiedung romantischer Träumerei, von „E“rnsten Musiken getragen, kann so der Weg geebnet werden. Auch kann man so neue inhaltliche sowie methodologische Impulse setzen. Zwar öffnen sich zuweilen, aus der Not geboren und durch Anstoß von außen, auch heute manche Institute neuen, aktuellen Themen, heften sich neue Etiketten an, die gegenwartstauglich scheinen, doch hinter den Etiketten verbleibt dann doch im Großen und Ganzen alles beim Alten. Den Orgelfachmann, der den Lehrstuhl für Musik und Neue Medien besetzt, den soll es schon gegeben haben. So mancher Student, manche Studentin hat sich schon wundern dürfen, was hinter Etiketten zum Vorschein kam. Es bedarf also auch der von außen geleiteten, helfenden Kontrolle, dass das Etikett auch mit Inhalten gefüllt wird. Wenn man von außen in das Fach hineinregiert, ihm hilft, sich zu erneuern, kann auf Dauer endlich Wissenschaft werden, was in großen Teilen dem Postfaktischen sich verschrieben hat und den romantischen Traum lebt. Es wäre dem Fach zu wünschen, aus diesem Traum endlich aufzuwachen, der es von Anbeginn mit einem lähmenden, immer wieder „Fake-News“ produzierenden Schleier umfängt. Dann kann man endlich auch guten Gewissens von einer „Musikwissenschaft“ reden, wo man heute besser von der postfaktischen Fachdisziplin Musik reden sollte, um Missverständnissen vorzubeugen.
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Wer Genaueres zu den hier kursorisch abgesteckten Gedanken wissen will, der sei verwiesen auf mein Buch „Als Musik und Kunst dem Bildungstraum(a) erlagen. Vom Neu-Humanismus als Leitkultur, von der Wissenschaft der Musik und von anderen Missverständnissen.“ Göttingen (V&R) 2016.
Diese, wie ich finde, umfangreiche Abhandlung wirft ja ein recht schlechtes Licht auf die Fachdisziplin. Ich hatte hier schon oft ähnliches gelesen, womöglich auch vom gleichen Autor.
Die Vielfalt der heutigen Musik findet offenbar nicht wirklich Niederschlag in dieser Disziplin. Der Autor zählt in seiner Kritik aber auch kaum Beispiele aus dem heutzutage schieren Überfluss an Stilen und Richtungen, die „Musik“ zugeschrieben werden können und sollen, auf. Mittlerweile kennt man, kann man garnicht alle Tendenzen kennen. Wenn man auf etwas für einen selbst Neuartiges stösst, erweisen sich diese Dinge schon vielleicht 20 Jahre oder länger im Fluß und regen bei Insidern überhaupt keinen Muskel des Erstaunens mehr.
Ich finde, Musik als solche muß neu definiert werden, nichtmehr über „E“ oder „U“, sondern in ganz anderen Kategorien und dabei immer den Fluß des Ganzen beachtend! Wer weiß, was demnächst so alles ins Boot kommt/kommen will und was an Neuem aus dem Boot mangels Nachhaltigkeit aussteigt.
@Norbert Schläbitz: Danke für Ihre ausführliche Polemik. Die Feststellung „…in der Romantik hat die Historische Musikwissenschaft primär ihre Heimat;…“ ist mir zwar so ungeschminkt noch nie untergekommen, dennoch stimme ich – der ich selber Ende der 1980er-Jahre einige Semester MuWi in Würzburg und Köln studiert habe – ihr uneingeschränkt zu. Die Schreibe von A. B. Marx erinnert nun wirklich eher an eine Ode von Klopstock als an eine nüchterne Abhandlung.
Mein Lieblingsmusikwissenschaftler der Gegenwart ist der in Kanada lehrende Steven Brown, dessen Diktum „Music is a prostitute“ an Abgeklärtheit wohl kaum zu überbieten ist. Mehr zu Brown hier auf meinem Blog „Weltsicht aus der Nische“: http://wp.me/p1MYy1-26E
Gruß aus Eibelstadt nach Münster von
Stefan Hetzel (Komponist, Publizist, Musiker)
Dass die Historische Musikwissenschaft ihre Wurzeln in der Romantik hat, ist im Grunde unbestritten. Sie erwächst zuletzt aus der Musikkritik, und die wird anfänglich von den romantischen Schriftstellern à la E.T.A. Hoffmann besetzt. Das Problem mit solchen Verwandtschaften ist naheliegend, nur ist es aus dem Raum der Historischen Musikwissenschaft nie als ein solches erkannt oder akzeptiert worden, wo die Schreibarbeiten der nunmehr Wissenschaftler sich nennenden Publizisten ähnlich schwärmerisch sich ausnehmen.
Durch die Romantik macht die Musikkunst plötzlich den Sprung zum Gipfel aller Künste, wo sie zuvor eher als Bodensatz der Künste angesehen wurde. Kein Wunder, dass nunmehr die sogenannten Wissenschaftler sich das nicht mehr nehmen lassen und eifrig am Denkmal Musikkunst mitstricken, ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Es ist im Grunde ein Verblendungseffekt, dem man unterliegt. Das Problem der Historischen Musikwissenschaft ist, dass man über Jahrzehnte jedwedem wissenschaftlichen Gestus meilenweit fern stand und nun keinen Anschluss mehr findet an relevante wissenschaftliche Forschung. So schreibt man eben rum, ähnlich wie seit eh und je und spielt die beleidigte Leberwurst, wenn Verantwortliche solches an Universitäten nicht mehr dulden wollen.
Dabei will ich gar nicht in Abrede stellen, dass Schreibarbeiten von heute sich zum großen Teil anders ausnehmen als zu früheren Zeiten und auch kritisch reflexiv sich ausnehmen können. Aber auch hier erwächst ein Problem. Vieles ist mittlerweile beschrieben worden und vieles ist auch korrigiert worden am musikalischen Geschichtsbild. Beethoven, die Lichtgestalt, ist dabei z.B. ziemlich herbe von seinem Sockel gefallen. Man weiß – auch dank der Musikwissenschaft -, dass Beethoven in späteren Jahren ein sehr unleidlicher Geselle war, zu viel getrunken hat (ein Säufer gar war) und offenkundig ungepflegt war, auch gestunken hat. Der ach so freie Künstler hat Bettelbriefe geschrieben und dabei – wenn es nützte – gelogen, um seine Bedürftigkeit entsprechend herausstellen zu können.
So weit so gut. Jetzt ist aber schon so viel geforscht worden zu den großen Komponisten, dass so viel nicht mehr zu beforschen ist. Niklas Luhmann sagte mal zu solchen überforschten Gebieten, dass nunmehr nicht mehr viel übrig bleibt, als das Abnagen des letzten Knochens. Und damit ist alles gesagt. Auch die Musikwissenschaft nagt am Knochen des schon Erforschten, meidet in der Regel dabei das Neue, was sich gegenwärtig begibt. Der abgenagte Knochen ist ihr hinreichend. Dass das nichts Großes mehr kommen kann, ist klare Sache. Und noch mal: so schreibt man eben rum, als ob es da noch was gäbe, und gibt sich wichtig, wo sich nichts Wichtiges mehr begibt. Die Tendenz zum Lächerlichen ist nicht ganz von der Hand zu weisen.
Andere Geisteswissenschaften zeigen sich z.B. gar nicht mal so modernitäsfeindlich, stehen im künstlerischen Leben, suchen sich dazu zu verhalten, wo die Musikwissenschaft mit ihrem Knochen zufrieden ist und hoffnungslos den Anschluss verloren hat. Es wer schon ein Schritt in die richtige Richtung, wenn man begänne, dem angefahrenen Zug wenigstens hinterher zu rennen. Damit wäre zumindest mal eine vertretbare Richtung eingeschlagen. So aber: Stillstand im großen Maßstab trotz aller Schreiberei.
Vielen Dank für den Literaturtipp!!