Im Frühjahr 2011 unternahm ich eine Reise in die USA davon eine Woche in New York City und eine zweite Woche in Austin, Texas zum großen Musikfestival SXSW.
Als ich in New York ankam wurde ich in der Stadt von einem heftigen Regenguss empfangen und schaffte es gerade noch halbwegs trocken in meine Unterkunft, dem Big Apple Hostel. Die folgenden Tage waren zwar trockener, aber nicht viel freundlicher, der Frühling war zu dieser Zeit definitiv noch nicht in New York eingezogen. Nicht nur klimatisch, auch im übertragenden Sinne empfand ich die Stadt als kühl und abweisend. Vieles wirkte auf mich glatt, oberflächlich und kommerziell. Angefangen von den Läden am Times Square, über die Shows am Broadway bis zu den touristischen Clubs in den Seitenstraßen. Als Besucher erkannte man beim Schlendern durch die Straßen an jeder zweiten Ecke irgendeine Location aus einer Filmszene eines amerikanischen Blockbusters. Von der Public Library bis zu Ground Zero hatte ich ständig das Gefühl hier schon einmal gewesen zu sein. Es war insgesamt kein unangenehmer Aufenthalt, aber ich war auch nicht unglücklich als die Zeit rum war und ich nach einer Woche in Newark in den Flieger nach Austin, Texas stieg.
Dort angekommen holte ich einen bereits gebuchten Wagen bei der Autovermietung ab und fuhr in die Stadt um meine Bleibe für die kommende Woche zu beziehen. Wie bei meinem ersten Besuch in Austin hatte ich mich beim dortigen German House, einer Studentenunterkunft, gemeldet. Während der Semesterferien waren dort einige Zimmer frei und die wurden sehr günstig an interessierte Besucher zwischenvermietet. Man durfte dort allerdings keine großen Ansprüche stellen oder eine Rundumversorgung erwarten. Ich lud dort meine Sache ab und fuhr mit leichtem Gepäck für zwei Tage auf einem Trip in die umliegende Hill Country bis das Festival begann. Nach meiner Rückkehr nach Austin verbrachte ich die Tage dann meistens nach einem ähnlichen Ablauf. Morgens ließ ich es ruhig angehen, frühstückte zuerst, las die Zeitung, quatsche eventuell mit einem Studenten z.B. mit Mark, einem ehemaligen US-Soldaten, der traumatisiert aus der Army entlassen worden war, sich dann von seiner Familie trennte und jetzt als Student an der Universität versuchte sich ein zweites Leben aufzubauen. Am späten Vormittag fuhr ich dann in die Stadt um freie Konzerte zu besuchen, denn eine offizielle Festivalkarte hatte ich in im Vorfeld nicht ergattern können. Es gab aber genügend interessante freie Shows und abends auch jede Menge Clubkonzerte zu kleinem Eintritt zum Beispiel direkt um die Ecke vom German House im „Hole in the Wall“ in der Guadalupe Street. Dort wurde man gleich am ersten Abend mit dem Spruch „Welcome to Texas, Fuckers!“ und einem starken Margarita begrüßt. Obwohl ich niemanden im Club kannte, fühlte mich sofort wie zu Hause.
An einem der folgenden Tage, es könnte ein Samstag gewesen sein, hatte ich den Mittag und den frühen Nachmittag bei dem legendären Plattenladen „Waterloo Records“ 600 N Lamar verbracht und war dann zum Essen zum gegenüberliegenden „Whole Foods Market“ gegangen. Beim Essen sprach mich eine Frau an, wir kamen ins Gespräch und ich weiß nicht warum, aber es endete damit, dass sie mir von ihrer kinderlosen Ehe und ihren erfolglosen Versuchen von künstlicher Befruchtung erzählte. Und das alles am helllichten Tag im sonnigen Open-Air-Essbereich eines Einkaufscenters. Mir war das etwas unangenehm, aber ich wollte die unglückliche Frau auch nicht brutal unterbrechen und gehen. Also hörte ich mir die Geschichte bis zum Ende an. Ich hätte gerne irgendwas Mitfühlendes gesagt, aber ich glaube selbst auf Deutsch wäre mir das schwer gefallen, auf Englisch war es schlicht unmöglich. Irgendwann klingelte dann ihr Handy und ihr Mann war dran und sie musste ziemlich plötzlich gehen. Da saß ich dann alleine mit meinem inzwischen kalt gewordenen Burrito, den ich die ganze Zeit aus Pietät nicht angefasst hatte. Schmeckte dann aber auch kalt okay, war ja immerhin frisch und aus einem Vollwert-Supermarkt. Danach ging ich noch kurz zu einer Show bei „Waterloo“ zurück, aber es war heiß, laut und voll, ich hatte keine Lust mehr und lief los zu meinem Mietwagen, den ich ein paar Straßen weiter geparkt hatte.
Nachdem ich ungefähr den halben Weg dorthin gelaufen war, wurde ich von der Seite angesprochen. Es war ein großer, dünner Afro-Amerikaner mit schwarzer Brille und einem Blindenstock. Er fragte mich, ob ich ihm Geld leihen könnte. Ich hätte wahrscheinlich einfach weiter gehen können und ich weiß nicht warum, aber ich fragte ihn wofür er das Geld den haben wolle. Darauf meinte er, er würde gerne mit dem Bus oder dem Taxi nach Hause fahren und hätte aus irgendwelchen Gründen kein Geld dafür. Ich sagte dann, kein Problem, mein Auto steht um die Ecke und ich könnte ihn gerne mitnehmen, ich wäre fremd in der Stadt und hätte gerade nichts zu tun, ich würde ihn gerne da hinfahren, wo er hin will. Der Mann nahm das Angebot an, ich führte ihn und wir liefen langsam zu meinem Auto. Dort angekommen stiegen wir ein und ich sagte ihm, dass ich mich in der Stadt nicht gut auskennen würde. Er meinte, das wäre kein Problem, er wohne zwar auch noch nicht lange in der Stadt, aber er würde das Straßennetz auswendig können. Und so war es dann auch, ich fuhr nach seinen Angaben quer durch die Stadt, an jeder Kreuzung, bei jeder Kurve, bei jedem Spurwechsel gab er mir neue, korrekte Anweisung und benannte immer die neue Straße in die wir gerade eingebogen waren. Von der Seite konnte ich hinter seine Brille sehen und erkannte, dass seine Augen die ganze Zeit geschlossen waren. Seinen Stock hatte er dabei zusammengeklappt zwischen seinen Beinen liegen. Wir fuhren Richtung Osten und es dauerte eine Weile, aber irgendwann unterquerten wir die I-35. Wir befanden uns nun in East Austin einem offensichtlich ärmeren Teil der Stadt und mir wurde etwas mulmig. Der Mann lotste mich weiter durch die Straßen des Viertels und irgendwann waren wir anscheinend dort angekommen wo er hin musste. Auf dem Weg hatte er mir erzählt, dass er seit dem Tag zuvor verschiedene Kirchengemeinden abgeklappert hatte um Geld für die Bezahlung seiner Miete zu erbitten, er hatte es aber nicht zusammen bekommen. Er entschuldigte sich auch für sein Erscheinungsbild und erklärte mir, er hätte die letzte Nacht auf der Straße verbracht. Dann bat er mich höflich um etwas Geld. Ich gab ihm einen Fünfer und wies ihn darauf hin, dass es ein Fünfer sein, weil ich wusste, das alle amerikanischen Dollarnoten dieselbe Größe haben und für Blinde schwer zu unterscheiden sind. Er bedankte sich höflich, verabschiedete sich mit einem „God bless ya’“, klappte seinen Stock aus und ging seiner Wege. Ich bin dann umgedreht und wieder in den westlichen Teil der Stadt gefahren. In den folgenden Tagen ging ich noch zu einigen Konzerten und hörte viel Bands, deren Namen ich inzwischen längst vergessen habe. Am Tag meiner Heimreise hätte ich fast den Flug verpasst, weil ich auf dem Weg zum Flughafen in einen Stau geriet, aber es hat dann doch noch gereicht. Den Flieger bestieg ich in Jeansjacke und meinem Stetsonhut, den ich mir bei meinem Trip in Bandera gekauft hatte. Ich saß dann 8 Stunden wortlos neben einer attraktiven, blonden Frau und sie fragte mich kurz vor Ende des Fluges allen ernstes auf Englisch, ob ich Reiter bei einem Rodeo wäre, ich würde so aussehen. Ich denke gerne an die Zeit in Austin im Frühjahr 2011 zurück und bis heute bereue ich, dass ich dem blinden Mann nicht viel mehr von meinem Scheiß-Geld auf seinen harten, beschwerlichen Weg mitgegeben habe.
i know the feeling of regret having missed the chance to help or support even more than you actually did…