Christoph Schröder ist freier Autor und Literaturkritiker. An den Wochenenden steht er seit mehreren Jahrzehnten als Amateurschiedsrichter auf hessischen Dorfsportplätzen und leitet Fußballspiele. In seinem aktuellen Buch „Ich pfeife!“ berichtet er auf beeindruckende Weise und dabei stets ruhig und gelassen von seinen persönlichen Eindrücken und Erlebnissen. Er erzählt seltsame, witzige, kuriose, traurige und ergreifende Geschichten aus der Welt der unteren Fußballligen und lässt dabei große Sympathie für die Menschen und die wichtigste Nebensache der Welt durchscheinen. Das Buch beginnt ohne Einleitung oder Vorwort und ist in 12 Kapitel unterteilt. Aufbau und Überschriften richten sich nach dem typischen Ablauf am Tag eines Schiedsrichtereinsatzes: Aufstehen, Tasche packen, Platzbegehung, Warmlaufen, Anpfiff, Halbzeitpause, Die zweite Halbzeit, Spielanalyse, Die dritte Halbzeit, Schlaf finden, Der Morgen danach. Das Buch endet mit einem Epilog, das ein persönliches Fazit nach über 20 Jahren Schiedsrichtertätigkeit formuliert.
Christoph Schröder spielte in seiner Jugend als Torwart in einem Fußballverein und scheint durch einen Zufall zum Schiedsrichter geworden zu sein. Die Frage wie das passiert ist und warum er und seine Kollegen sich Wochenende für Wochenende als Wichtigtuer, Blinde, Pfeifen, Nieten und Versager beschimpfen lassen, stellt er sich immer wieder. Er fragt nach dem tieferen Sinn seiner Tätigkeit, findet auch Antworten und belegt diese anhand einer Fülle von absolut glaubhaften und teilweise tiefgreifenden persönlichen Erlebnissen. Seine Perspektive ist dabei die des außenstehenden, neutralen Spielleiters, der nüchtern mit extremen Situationen und direkten, oft ungefilterten Emotionen umgehen muss. Besonders wenn harte oder unliebsame Entscheidungen getroffen werden müssen, menschelt es auf Seiten der Betroffenen natürlich gehörig. Im Laufe der Zeit hat der Autor allerdings Strategien entwickelt um im eigenen Interesse und im Interesse des Spiels diplomatische Lösungen zu finden oder absehbare Konflikte bereits im Vorfeld zu entschärfen. Hier agiert der Schiedsrichter dann als Streitschlichter, Psychiater und Vermittler um das Spiel und seinen Fluss zu lenken. Ganz nebenbei erzählt Schröder aber auch von den dynamischen Strukturen in den regionalen Fußballvereinen, von Zeugwarten, Greenkeepern, den männlichen Mädchen für alles und den vielen anderen guten Seelen, darüber hinaus auch von Spielern, Trainern, Zuschauern, Fans, Vereinsbossen, Vereinsheimswirten und Lokaljournalisten. Man erfährt, dass auch die Schiedsrichter selbst beobachtet und beurteilt werden und genau wie die Vereine auf- und absteigen können. Thematisiert wird aber auch die Zusammenarbeit mit Kollegen, die Einsamkeit vor und nach dem Spiel, fast schon abergläubisch zu nennende Vorbereitungen, die langen Autofahrten etc. Selbst unangenehme Themen wie knappe oder Fehlentscheidungen werden nicht ausgespart und Schröder bezieht auch eindeutig Stellung zu Videoentscheidungen und Goal Control.
Ganz großes Plus des Buches sind die klare Struktur, der unaufgeregte Sprachduktus und die spürbar große Leidenschaft für die Sache. Hier schreibt ein reflektierender Macher, der schon viele gesehen und erlebt hat. Ganz im Gegenteil zur Ankündigung auf dem Buchrücken äußert sich Schröder nie jemals ironisch oder gar sarkastisch, er macht sich an keiner Stelle lustig oder schreibt in sonst irgendeiner Weise abfällig über die Beteiligten oder die Sache selbst. Stattdessen nimmt er sich, seine Aufgabe und die Mitakteure in angemessener Weise ernst und gibt seiner Arbeit, dem Spiel, den Spielern und der ganzen subkulturellen Veranstaltung so einen tieferen und würdevollen Sinn. Ein sehr intelligentes und lesenswertes Buch über das Schiedsrichtertum, den Fußball und sein soziokulturelles Umfeld.
Das Taschenbuch mit Klappenbroschur erscheint im Tropen Verlag, hat 224 Seiten und kostet 16,95 Euro.
Tolle Buchempfehlung. Ein Literaturkritiker, der am Wochenende Amateurfußball pfeift. Bei dieser Mischung kann man nur gespannt sein.
Ich habe das Buch gelesen und werde es weiterempfehlen. Herrlich mit Gleichgesinnten über den Inhalt zu diskutieren.
Ein ehrliches, amüsantes und kurzweiliges Buch, das auch zum Nachdenken anregt.
@dennis: hast Du noch so etwas in dieser Liga – suche noch meine Urlaubslektüre
@Artur: Wenn’s nicht unbedingt mit Fußball zu tun haben muss, dann probier’s doch mal mit „Mein Wunderbarer Wedding“ oder etwas aktueller „Im Wilden Wedding“ von Heiko Werning. Fand ich in letzter Zeit herausragend unterhaltsam und könnte dir, glaube ich, gefallen.
Als kritisches Sachbuch fand ich „I have a Stream“ on Berthold Seliger hervorragend.
Danke für die schnelle Antwort.
At your service!