Christian Bommarius, Jurist und Journalist, hat sich bereits mehrfach mit deutschen, historischen Inhalten befasst, so z.B. bei „Der Fürstentrust. Kaiser, Adel, Spekulanten“ (2017) oder „1949. Das lange deutsche Jahr“ (2018). Nun hat er ein ganzes Buch dem Jahr 1923 gewidmet und versucht in ausgewählten, bruchstückhaften Schlaglichtern zu zeigen wie in 12 Monaten entscheidende Weichen für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte gestellt wurden.
Das Buch ist angelegt wie eine gesellschafts-politische Kleinchronik. Sortiert von Januar bis Dezember 1923 werden in 12 Kapiteln entscheidende Momente deutscher Politik und Gesellschaft und einiger besonderer Biographien portraitiert. Jedem Kapitel ist eine kurze Zusammenfassung der Entwicklungen in diesem Monat vorangestellt, durchgehendes und bestimmendes Phänomen ist und bleibt die allgegenwärtige Inflation und der ungeheuerliche Verfall der deutschen Währung. Zudem kommt es auf verschiedenen Ebenen zu politischer Radikalisierung in verschiedensten Lagern. Zusammengehalten und nachvollziehbar gemacht wird die Erzählung anhand biographischer Ausschnite einiger herausragender deutscher Persönlichkeiten aus dem Bereich Kunst, Tanz, Literatur, Politik. So tauchen immer wieder Episoden aus dem Leben von z.B. Heinrich und Thomas Mann, Kurt Tucholsky, Franz Kafka, Anita Berber, Marlene Dietrich, Joseph Goebbels und Adolf Hitler etc. auf. Zitate und Angaben sind im Anhang gut und übersichtlich belegt.
Die Idee das bewegte und folgenreiche deutsche Geschichtsjahr 1923 kaleidoskopartig mit Meldungen, Geschichten und biographischen Fragmenten zu bebildern hat Stärken und Schwächen. Es ist eine gut strukturierte, dramaturgisch komprimierte Zusammenfassung der z.T. chaotischen und komplexen Ereignisse. Die biographischen Elemente ermöglichen dem Leser direkte Bezugspunkte, sind aber freilich nach Gutdünken ausgewählt, sie kommen aus dem nichts, stehen isoliert und münden oft genug nirgendwohin. Dazu sind es einfach sehr viele Figuren (ca. 50-60), die einmal oder auch öfter auftauchen ohne, dass man im Verlauf weiß, welche Rolle sie im weiterhin noch spielen werden. Jede dieser Figuren für sich wäre vermutlich eine eigene Betrachtung wert, aber im Zusammenspiel verlieren ihre Geschichten zum großen Teil ihre Bedeutung. Man hat sie schon ein paar Seiten weiter wieder vergessen. Es kommt dazu, dass vielen heutigen Lesern die meisten dieser Figuren wohl unbekannt sein dürften und es einfach nicht möglich ist nach einem Absatz oder 1-2 Buchseiten zu einer Person den Überblick zu behalten, wenn man nicht über umfangreiches Vorwissen über die Epoche verfügt.
So ist „Im Rausch des Aufruhrs“ ein interessantes Epochenportrait. Ob es mit seinem besonderen, formellen Ansatz seine Leser erreicht wird interessant. Könnte sein, dass es unbedarfte Leser überfordert und eingearbeiteten Interessierten zu oberflächlich und sprunghaft ist. Fachlich gibt es nichts zu meckern. Allerdings hätten die deutlichen Parallelen zu aktuellen Entwicklungen (Inflation, Radikalisierung, politisches Chaos, Kriegsgefahr) rausgearbeitet werden können, hier wurde eine große Chance verpasst, den Beobachtungen mehr Relevanz zu verschaffen.
Das Buch enthält einige kleinformatige, s/w-Abdrucke zeitgenössischer Fotos. Das gebundene Taschenbuch erscheint im dtv Verlag, hat 344 Seiten und kostet 20 Euro.