Buchkritik: „Warum Hits Hits werden“ von Volkmar Kramarz

HitsDas Buch erschien im August 2014 bei transcript in der Reihe „Studien zur Popularmusik“ und trägt den Untertitel „Erfolgsfaktoren der Popmusik“ (ISBN 978-3-8376-2723-7, 37,99 €). Der Autor Volkmar Kramarz lehrt seit dem Jahr 2000 Musikwissenschaft an der Universität Bonn.

Volkmar Kramarz versucht mittlerweile seit mehreren Jahrzehnten einer deutschen Leserschaft die Konstruktionsprinzipien von Pop- und Rockmusik zu erklären. Im Jahr 1983 veröffentlichte er den musikwissenschaftlichen Text „Harmonieanalyse der Rockmusik“ (Schott), ein Jahr später folgte das in Deutschland fast schon zum Klassiker gewordene Buch „Die E-Gitarre“ (Voggenreiter), das seitdem mehrfach wiederaufgelegt wurde. In den Nullerjahren ging es dann gleich zweimal dezidiert und praxisbezogen um die zeitlosen Harmonieformeln der Populärmusik („Die Pop Formeln“, 2006 und „Die Hip Hop Formeln“, 2008). In seinem aktuellen Buch geht er nun noch einen Schritt weiter. Es geht diesmal um nichts weniger als die „Erfolgsfaktoren der Popmusik“, um die Ermittlung der globalen Hitformel, um den perfekten, produktionstechnischen Masterplan einer erfolgreichen Musikkarriere.

Der Autor hat das umfangreiche Buch (390 S.) in fünf große Kapitel unterteilt: 1. Popmusik und Erfolg, 2. Kategorien und Parameter der Analyse, 3. Parameter-Auswertungen erfolgreicher Songs, 4. Eigene Experimente und Untersuchungen, 5. Fazit und Diskussion.

Im ersten Kapitel werden viele Themen angeschnitten, aber die zentralen Begriffe nur indirekt anhand von recht willkürlich zusammengestellten Zitaten umrissen, die zum Teil auch noch uralt sind. Es wird an keiner Stelle deutlich, was der Autor selbst unter (kommerziellem?) Erfolg versteht, immer wieder werden Quellen zitiert, letztlich aber kein eigenes Statement abgegeben. Ein wie auch immer gestalteter künstlerischer Erfolg wird dagegen nicht thematisiert und spielt für den Autor offensichtlich keine erwähnenswerte Rolle. Auch wird die Ära, die Stilistik oder der geo-kulturelle Raum der Betrachtung nicht näher definiert. Es werden viele Themen angerissen (GEMA, Downloads, Bandförderung, Rundfunk), aber die Grundaussagen bleiben weiterhin vage. Entwicklungen der 90er und Nullerjahre werden mit Zitaten aus den 1980er Jahren, Entwicklungen in den USA mit Zitaten deutscher Boulevardmedien belegt. Letztendlich geht es dann um Musik der Jahre 2007-2012, trotzdem ist die zentrale Referenz immer und immer wieder das popmusikalische Werk der Beatles, das bekanntlich aus den ansonsten nicht weiter thematisierten 1960er Jahren stammt. Mit deren Werk wird verglichen und bemessen, als sei es der essentielle Urkeim aller nachfolgenden Popmusiken in allen Zeiten. Musik von vor 1960 spielt in der Betrachtung so gut wie keine Rolle, populäre Musik aus popverwandten Stilistiken wie z.B. Jazz, Folklore, Elektronik oder gar Klassik auch nicht, ganz zu schweigen von nicht westlicher Musik aus Asien, Afrika oder Südamerika.

Im zweiten Kapitel werden dann die Kategorien und Parameter der Analyse benannt. Es sind die erwartbaren, üblichen Verdächtigen der klassischen, musikwissenschaftlichen Analyse (Form, Harmonik, Melodik, Rhythmik, Arrangement, Text). Abgeleitet werden sie zum großen Teil tatsächlich aus Songwriting-Anleitungen deutscher (!) Autoren, kein Wort von David Brackett, Philip Tagg oder anderen international renommierten Koryphäen. Auch die zugegebenermaßen unhandliche, aber Popmusik nun mal konstituierende Kategorie ‚Sound’ wird nicht als wesentliches Thema der Analyse gestreift.

In den Analysen operiert Kramarz mit der Terminologie der klassisch-romantischen Funktionstheorie (Tonika, Subdominante, Dominate, etc.). Warum er sich dafür entschieden hat, bleibt ein Rätsel. Selbstverständlich hat sich für die Analyse und die Vermittlung von Pop, Rock, Jazz und artverwandter Musik längst die Stufentheorie als praktikabelste weitgehend durchgesetzt. Ähnliches gilt für die Verwendung der Bezeichnungen Eb (Kramarz: Es) oder B (Kramarz: H), hier wäre die international übliche Schreibweise sicherlich vernünftiger gewesen.

Skurril wird es im dritten Kapitel bei der Auswertung. Es wimmelt hier nur so von unlogischen Zirkelschlüssen. Beispiel gefällig? Der Autor ordnet die Songs (nach Vorgabe deutscher Songwritingschulen, die immer wieder zitiert werden) in verschiedene Formteile wie Intro, Strophe, Refrain, etc. (statt wie international üblich: Verse, Chorus, Bridge) und stellt dann anschließend fest, dass fast alle erfolgreichen Popsongs ein Intro, Strophen und Refrains haben. Wenn man es vorher selbst platziert, findet man natürlich immer das, wonach man sucht. Das funktioniert zwar, bringt einen inhaltlich aber nicht weiter. Dieses Prozedere wird im weiteren Verlauf noch auf die Spitze getrieben, wenn die Beispiele im vierten Kapitel nicht mehr nur selbst durchdefiniert, sondern gleich auch noch selbst eingespielt werden um anhand komplizierter Verfahren inkl. Hirnaktivitätsmessungen am MRT zu beweisen, dass etablierte Harmonieformeln besser ins Ohr gehen als nicht etablierte oder willkürliche. Nun, wer hätte das gedacht?

Löblich immerhin die vielen Notenbeispiele, die zum Teil anscheinend selbst erstellt sind (hierüber fehlen die Angaben). Leider gibt es keine echten Partituren oder DAW-Screenshots irgendwelcher Arrangements, stattdessen immer nur Miniaturausschnitte, zumeist einstimmig oder im Klaviersatz (auch wenn im Stück gar kein Klavier vorkommt).

Ein Wort noch zur Auswahl der untersuchten Stücke: Das Verfahren wird transparent und detailliert dokumentiert. Es handelt sich bei den insgesamt 30 angeblich exemplarischen Songs um Grammy-Gewinner (5), Echo-Preisgewinner (5), UK-Topsingles (5), Deutsche Topsingles (5) und die Gewinner des European Song Contest (5) der Jahre 2007-2012. Die zeitliche und stilistische Reichweite der Analyseaussage ist dadurch extrem eingegrenzt und schließt die Popmusik des 20. Jahrhundert (Beatles!) nahezu komplett aus. Gegen diese selbstauferlegte zeitliche Eingrenzung ist prinzipiell nichts einzuwenden, sie hätte jedoch unbedingt im Titel oder zumindest im Untertitel Erwähnung finden müssen. Problematischer ist dagegen der indirekte Anspruch auf eine Art „Welthitformel“, obwohl ausschließlich westliche und im überwiegenden Maße westeuropäische Vertreter in die Untersuchung einbezogen wurden, die noch dazu in allererster Linie auf nur rein kommerzielle Erfolge verweisen können (hohe Verkaufszahlen). Trotz dieser zeitlichen und geo-kulturellen Begrenzung werden zum Teil immer noch Äpfel mit Birnen verglichen, so z.B. der Musicalsong „Over the Rainbow“ (Komposition von 1939 in einer Version aufgenommen 1993), der Songwritertune „Hallelujah“ (Komposition von 1984), der Retro Soul von Amy Winehouse und Adele, Country/Folk von Dixie Chicks und Robert Plant & Alison Krauss und die obskuren und musikalisch/künstlerisch nicht gerade in hohem Maße repräsentativen Gewinner des ESC.

Die abschließende Literaturliste ist viel zu umfangreich (22 eng bedruckte Seiten), die genannten Quellen werden im Text mehrheitlich gar nicht erwähnt, andere fehlen dagegen komplett. Ein externes Lektorat hätte dem Buch gut getan.

Fazit: Abschließend bleibt festzustellen, dass trotz eines enormen Aufwands nicht erklärt wurde warum Hits Hits werden. Eine allgemeingültige Konstruktionsformel für erfolgreiche Popmusik wurde nicht gefunden und konnte auch nicht plausibel dargelegt werden. Der Grund dafür ist meines Erachtens ganz einfach: Es gibt sie nicht.
Selbstverständlich findet man bei näherer Betrachtung Formeln, Konstruktionsprinzipien, Baupläne, Regelwerke, Arbeitsmethoden etc. und je enger man den Betrachtungswinkel stilistisch, zeitlich oder geo-kulturell zieht, desto präziser können diese formuliert werden. Es kann auch sehr unterhaltsam, interessant und bereichernd sein eine solche Suche durchzuführen oder als Außenstehender zu verfolgen. Aber die daraus gewonnen Erkenntnisse sind keine Kategorie für Erfolg oder Misserfolg, sie gelten gleichermaßen für gute und schlechte, für erfolgreiche und erfolglose Songs. Denn kommerzieller Erfolg ist keine ästhetische Kategorie, es gibt in der Musik nämlich keinen direkten Zusammenhang zwischen Konstruktionsprinzip und Erfolg. Beweisen ließe sich das relativ einfach mit einer analog angelegten Untersuchung einer Anzahl dezidiert erfolgloser Popsongs. Die These: Die Ergebnisse bzgl. der vorgegebenen Kategorien und Parameter der Analyse wären nahezu die gleichen, erfolgreiche und erfolglose Songs haben grundsätzlich dieselben Konstruktionsprinzipien. Man kann einen Song, den man für außergewöhnlich hält, mit musikwissenschaftlichen Mitteln analysieren und daraus interessante Erkenntnisse gewinnen. Die Magie dieses Songs wird man aber mit dieser Erkenntnis nicht nachbauen können. Das ist das Frustrierende in der Musikwissenschaft, aber zugleich das Wunderbare an der Musik. Es wäre schlimm, wenn das anders wäre.

4 Gedanken zu „Buchkritik: „Warum Hits Hits werden“ von Volkmar Kramarz

  1. Es gibt ja diverse aussermusikalische Gründe für die Tatsache, daß ein Song zum Hit wird. Zum Beispiel der oft tradierte Zeitpunkt der Veröffentlichung oder die entspr. Promotion, daß der Song per se zum Hit erklärt wird, vor dem ersten Ton. Weil er von Sängerin xyz kommt. Manchmal ist das so wie mit den Kaisers neuen Kleidern.
    Oder man verwendet „Zutaten“, die gerade insgeheim on top sind und deutlich signalisieren, daß der Song teilweise das Korsett des Pop sprengt und dadurch frisch und neu daherkommt. „Eine Brise Jazz“ oder „a bit of Techno“.
    Im Radio, das ich im übrigen sehr selten höre, hört man des öfteren Begriffe wie „Kammerpop“ und ähnliche Konstrukte, die den Wert der Songs anheben sollen.
    All diese Dinge sollten auch in eine Untersuchung einfliessen.

  2. @Gerhard: Sog. „Non-musikalischen Faktoren“ widmet Kramarz in seiner Analyse von nahezu 30 Songs genau sechs (6) Buchseiten. Es sind die Unterkapitel: 3.6.1 Anzahl der Gesangs-Interpreten (nicht-musikalisch?) 3.6.2 Qualität der Gesangsdarbietung (nicht musikalisch?), 3.6.3 Stilistiken der Hits (halbe Seite), 3.6.4 Authentizität (weniger als halbe Seite), 3.6.5 Imagebildung (halbe Seite), 3.6.6 Vorherige Bekanntheit (eine Seite), 3.6.7 Sexueller Anreiz bei der Performance (eine Seite). Spezielle Bedeutung von Vermarktungsstrategien, Videos, Filmen, Konzerten, Skandalen, (sozialen) Medien werden nicht dezidiert berücksichtigt.
    Sein Ansatz ist die vermeintlichen „Erfolgsfaktoren“ aus dem Primärtext (also der Aufnahme) zu isolieren. Die Herausstellung der Bedeutung „non-musikalischer Faktoren“ widersprechen dieser These diametral, vielleicht wurde der Teil deswegen so knapp gehalten.

  3. Ohne das Buch von Kramarz bisher gelesen zu haben, erscheint mir die Kritik derartig an den Haaren herbeigezogen, dass die Vermutung einer narzistischen Motivation des Kritikers nahe zu liegen scheint. Beispiel für die oft absurde Kritik: Herr Kramarz verwende die deutsche Bezeichnung für Töne: h z. b. anstatt b, wie es im englischsprachigen Raum üblich ist. Oh je, Kritik um der Kritik willen ist immer peinlich. Übrigens: Herr Kramarz ist mir nicht persönlich bekannt. Ich bin nur ein schlichter Musiker, der Freude an seinem Klavier und seiner Gitarre hat. Entschuldigung, hätte ich Piano und guitar schreiben sollen.
    Trotzdem schöne Weihnachten und herzlichen Gruß
    Lothar Kuschnik

    • @Lothar Kuschnik: Willkommen auf dem Blog und danke für den ausführlichen Kommentar. Das Buch zu lesen wäre sicher hilfreich um informiert mitreden zu können. Auf die Kritik an meiner Kritik möchte ich erwidern: Dass Kramarz h statt – wie international üblich b – verwendet oder von Subdominante und Tonika statt von Stufen redet, sind nur Beispiele für eine ziemlich antiquierte Herangehensweise an das Thema. Er arbeitet fast durchwegs mit Theorien und Terminologie der klassisch-romantisch geprägten Musikwissenschaft und das funktioniert nicht bzw. liefert nur sehr begrenzte Erkenntnisse. Moderne und stildefinierende Kategorien wie Sound, Groove, Danceability, Signaturen etc. werden nicht mal im Ansatz behandelt, stattdessen immer und immer wieder standardisierte Harmoniefolgen auf deren „Deutung“ er sich anscheinend tunnelblickartig eingeschossen hat. Selbstverständlich muss Popmusik aber mit einer ihr gemäßen Theorie und Terminologie behandelt werden. Da sind wir uns sicher einig. Dass da auch der ein oder andere Anglizismus vorkommt, liegt daran, dass wesentliche Impulse für Popmusik und ihrer Reflexion vorwiegend aus dem anglo-amerikanischen Raum stammen.
      Ich würde gerne wieder mit ihnen diskutieren, wenn sie Gelegenheit hatten das Buch wenigstens mal durchzublättern. Falls sie Interesse daran haben sollten, welche grundlegenden, werkimmanenten Parameter noch untersucht hätten werden können, verweise ich hier mal ganz unbescheiden auf die Veröffentlichung meiner Dissertation „Spieltraditionen, Personalstile und Signature-Licks der Rock and Roll-Gitarre“ (ebook, Fuego).
      Frohes Fest

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