Familiengeschichte(n): Ein Überblick, Teil 1

Aus der Hinterlassenschaft eines kürzlich verstorbenen Onkels sind im Frühjahr 2015 einige familiäre Erinnerungsstücke in meine Hände geraten, darunter Fotoalben, Dias, Briefe, Tonbänder und auch ein Bildnis meines Urgroßvaters Ludwig Hermann Schütze (1869-1943). Darüber und die Gefühle, die das in mir auslöste, habe ich vor einigen Wochen in einem Blogartikel berichtet.
Wie es so ist nach einem Todesfall, gab es in der erweiterten Familie Dinge zu besprechen und Angelegenheiten zu regeln, die Familie rückte ein klein wenig näher zusammen, einige Kontakte wurden dadurch aufgefrischt, in meinem speziellen Fall entstand Kontakt zu Verwandten, die ich bis dahin nur vom Hörensagen kannte. Im Mai lernten wir uns dann persönlich kennen, tauschten uns aus und es lag nahe, dass wir schließlich auch über unsere gemeinsamen Vorfahren zu sprechen kamen. Bis dahin kannte ich nur einige, allerdings vielversprechende Anekdoten, hatte jedoch nicht den Eindruck, dass viel mehr in Erfahrung zu bringen sei. Schon die erste, kurze Begegnung mit der Berliner Verwandtschaft belehrte mich da eines besseren, hier wurden ganz nebenbei von Erlebnissen berichtet, Geschichten erzählt und Zusammenhänge erwähnt, die mich ganz neugierig machten. Ich hielt also Kontakt und stellte viele Fragen. Seitdem habe ich von meinem Vater, diversen Großcousins und Menschen deren Verwandtschaftsgrad mit mir gar nicht so leicht herzuleiten ist ganz viel erfahren. Mir wurden Emails und Briefe geschrieben, mir wurden Fotos und Abbildungen geschenkt und man hat mir Stammbücher, Kompositionen und andere Dokumente anvertraut.
Unabhängig davon habe ich mich ganz allgemein mit den Lebensbedingungen meiner Vorfahren vertraut gemacht (Geburtsort und –datum, Beruf, Eheschließung, Wohnorte, Lebensende) und in einem besonderen Fall habe ich auch sehr viele Informationen in Fachbüchern aus dem 19. Jahrhundert gefunden, die heutzutage mit überschaubarem Aufwand über Google Books zu finden und dort auch kostenlos zu beziehen sind.
Im Folgenden möchte ich einen kleinen Überblick bieten über das, was ich in den letzten Wochen zusammengetragen habe. Meine Erkundigungen beziehen sich auf die Familie väterlicherseits. Die meisten Informationen fanden sich über die direkte Linie der männlichen Familiennamensträger (Schütze) auf die ich mich in der Darstellung zunächst beschränken will. Sie ließ sich bis ins späte 18. Jahrhundert, also über fünf Generationen zurückverfolgen.

Von Nicolaus Gottlieb Schütze (meinem Ururururgroßvater) ist nicht viel bekannt, geboren wurde er wohl in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In einer Quelle wird er als verarmter Landwirt, an anderer Stelle als Gutsbesitzer bezeichnet. Er lebte im „Alten Land“ bei Hamburg, wird aber um 1801 auch mit dem Gut Niebeck (bei Uelzen) in Zusammenhang gebracht. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits verheiratet mit Marie Elisabeth Ritter. Zusammen hatten sie mehrere Kinder davon mindestens zwei Söhne: Mein Urururgroßvater Johann Erdmann Nicolaus Schütze (*1799) und Johann Wilhelm Eduard Schütze (*1801). Den Vater Nicolaus Gottlieb Schütze hat irgendwann das Glück verlassen, durch einen Krieg verlor er „Vermögen und Wohlstand“ und verdiente sich danach seinen Lebensunterhalt mit privaten Musikstunden. Aufgrund seiner finanziellen Situation war es ihm nicht möglich seinen Kindern eine höhere Schulbildung zu bieten. Er verstarb während der Belagerung Hamburgs in den Jahren 1813/14 an einer Krankheit.

Über seinen Sohn Johann Erdmann Nicolaus Schütze (meinen Urururgroßvater) ist wesentlich mehr in Erfahrung zu bringen, „schon in dem zehnjährigen Knaben erwachte […] die Liebe zur Schauspielkunst“ und er besuchte regelmäßig die Hamburger Bühne. Im Jahr 1815 mit knapp 17 zog er mit den hanseatischen Truppen in den Krieg gegen Napoleon. Bei ihrer Ankunft war die Schlacht in Waterloo glücklicherweise bereits geschlagen und das Kontingent kampierte wochenlang einige Kilometer vor Paris. Um die Langeweile zu vertreiben probte er zusammen mit einiger Kameraden Theaterstücke ein und brachte sie erfolgreich zur Aufführung. Nach seiner Rückkehr nach Hamburg schloss er sich einem „Dilettanten-Vereine“ an und widmete sich nun voll und ganz seinem Interesse für Schauspielkunst. Schon nach kurzer Zeit schauspielerte er hauptberuflich und arbeitete sich Stück für Stück nach oben. Seinen bürgerlichen Namen legte er kurz darauf ab und wurde bekannt als (Johann Nikolaus) Eduard Schütz. Es war für Schauspieler bereits damals üblich oft den Wohnort zu wechseln und so arbeitete er an vielen Theatern in verschiedenen Städten. Eine besondere Station wurde sein Engagement am Hoftheater in Braunschweig. Hier spielte er im Januar 1829 die Hauptrolle bei der Uraufführung von Goethes „Faust“. Das Drama war zwar bereits 1808 in Schriftform veröffentlicht worden, galt aber zwei Jahrzehnte lang als unaufführbar. Das Hoftheater Braunschweig unternahm in einer gekürzten Fassung den weltweit ersten Versuch das bedeutende Drama auf die Bühne zu bringen und in der Rolle des Dr. Faust ist mein Urururgroßvater Eduard Schütz in die Theatergeschichte eingegangen. Es gibt über ihn sogar einen eigenen Wikipediaeintrag und er wird mehrfach in der Fachliteratur erwähnt.
Eduard Schütz war viermal verheiratet. Von seiner ersten Frau ließ er sich aus unbekannten Gründen scheiden, im Jahr 1824 heiratete er die Sängerin Betti Schmidt geb. Herz. Nach ihrem Tod im Jahr 1835 heiratete er am 1. Mai 1836 die Schauspielerin Sophie Höffert, aus dieser Ehe gingen zwei Söhne und eine Tochter hervor. Nach dem Tod seiner dritten Frau im Jahr 1850, heiratete er am 3. Juni 1851 Marie Würth, aus dieser Ehe ging ein Sohn hervor. Nach der Uraufführung des „Faust“ hatte Eduard Schütz weiterhin Engagements und Gastspiele an verschiedenen Theatern u.a. in Leipzig (1829-31), Würzburg, Braunschweig, Wiesbaden (1854-56), bevor er 1856 als Direktor des Hoftheaters nach Braunschweig zurückkehrte und dort bis zu seinem Tod wirkte. Er starb am 2. Mai 1868 an einer Krankheit. Nur wenige Tage zuvor verfasste er dieses letzte Gedicht:

„Doch wollen wir dem Ewigen vertrauen,
Und, naht sich dann der Tage letztes Ende,
Froh sprechen und nach oben schauen:
Herr, ich befehle meinen Geist in deine Hände.“
(Eduard Schütz, 1868)

Eduard Schütz wird beschrieben als „sehr fleißiger Mann mit einer didaktischen Ader, aber auch einem gewissen Hang zur Pedanterie“ (Hartmann). An schriftlichen Arbeiten hinterließ er etliche Prologe, Gedichte, dramatische Abhandlungen und Bühnenwerke. Er war der Onkel des Reiseschriftstellers Friedrich Gerstäcker, der seine Jugendjahre bei ihm verbrachte und ihm in seinem Roman „Im Eckfenster“ mit der Figur des Theaterdirektors Süßmeier ein literarisches Denkmal setzte.

Einer seiner Söhne aus der Ehe mit Sophie Höffert war August Ludwig Heinrich Johann Carl Schütze (mein Ururgroßvater). Er wurde am 28. November 1841 in Braunschweig geboren, wuchs dort auf und absolvierte nach seiner Schulzeit eine Lehre in einer Buchhandlung. Irgendwann zog er nach Düsseldorf und heiratete dort die ortsansässige Friedericke Wilhelmine Bertha Audoyer. Aus der Ehe gingen mehrere Kinder, vermutlich drei Söhne hervor, einer davon war mein Urgroßvater Ludwig Hermann Schütze. Der Vater arbeitete hauptberuflich als geschäftsführender Kunsthändler bei der Firma Ed. Schulte und verfasste nebenbei Artikel für angesehene Zeitungen und Zeitschriften. U.a. war er jahrelang Kunst- und Schauspielreferent des Düsseldorfer Generalanzeigers und war als Kunstkenner und regelmäßiger Theatergänger bekannt. In einem Nachruf heißt es: „Sein für alles Schöne und Edle sich bis in seine letzte Lebenszeit mit jugendlicher Frische erwärmendes Gemüt […] gewann ihm die Herzen all derer mit denen er in Berührung kam.“ Er starb am 22. April 1903 in Düsseldorf.

Teil 2 folgt.

4 Gedanken zu „Familiengeschichte(n): Ein Überblick, Teil 1

    • @Axel: Vielen Dank für die Blumen, warte mal auf den zweiten Teil (kommt morgen), da wird’s auch nochmal interessant.

      Der schöne Satz stand in einem Nachruf der Städtischen Nachrichten Düsseldorf vom 24. April 1903. Stammt aus einer Textsammlung eines entfernten Familienmitglieds.

  1. Ich frage mich immer: Was ist mit den Lücken?
    In diesem Netz an Vorfahren kann es doch neben den genannten „Großen“ großartige Menschen gegeben haben, die keine „laute Expression“ erfahren haben, von denen niemand weiß. Versunken und verschollen im Nirwana.

    Noch etwas: Komischerweise gibt es in meinem Stammbaum einen Bürgermeister, ein Mitglied der kaiserlichen Garde und und und. Wie wäre es, wenn solche „Exemplare“ nicht zu finden wären?

    • @Gerhard: Das sind spannende Fragen. Bei mir richtete sich das Interesse erstmal an die Figuren von denen Anekdoten und Dokumente innerhalb der Familie kursierten. Dreh- und Angelpunkt war für mich das Bildnis meines Urgroßvaters. Die Würde, die dieses Bild ausstrahlt, hatte einen ungeheuer großen Effekt auf mich, wahrscheinlich spielte auch mit rein, dass mein verstorbener Onkel das Bildnis so sehr schätze.
      Die Recherche richtete sich dann erstmal auf die männlichen Familiennamensträger, da hatte ich einen Anhaltspunkt und von denen war auch am meisten in Form von Anekdoten und Dokumenten überliefert. Ich war überrascht was alles noch vorhanden war und die ältere Generation wirkte geradezu erleichtert, dass endlich mal jemand nachfragt und gaben bereitwillig Auskunft. Erst im Verlauf der Recherche ist mir aufgefallen, dass die Frauen und Töchter kaum Erwähnung finden. So richtig klar wurde mir das, als ich Einblick in den Ariernachweis meines Großonkels nehmen konnte. Da waren neben den Männern selbstverständlich auch alle Namen und Lebensdaten der Frauen verzeichnet. Und hochinteressant: Bei den Personen der jüngsten Generation waren zusätzlich auch körperliche und Charaktermerkmale vermerkt (Haare, Gestalt, Krankheit, geistige und seelische Veranlagung). Die ca. 50 Kategorien beginnen mit äußerlichen Merkmalen wie groß/klein, dick/dünn und werden dann im weiteren Verlauf sehr persönlich fleißig /träge, schwermütig/leichtlebig, egoistisch/aufopfernd. Die letzten Kategorien sind musischer Art wie musikalisch, bildnerisch, dichterisch. Ich konnte so erkennen, das das musikalisch Interesse meiner Ahnen auch von der Urgroßmutter väterlicherseits herrührt, bei ihr und ihrer Mutter ist die Nr. 64 vermerkt „musikalisch“, wie übrigens auch bei beiden Elternteilen meines Urgroßvaters. So gesehen hatte dieser verrückte Nachweis langfristig gesehen immerhin doch einen Sinn. Er enthält viele Informationen, die ansonsten nicht weitergegeben worden wären.
      Wahr ist allerdings auch, dass meine Abstammung mütterlicherseits noch unaufgearbeitet ist. Weil meine Vorfahren auf der Seite einfacher, vermutlich etwas ungebildeter waren, gibt es hier so gut wie keine überlieferten Dokumente. Es kommt dazu, dass sie vertrieben wurden und eine Vaterschaft nicht genau weiterverfolgt werden kann. Da ging viel in den Kriegs- und Nachkriegswirren verloren. Vielleicht wären das sogar ergreifendere Geschichten, vielleicht finde ich da auch noch was heraus, es ist aber auch mit wesentlich mehr Leid und Unglück verbunden und eignet sich nicht so gut für eine halböffentliche Aufbereitung.
      Und an dieser Stelle komme ich als Erzähler ins Spiel. Selbstverständlich wäge ich ab, worüber ich hier öffentlich schreibe und worüber lieber nicht. Mir ist bewusst, dass ich aufpassen und nicht alles, was ich weiß, ausbreiten sollte. Das ist zum Teil ein kleiner Spagat, aber ich gebe mein bestes eine interessante Geschichte zu erzählen ohne die Intimsphäre meiner Vorfahren zu verletzen.

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