Seth Kim-Cohen über Rock and Roll

„In blues-based rock and roll, the form comes not from the composer but from the tradition. The performer-as-composer inflects the form with individual differences or contravenes the conventions outright. In either case, the listener starts with an understanding of the form that is roughly equal to that of the performer. The listener’s responsibility, in the first case, is to remain sensitive to the performer’s inflections, weighing them against the demands and allowances of the form, as well as against the inflections of other performers. In the second case, the listener must understand the status of the formal expectations being disrupted, while also comparing the contraventions against a slate of other potential disruptions, and thus to piece together the differential meaning of the gesture. The assumption is not one of invention and inspiration but an engagement with a tradition and of negotiation with the possibilities, forms, and meanings of that tradition.“
(Seth Kim-Cohen in: In the blink of an ear (2009/13, S. 147)

3 Gedanken zu „Seth Kim-Cohen über Rock and Roll

  1. Ja, das ist wirklich schön ausgedrückt. Problematisch ist nur, dass das Vorwissen der Hörer (und manchmal auch der Musiker) so heterogen ist. Gut finde ich, dass Kim-Cohen Rock ’n‘ Roll genauso ernst nimmt wie eMusik: Er ist ebenso voraussetzungsreich, ebenso geschichtsgesättigt, ebenso variabel. Leider ist diese Haltung unter europäischen Musikologen noch nicht wirklich Standard 🙁 (vgl. „U + E“-Musik und so ’n Kram). Wenn die nicht aufpassen, verlieren sie völlig den Anschluss an die aktuelle Debatte (wenn das nicht längst schon geschehen ist!).

    • @Stefan: Ja, man ist als europäischer Leser schon ziemlich überrumpelt in solch einem Kontext Referenzen zu Muddy Waters, Sam Phillips und Bob Dylan zu finden. Noch dazu sind diese Passagen fachlich sehr gut beobachtet. Nur erscheint mir die Auswahl der wenigen Beispiele aus dem Populärmusikbereich doch etwas willkürlich. Es handelt sich ausschließlich um US-Amerikaner aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der Bezug zum Thema wirkt zum Teil konstruiert. Man könnte dem US-Amerikaner Kim-Cohen somit denselben Vorwurf machen wie europäischen Autoren: Er bezieht einige zentrale Beispiele vorzugsweise aus seinem eigenen historisch-kulturellen Umfeld. Warum keine Beispiele aus Südamerika, Afrika, Asien? Warum nur der Enge Zeitraum zwischen 1948-ca. 1980? Warum fehlen die 90/00er Jahre komplett? Warum so wenige Frauen? Und vielleicht kannst du mir noch mal kurz das Ziel seines Textes zusammenfassen. Er spricht in der conclusion kurz von einem „rehearing and rethinking of the recent history of the sonic art“, aber ist das nicht selbstverständlich, dass wir als Interessierte Nachkommen unsere (musik-) kulturelle Vergangenheit immer wieder neu betrachten und entdecken müssen?

      Nichts desto trotz sind Kim-Cohns Betrachtungen gerade zum (leider nicht definierten) Phänomen Rock and Roll hochinteressant.

  2. @Dennis Schütze: „Und vielleicht kannst du mir noch mal kurz das Ziel seines Textes zusammenfassen.“ – Ich denke, Kim-Cohens Ziel ist eine Konzeptualisierung der Musikwissenschaft bzw. Musiktheorie. Er drückt das zwar verdammt umständlich aus (es ist halt auch eine schwierige Angelegenheit), aber letztlich lese ich bei ihm immer heraus, dass die Erkenntnisse, die Musiktheoretiker liefern, niemals unabhängig von ihrer verwendeten Methodik verstanden werden können. Das klingt, so formuliert, natürlich schrecklich banal – aber im konkreten Einzelfall ist das eine doch recht umstürzlerische Erkenntnis: *Nichts* (in der Musik) „versteht sich von selbst“, alle analytischen Selbstverständlichkeitskontexte (meine Formulierung) sollten aufgelöst oder zumindest infragegestellt werden. Wenn ich im 21. Jahrhundert über Musik schreibe, sollte ich ein logisch konsistentes Gedankengebäude zimmern und dabei keinen allzu großen Wert auf dessen Anschlussfähigkeit an traditionelle musikologische Sichtweisen legen. Oder, ganz knapp zusammengefasst: Wahrheit vor Beständigkeit.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert