Aufgrund meiner ausführlichen Kritik zu seinem jüngst bei Transcript erschienen Buch „Warum Hits Hits werden“ hat der Autor Volkmar Kramarz sich bei mir gemeldet. Er hatte das dringende Bedürfnis auf einige der von mir angesprochenen Fragen zu reagieren und hofft damit etwaigen Unklarheiten auf Seiten der Leser zu begegnen. Nach gemeinsamer Absprache hat er nun einen Fragen- und Antwortenkatalog (FAQ) vorgelegt, den ich hiermit gerne veröffentliche. Ich freue mich über seine unmittelbare und direkte Reaktion auf meine Kritik und bedanke mich für seinen konstruktiven Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs, der an anderer Stelle leider viel zu selten offen/öffentlich geführt wird. Feedbacks, Meinungen und Kommentare sind diesmal besonders herzlich willkommen.
FAQ von Volkmar Kramarz
Kann ich bei einem Stück 100% sagen, dass es a. ein Hit und/oder b. KEIN Hit wird?
Was sich sagen lässt aufgrund meiner Beobachtungen und Forschungsergebnisse, ist: Wenn ein Song NICHT bestimmte Elemente und Grundzüge aufweist (gerade im Bereich Harmonik), wird er nicht zu der Gruppe von Stücken gehören, die aktuell ernsthaft um den vordersten Platz in der Hitparade kämpfen. Dort kann es aber nur einen Sieger geben, und daher ist es insofern nicht möglich zu garantieren, dass eine bestimmte Song-Produktion mit ihrem jeweiligen Image, Gesangsperformer, Arrangement und Promotionaufwand letztendlich das gewünschte Ergebnis erzielen wird. ABER: Man kann feststellen, dass der eine Song zumindest das Potential hat, ein weithin akzeptiertes Stück zu werden – und dass andere Stücke dies eben nicht haben – wobei das praktisch immer zu einem – garantierten – NICHT-Erfolg führt.
Sind neben Harmonien und Melodien nicht auch (oder gerade) außermusikalische Faktoren wichtig für einen Hit?
Es geht um die Hierarchie der Elemente: Natürlich sind im langwierigen Verfahren zu einem Hit irgendwann vitale Kontakte zu Plattenfirmen, üppige Etats bei den Videoproduktionen usw. absolut notwendig, ABER: Zuerst muss die musiktheoretische Basis stimmen – mit packender Melodik, pulsierendem Rhythmus und eben vorrangig den richtigen, allgemein als wohlig empfundenen Harmonie-Abfolgen. Nur dann kann alles Weitere irgendwann seine Wirkung erzielen. Eine musiktheoretisch ,chaotisch-aufgelöste´ Musikabfolge wird einfach keine Chance – trotz aller theoretischer Innovation und Ungewöhnlichkeit – haben, einen weltweiten (kommerziell durchschlagenden) Erfolg zu erzielen.
Warum ist nicht jedes Stück, das den Pop Formeln entsprechende Harmoniefolgen hat, auch ein Hit?
Weil es so viele Stücke gibt, die sich an diese Standard-Formeln halten und darauf aufgebaut sind. Aber auf Platz Eins ist nur begrenzt Platz – und daher fallen viele, an sich Hit-geeignete Stücke erfolglos wieder zurück ins Abseits.
Ist es nicht viel schöner, wenn man nicht per Analyse weiß, wie Hits gemacht werden – und was sie jeweils auszeichnet? Warum das Mystische zerstören?
Für viele Rezipienten und Genießer von Popmusik mag das gelten. Aber wenn ich beispielsweise als Musiker mein ganzes Leben, meine gesamte berufliche Existenz mit dem kommerziellen Erfolg eigener Stücke verbinde, macht es Sinn, sich darüber zu informieren, welche Grundlagen im Bereich etwa von Harmonik für angenehme Gefühle sorgen bei den Hörern – und welche nicht. Und wenn ich eine Fülle von neuen Songs auf ihre Erfolgswahrscheinlichkeit begutachte, kann es ebenfalls helfen. Und nicht zuletzt, wenn ich beim nächsten ESC auf die vorderen Plätze eine Wette abschließen möchte…;-)
Gibt es wirklich DIE Formel für einen Hit?
JEIN – es gibt nicht DIE Formel, aber es gibt ein Bündel von Vorraussetzungen, die unbedingt eingehalten und beachtet werden sollten, wenn ernsthaft ein geschäftlicher Musik erzielt werden soll. Dies alles beinhaltet so viele standardisierte Anwendungs-praktiken, dass schon in bestimmten Beziehungen – wie eben dem Einsatz von musterartigen Harmonieabläufen – zumindest von (einigen wenigen) ,Formeln` gesprochen werden kann.
Warum der häufige Bezug auf die Beatles?
Weil bei ihnen so überzeugend und exemplarisch gezeigt werden kann:
1. Der Erfolg basiert auf intensivstes und zeitraubendes Einarbeiten in die Grundlagen und Baumuster der weltweiten Mega-Hits (Wirken der Beatles in Hamburg und Liverpool).
2. Wenn dann erste Eigenkompositionen, die sich ganz an diese Muster halten und sie nur minimal variieren (beispielsweise die Verbindung eines Blues-12-Takt-Schemas mit einer Turn-Around Abfolge wie in „Can´t Buy Me Love“, was zu diesem Zeitpunkt äußerst ungewöhnlich war), veröffentlicht wurden, dann konnte in Verbindung mit dem passenden Zeitgeist, gelungener Promotion und großer Interpretationskunst (die Beatles hatten z.B. drei hervorragende Sänger unter sich!) der Anfang einer großen Hit-Produktionszeit erfolgen.
3. Dann durfte die Zeit der Experimente einsetzen: Verbindung mit Elektronik, mit Tontechnik aus dem Studiobereich, wobei allerdings die Beliebtheits-Grenze erreicht wird, wenn die harmonischen Grundlagen der frühen Hit völlig verlassen werden wie etwa in „Revolution No. 9“.
4. Schließlich besonnen sich die Fab Four auf ihre Kommerzielle Durchschlagskraft und kreierten nun Songs wie „Let It Be“, das als einer der ersten Stücke das bekannte Four-Chord-Schema aufweist. Axis of Awesome werden – Jahrzehnte später – zeigen, wie viele Hits auf der Grundlage dieser viertaktigen Harmoniefolge möglich sind.
Fazit: Kaum eine Band hat solch einen exemplarischen Werdegang in nur einigen wenigen Jahren aufzuweisen – für mich daher ein dankbares und aussagekräftiges Beispiel-Potential.
Warum wird der ESC Eurovision Song Contest so vorrangig erwähnt?
Es handelt sich hier nicht um eines der größten weltweiten Medienereignisse in Bezug auf Popmusik überhaupt, sondern hier lässt sich auch sehr schön einerseits die Bewertung von vielen, vielen (Erst-)Hörern erkennen und andererseits das – oftmals abweichende – Experten-Urteil der jeweiligen Fach-Jurys damit in Verbindung bringen.
Warum dt. Nomenklatur bzw. Akkordbezifferung?
Schlichtweg eine Absprache mit dem Verlag, da wir für dieses Buch überwiegend in Deutschland den Markt sehen.
Warum werden nur Stücke einer bestimmten Zeit exemplarisch untersucht – und nicht auch aus all den früheren Jahrzehnten?
Hier dürfen gerne viele andere Autoren und Analyse-Interessenten sich zur Mitarbeit aufgerufen fühlen! Wobei es ja schon eine Reihe von weiteren Untersuchungen gibt: Joe Burns in Bezug auf die Rock´n´Roll-Zeit der 50er Jahre, KG Johansson in Bezug auf die Beatles-Titel und diverse andere.
Was ist der Sinn der ausführlichen Analysen der einzelnen Winnersongs?
Ausgehend von den einzelnen Songwriter-Anleitungen (deutsch und international) will ich zeigen, inwieweit die einzelnen Ratschläge a. wichtig und b. überhaupt gültig bzw. relevant sind: Gibt es eine Erhöhung innerhalb der Melodik hin zum Refrain, fängt der Refrain immer ziemlich genau nach einer Minute an und beträgt das Tempo wirklich fast immer 120 BpM? Dies einmal zu untersuchen und dann zu verifizieren bzw. in Frage zu stellen ist mir ein wichtiges Anlegen gewesen.
Wieso solch ein ausführliches Literaturverzeichnis?
Das Buchprojekt versteht sich auch als eine Sichtung der vorhandenen und maßgeblichen Literatur. Daher wurde so viel wie möglich Material integriert und aufgegriffen.
Was wurde hier besonders ausgewählt und durchgearbeitet?
Der Ansatz war, möglichst in jeder Beziehung einen Überblick über die jeweils vorhandene Literatur zu geben: Was wurde in Bezug auf Musik&Erfolg, was in Songwriting oder in Bezug auf die rezeptionsästhetische Wirkung von Popmusik bereits abgehandelt?
Warum die eigene Layout-Setzung der Notenbeispiele und die Reduktion auf Melodie und Akkord-Symbole?
Dies diente sowohl der durchgehenden Reduzierung auf Melodik und begleitende Harmonik(symbole) als auch der optischen Vereinheitlichung, um nicht aus den unterschiedlichsten Songbüchern das jeweils sehr unterschiedliche Erscheinungsbild nebeneinander setzen zu müssen. Die akribisch genaue Übernahme aus den einzelnen Songbooks oder Notentranskriptionen wurde aber ausdrücklich beachtet.
Warum schreibst du selbst keinen Hit?
Zumindest wäre ich näher dran als viele andere: Wenn ich jetzt konsequent den Weg gehen würde – etwa als langjährig professioneller Produzent mit viel Erfahrung, reichlich Etat und besten Beziehungen – wäre ich schneller im Bereich „Hit“ als viele andere, die mühsam im Dunkeln stochern, bis ihnen endlich einmal ein Hit-artiger Song gelingt. Mehr durch Glück und Zufall als bewusstes Dahinsteuern tut sich bei ihnen etwas auf – während ich, so wie die wirklich erfolgreichen Hit-Produzenten, sehr schnell wüsste (und in vielfältigen Beratungssituationen auch kundtue), was die Komposition und Produktion unbedingt benötigt und was sie überhaupt attraktiv macht. Aber das konkrete Leben als Berufs-Komponist war für mich persönlich nie eine erstrebenswerte Option, ebenso wenig wie der Zustand zwischen Koffer und Hotel, in dem sich so viele Tour- und Studio-Musiker befinden.
@Volkmar Kramarz: Habe Ihr Buch nicht gelesen, mich aber mit Ihrem Rezensenten Dennis Schütze intensiv darüber unterhalten, deswegen hier ein paar Anmerkungen:
Sie sagen oben ja selber, dass der „Materialfortschritt“ (Adorno) gerade im Pop gleichsam „natürliche“ Grenzen hat. Warum konzentrieren Sie Ihre analytischen Bestrebungen dann gerade darauf?
Meiner Meinung nach bedarf gerade Popmusik einer soziokulturellen Analyse (Pop als Lebensform). Angenommen, in einem Paralleluniversum hätten vier britische Kids exakt die selben Songs geschrieben wie die Fab Four, hätten aber ein bisschen anders ausgesehen (hätten z. B. einen Migrationshintergrund aus Indien gehabt): Glauben Sie wirklich, sie hätten den gleichen Erfolg gehabt wie die Beatles?
Erfolgreiche Musik, ob nun Pop oder nicht, verbindet nicht irgendein quantifizierbarer rhythmisch-harmonisch-melodischer Algorithmus (denn darauf läuft Ihre Analyse ja hinaus, oder?), sondern die Verbindung eines starken, sofort einleuchtenden und dennoch „tiefen“ Konzepts mit einem ebenso verfassten außermusikalischen Gehalt, der durch die Musik in einleuchtender, sofort einsehbarer Weise vermittelt wird.
Mehr zum Thema „musikalischer Gehalt“ gibt’s hier auf meinem Blog: http://stefanhetzel.wordpress.com/2012/11/27/gehalt-gedanken-zu-lehmanns-musikphilosophie-5/
@Stefan: Danke für dein Interesse und die spannenden Fragen an den Autor. Ich hatte die FAQ mit der Hoffnung eingestellt, dass vielleicht eine kleine Diskussion entsteht. Ich weiß aus meiner persönlichen Korrespondenz mit Volkmar Kramarz, dass er deinen Kommentar sehr wohl gelesen und die Fragen zur Kenntnis genommen hat. Warum er nicht einsteigt und deine direkt an ihn gerichteten Fragen einfach beantwortet, kann ich nicht sagen, aber ich bedaure es sehr. Er hätte hier seine Thesen öffentlichen verteidigen und wir alle hätten unsere Argumente austauschen können. Vielleicht jammere ich ja zu früh und es kommt noch was, ein lebendiger und flotter Diskurs kündigt sich aber gerade nicht an, schade.