Im Herbst 2014 wurde im Berlin Verlag ein neues Buch von Norbert Niemann veröffentlicht. Es trägt den Titel „Die Einzigen“ und ist seit 1998 der insgesamt vierte Roman des süddeutschen Autors, der in Niederbayern aufwuchs und mittlerweile am Chiemsee lebt. Niemann erhielt bereits vor seinem eigentlichen Romandebut („Wie man’s nimmt“, 1998) den angesehenen Ingeborg-Bachmann-Preis und seine Veröffentlichungen waren seitdem bereits im Vorfeld mit großen Erwartungen verbunden. Seit seinem letzten Roman („Willkommen neue Träume“, 2008) hat er sich nun immerhin sechs Jahre Zeit genommen und legt mit „Die Einzigen“ einen eigenwilligen Gesellschafts-, Beziehungs- und Entwicklungsroman vor.
Der Autor beschreibt darin die über mehrere Jahrzehnte hinweg bestehende Beziehung zwischen der Hauptfigur Harry Bieler und seiner Freundin, Geliebten und späteren Ehefrau Marlene. Harry, in jungen Jahren ambitionierter, aber etwas verkopfter Indie-Popmusiker, ist Unternehmersohn und übernimmt die Geschäfte des ererbten Seifenunternehmens seiner Familie. Marlene ist eine entrückte, angeblich hochtalentierte und snobistische Komponistin elektronischer Kunstmusik. Als junge Menschen spielten sie gemeinsam in einer Musikband („Die Einzigen“). Der Roman beginnt mit ihrem Wiedersehen bei der Bestattung eines gemeinsamen Freundes und Mitmusikers. Kurz danach beginnt auch die etwas einseitige (Liebes-)Beziehung der beiden, sie wird aus der Perspektive Harrys in langen inneren Monologen und nur wenigen dialogischen Szenen erzählt. Die Handlung erstreckt sich von den 1980ern, über die 90er und Nullerjahre ungefähr bis zur Gegenwart. Orte der Handlung sind Venedig und verschiedene Stadtteile Münchens.
Der Roman gibt Einblick in die innere Entwicklung von Harry und seiner dynamischen Beziehung zu Marlene. Die Künstlerin bleibt dabei unnahbar, kühl und berechnend. Immer wieder werden Komponisten Neuer Musik erwähnt, Klänge und ihre Wirkung beschrieben. Harry hat seine eigene musikalische und künstlerische Identität aber längst aufgegeben, hängt sich an die von ihm bewunderte Marlene dran, versucht sie und ihre künstlerische Tätigkeit zu verstehen. Im weiteren Verlauf wendet er einige dieser kunstphilosophischen Prinzipien auf die betriebswirtschaftliche Umgestaltung seines Unternehmens an. Die Ausführungen zur Anwendung von Konstruktions- und Wirkungsprinzipien europäischer Kunstmusik auf die Planung kommerzieller Werbe- und Verkaufsstrategien gehören zu den gelungensten Passagen im ganzen Buch. Unterstützt wird Harry dabei von der wohl lebendigsten und sympathischsten Figur des Romans, dem überdrehten und einfallsreichen Unternehmensberater und Überlebenskünstler Joe, der zwar nur eine kurze, dafür aber eine sehr zentrale und unterhaltsame Rolle spielt.
„Die Einzigen“ ist ein lesenwerter Roman, der neben der Entwicklung der Hauptfigur und der komplizierten Beziehung zu seiner Lebensgefährtin auch einige typische gesellschaftliche Phänomene der Zeit behandelt wie z.B. Orientierungslosigkeit, Identitätsverlust, Rückzug ins Private, Selbstoptimierung, Ästhetisierung der Warenwelt, Wertwandel nach der globalen Finanzkrise etc. Indirekt werden auch viele interessante Fragen gestellt: Was ist Kunst? Was ist Musik? Was ist ein Künstlerleben? Ist Kreativität und Innovation im Rahmen der etablierter europäischen Musiktraditionen heute überhaupt noch möglich? Ist Wirtschaft die neue Kunst? Oder ist der menschliche Körper bereits vollendete Kunst und Musik? Obwohl Neue Musik ein zentrales Thema des Romans ist, bleiben die Referenzen zahlreich, aber doch etwas farblos, die post-punkige Herkunft der beiden Hauptfiguren wird indes gar nicht weiterentwickelt, allenfalls in der Figur des erwähnten Joe, der sein Tätigkeitsfeld aber bewusst immer wieder an den vorherrschenden Zeitgeist anpasst. Harry bleibt, was die Musik angeht, fast bis zum Schluss ein Außenstehender, ein nicht involvierter Kunstkonsument. Die Welt der Hauptfiguren bleibt dabei merkwürdig und realitätsfern. So wie die kompositorischen Bemühungen von Marlene komplett unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, wirkt auch die unmittelbare Welt der beiden wie ein lang angelegtes Experiment unter sterilen Laborbedingungen, niemand und nichts dringt in diese Filterbubble ein: Es gibt keine weitere Verwandtschaft oder Freunde, es gibt keine Kinder oder Jugendlichen, keine Verpflichtung, keine Verantwortung, keine Notwendigkeit, die Figuren beschäftigen sich ständig nur mit sich selbst und Geld ist anscheinend unbegrenzt vorhanden. Marlene kann sich ohne existentielle Sorgen jahrzehntelang dem eigenbrödlerischen und unproduktiven Komponieren widmen, findet dafür immer wieder Gönner ohne im Gegenzug jemals etwas Nennenswertes als Gegenleistung zu offerieren. Zum Zeitvertreib übernimmt sie mal einen Lehrauftrag, sie ist illoyal, undankbar, unsympathisch und weltabgewandt, zum Ende hin kommt dann ein später und kurzlebiger Ruhm auf internationaler Bühne. Bei Harry steht die unerschütterliche Zuneigung zu Marlene und sein selbstbewusstes, berufliches Auftreten in einem krassen Missverhältnis. Die Geschichte findet ein logisches, aber auch ziemlich desillusionierendes Ende. Der Roman ist stilsicher, eigen, seltsam, befremdlich, dekadent, beklemmend, traurig, deprimierend und trotzdem empfehlenswert, für Kenner Neuer Musik vermutlich sogar besonders interessant bzw. amüsant.
„Die Einzigen“ erscheint bei Berlin Verlag, hat 301 Seiten und kostet gebunden 19,99 €.
@Dennis: Sehr gut geschriebene Rezension, gern gelesen, danke 🙂