Jane Gleeson-White ist eine australische Wirtschafts- und Literaturwissenschaftlerin. Das Buch „Soll und Haben“ erschien als englisches Original im Jahr 2012 unter dem Titel „Double Entry: How the Merchants of Venice created modern Finance“. Die deutsche gebundene Ausgabe erschien im März 2015 und trägt den Untertitel „Die doppelte Buchführung und die Entstehung des modernen Kapitalismus“. Die Autorin hat sich damit einiges vorgenommen, beschreibt die Etablierung und Auswirkungen eines buchhalterischen Systems zuerst in Italien, dann in Westeuropa und schließlich auf globaler Ebene. Sie präsentiert damit eine Kombination aus westlicher Wirtschafts- und Kulturgeschichte aus speziellem Blickwinkel.
Das Buch besteht aus einem Vorwort, zehn Kapiteln, einem Epilog und einem ausführlichen Anhang mit Quellennachweis. Jedem Kapitel sind mehrere Zitate vorangestellt, die die nachfolgende Argumentation andeuten, dabei werden Ökonomen, Wirtschaftshistoriker, klassische Literaten und Präsidenten zitiert. Das einleitende Vorwort beginnt mit einem Zitat aus einer Rede des amerikanischen Senators Bobby Kennedy, in der er anprangert, dass das Bruttosozialprodukt, also die in Zahlen belegbare Wirtschaftsleistung einer Nation, zum alleinigen Maßstab von politischen Entscheidungen geworden sei. Wie es dazu gekommen ist und wie man ökologische, soziale und andere weiche Faktoren in die Rechnung einbringen kann, will uns die Autorin in dem Buch darlegen.
Sie beginnt dabei ganz vorn, startet mit ihrer Darstellung der Geschichte der Buchhaltung in der frühen Antike und arbeitet sich vor bis zum Mittelalter. Thematisiert werden frühe Formen von Zähl-, Notations- und Schriftsystemen. Dreh und Angelpunkt der westlichen Wirtschaft werden in der Renaissance dann die Praktiken der international agierenden, norditalienischen Kaufmannsdynastien, die für die berufliche Ausbildung ihrer Nachkommen eigene Schulen, mit fachmännischem Lehrpersonal aufbauen. Hier entwickelt der italienische Gelehrte Luca Pacioli die frühe Form der sogenannten Doppelten Buchführung, die in den folgenden Jahrhunderten zum buchhalterischen Erfolgsmodell wird. Das Prinzip wird im Laufe der Zeit weiterentwickelt, bleibt aber im Kern bis heute erhalten.
Die praktische Anwendung wird leider nur kurz und am Rande erklärt. Hier hätte die Autorin gerne noch etwas mehr Informationen und praktische Beispiele für quer einsteigende Leser aufzeigen dürfen. Viel Platz räumt sie dagegen der Verbreitung, der Entwicklung und Verwandlung des Systems und seinen Varianten ein. Dabei verlegt sich im Laufe der Betrachtung der wirtschaftgeographische Schauplatz von Italien (Renaissance), nach Holland (17./18. Jahrhundert), weiter nach England (19. Jahrhundert) und von da aus in die USA (20. Jahrhundert) und die Weltwirtschaft (Ende 20. & 21. Jahrhundert).
Je weiter sich die Autorin an die Gegenwart heranarbeitet, desto weniger kulturhistorisch und mehr idealistisch werden die Aussagen. Bezugnehmend auf die Eingangs zitierte Rede von Kennedy wird gegen Ende hin versucht globale Probleme und Krisen aus buchhalterischer Perspektive zu lösen indem in den nationalen Wirtschaftszahlen neben Produktion und Wachstum zusätzlich auch Faktoren wie Ressourcenverbrauch, Nachhaltigkeit, Umweltverschmutzung, gesellschaftliche Effekte, etc. verrechnet werden. Dies hätte – rein buchhalterisch – andere Bewertungen zur Folge, würde zu anderen Ergebnissen und somit auch zu alternativen Konsequenzen, Wegen und Lösungen führen.
Fazit: Das Buch beginnt als trockene wissenschaftliche Aufarbeitung der buchhalterischen Wirtschaftshistorie, im Mittelteil werden Bezugsthemen und Wirkungsfeld dann beträchtlich, teilweise etwas willkürlich erweitert. Das Buch endet schließlich mit einer idealistischen, Weltverbesserungsidee auf die tatsächlich nur ein Wirtschaftswissenschaftler kommen kann: Retten wir die erhaltenswerten, noch nicht komplett durchkommerzialisierten Bestandteile unserer Erde indem wir sie bewerten und mit einem Preis versehen in die Bücher aufnehmen. Das verrückte darin ist, dass diese spezielle Rechnung evtl. sogar aufgehen könnte, wie einige politische Entwicklungen der letzten Jahre durchaus positiv bestätigen. Für sich gesehen ist jeder der drei thematischen Abschnitte (Geschichte der Buchhaltung, Entwicklung der Doppelten Buchführung, Weltwirtschaftsutopie) interessant und in sich geschlossen, in Kombination passen sie nicht immer gut zusammen, wissenschaftliche, persönliche und idealistische Anteile harmonieren nicht.
Susanne Held hat den mit wirtschaftstheoretischen Fachbegriffen durchsetzten Text sehr lesbar ins Deutsche übersetzt. Sehr gute Arbeit, das war sicher keine einfache Herausforderung. Das gebundene Buch erscheint bei Klett-Cotta, hat 366 Seiten und kostet 24,95 Euro.
Hat die Autorin tatsächlich soviel Einfluß gehabt, daß ihre Ideen umgesetzt wurden? Oder gab es gleichausgerichtete Ideen anderer?
@Gerhard: Also dass ihr Text da etwas bewegt hat, ist wohl eher nicht der Fall, sie fast eher die Ideen anderer zusammen. Grundsätzliche Tendenzen darüber nachzudenken, was wir für unseren Wohlstand auf der anderen, nicht-materiellen Seit opfern, gibt es ja mindestens seit Karl Marx, bzw. hat die Ökobewegung der 1980er Jahre ja auch deutliche Hinweise gegeben (allerdings nicht von Anfang in Zahlen übersetzt).
Das besondere an „Soll und Haben“ ist, dass diese Überlegung hier aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht formuliert und also auch für echte neoliberale BWL-Hardliner nachvollziehbar werden.
Falls das glückt, wäre es schon die Mühe wert gewesen. Trotzdem hatte ich beim Lesen manchmal den Eindruck, dass die Uhren da in Australien anscheinend etwas langsamer ticken als in Mitteleuropa. Spätestens mit dem Geschehnissen in Fukushima wurden bei uns ja in geradezu revolutionärer Art und Weise Standpunkte in Frage gestellt und bemerkenswerte praktische Konsequenzen gezogen, die genau dieser Idee voll und ganz entsprechen.
Umwelt „in Mark und Pfennig“ festhalten, das wäre es im Grunde. Ans Gewissen appellieren oder die Leute spirituell auf den Weg bringen, das bringt es nicht.
Ich erwähnte mal unlängst Chris Jordan, mit seiner Fotokunst zum Thema Raubbau und Verschwendung. Zwar zeigt er nicht zerstörte Umwelt oder leidende Tiere, das gab es ja schon zuhauf, aber MASSE! Was sind 400.000, was ist eine Million, was ist eine Milliarde…an wegeworfenen Dingen in einer kleinen Zeiteinheit.
Aber auch solche Veranschaulichung kratzt nicht wirklich.
Dennis, ich bewundere Dich.
Ich habe vor vielen, vielen Jahren einmal Betriebswirtschaft studiert und auch mit Diplom (FH) abgeschlossen, aber auf die Idee, ein solches Buch zu lesen, käme ich niemals. Bei Gelegenheit erzählst Du mir mal, wie Du die Auswahl Deiner Bücher triffst; auch die Auswahl des Buchs von Florian Huber (Kind versprich mir, dass Du Dich erschießt) finde ich ganz erstaunlich.
Ich könnte mir vorstellen, daß Dennis nach dem Prinzip verfährt, sein Wissen nicht unbedingt in einem speziellen Fachgebiet – ausser bei Musik – zu verschärfen, sondern in allen möglichen Fachgebieten zu graben.
Was kommt als nächstes? Ein Kompendium des Bienenzüchtens, eine Anleitung, wie man die 800 m schneller rennen kann, nordische Literatur, die Geschichte des Kaffees, die Rolle des Kobalts in der Biologie des Menschen, die Geschichte der Trachten, die Phildiorverteidigung im Schach und und und 🙂