Buch: „I Sing the Music of My Heart – Erinnerungen“ von Jessye Norman

MusicOfMyHeartJessye Norman ist eine renommierte, afro-amerikanische Sopranistin. Nach einem Gesangstudium an der Howard Universität in Washington D.C. gewann sie 1968 den ARD Musikwettbewerb im München und es entfaltete sich eine herausragende, internationale Karriere. Sie singt Opernarien und Lieder, vorwiegend aus dem klassisch-romantischen Repertoire, aber auch Werke der Klassischen Moderne, Spirituals und Jazzsongs. Im letzten Jahr erschienen ihre Memoiren im englischen Original unter dem Titel „Stand up straight and sing!“. Kurz vor ihrem 70. Geburtstag veröffentlicht dtv ihre Lebenserinnerungen nun auch in deutscher Übersetzung unter dem Titel „I Sing the Music of My Heart“ (Übersetzung: Birgit Brandau).

Das Buch beginnt mit einer kurzen und persönlichen Einführung des amerikanischen Dirigenten und Pianisten James Levine und einem Vorspiel der Autorin. Danach folgen zehn Kapitel und ein Zwischenspiel, denen allen ein englischer oder ein deutscher Arien-, Lied- oder Songtext voran- bzw. nachgestellt ist. Die Kapitel behandeln jeweils wichtige Personen wie Mutter, Vater, einflussreiche Lehrer und Vorbilder, aber auch kulturelle und gesellschaftspolitische Themen wie Kirche, Spirituals und Spiritualität, Rassismus, ihre prägende Zeit in Deutschland oder ihr Verständnis des Sängerberufs und sind gespickt mit vielen persönlichen Reminiszenzen.

Jessye Norman beginnt ihre Erinnerungen mit der Familiengeschichte und der eigenen Kindheit, weicht aber auch immer wieder von der Chronologie ab, springt nach vorne und wieder zurück, beschreibt persönliche Eindrücke, spezielle Situationen, prinzipielle Entscheidungen und offenbart auf diese manchmal etwas sprunghaft anmutende Weise ihre Sicht auf die Welt. Tatsächlich handelt es sich dabei, so wie im Titel korrekt angegeben, um Memoiren bzw. Erinnerungen, die anekdotenhaft aneinandergereiht wurden. Es ist nicht so sehr eine klassische Autobiographie, dazu sind die beschriebenen Erlebnisse zu punktuell, es fehlen nahezu komplett faktische Angaben und durch die nicht chronologische Erzählweise bleibt die Reihenfolge ihrer Lebensstationen und die näheren persönlichen Umstände manchmal etwas unklar.

Dafür äußert sich die Autorin ausführlich über weiche Themen wie z.B. Familie, Religion, Spiritualität, über den Wert von Kultur, Bildung und gutem Benehmen. Als Vorbilder dienen die eigenen Eltern, Oma, Tanten, Geschwister, aber auch die afro-amerikanische Kirchengemeinde, ehrenwerte Bürgerrechtskämpfer wie Martin Luther King und einige Politiker. Normans Aussagen wirken dabei allerdings oft merkwürdig distanziert und gefiltert. Alle Verwandten, ihr persönliches Umfeld verhalten sich ausnahmslos politisch korrekt, haben keine Ausfälle, machen keine Fehler und alles nimmt immer ein gutes Ende. Auch sie selbst entscheidet immer besonnen, wohlbegründet und edelmütig. Auf die Dauer eines Buches würde man gerne mal etwas von persönlichen Fehleinschätzungen, Auseinandersetzungen, Um- und Irrwegen, von verpassten Gelegenheiten, Pleiten, Pech und Pannen erfahren. Aber nein, alles geht seinen geraden, vorgezeichneten Weg, alle Lehrer waren hilfreich, alle Personen des öffentlichen Lebens vorbildlich, die Verwandtschaft tadellos, kleine Unstimmigkeiten gibt es allerhöchstens dann, wenn sich andere über den erklärten Willen der Sängerin hinwegsetzen und es wagen eine andere Meinung zu haben, da kann Frau Norman dann auch mal etwas unangenehm werden (typisches Verhaltensmuster von Gesangsdiven, deswegen absolut verzeihlich). Hinzu kommt die typisch amerikanische Neigung zur Verklärung der Vergangenheit, übertriebenem Nationalstolz, verklärender Religiosität, protestantischer Arbeitsethik und dem blinden Glauben an das kapitalistische Leistungsprinzip. Das alles ist für aufgeklärte europäische Leser eventuell etwas zu dick aufgetragen. So wirkt das undynamische Buch in seiner Gesamtheit etwas arg selbstbezogen, schönmalerisch und schwärmerisch und dafür an den falschen Stellen zu zurückhaltend. Als Leser erfährt man wenig bis nichts über ihre persönliche Situation. Wo wohnt sie? Wie lebt sie? Was macht sie, wenn sie nicht singt? Gab es Misserfolge oder Tiefschläge und wie ging sie damit um? Ganz am Rande wird einmal erwähnt, dass sie kinderlos ist (freiwillig?), etwaige Lebenspartner oder Lebenspartnerinnen spielen überhaupt keine Rolle, dafür sind alle ehemaligen Arbeitskollegen natürlich immer gleich beste Freunde. Ja, klar.

Fazit: „I sing the Music of My Heart“ ist ein Buch mit persönlichen Anekdoten für Jessye-Norman-Fans, die den (Rück-)Blick auf eine intakte und heile Welt bevorzugen und deren ausgewogene Weltsicht nicht ins Wanken geraten soll. Von persönlichen Auf und Abs, den Mechanismen des klassischen Konzertbetriebs, den Schwierigkeiten der klassisch-romantischen Konzertkultur in modernen Zeiten, der beruflichen Situation als Sängerin erfährt man leider nur wenig bis nichts. Es ist bedauerlich, dass sich die Autorin hier nicht mehr öffnet, mehr preisgibt oder deutlicher Stellung bezieht. So bleibt das Buch eine etwas lauwarme und unaufregende Lektüre für den ungestörten All-Inclusive-Urlaub.

Das Buch enthält in der Mitte einige kleinformatige, s/w-Fotoreproduktionen von offiziellen Auftritten der Sängerin bei Aufführungen und Ehrungen. Das gebundene Buch erscheint im dtv Verlag, hat 336 Seiten und kostet 22,90 Euro.

9 Gedanken zu „Buch: „I Sing the Music of My Heart – Erinnerungen“ von Jessye Norman

  1. Gute Review.
    Wenn sie problemhaftes bewusst auslässt, dann ist das ihre klare Botschaft, ihre Lebensausrichtung. Manchmal braucht man ein ganzes Leben zu dieser Haltung.
    Aber wenn das von Anfang an gelingt, dann ist diese Lösung für sie richtig gewesen.

    • @ Ja, beim Lesen ist das dann manchmal etwas langweilig, weil kaum nennenswerte Konflikte entstehen, ausgestanden oder gelöst werden. Wirkt halt auch extrem amerikanisch: Es gibt keine Probleme, sondern nur Herausforderungen, die dann durch entsprechenden Arbeitseinsatz gelöst werden. Naja, ob das tatsächlich immer und ausnahmslos so hinhaut, fragt man sich als Leser natürlich schon. Auf der anderen Seite ist man als Deutscher vielleicht zu problembewusst und sucht immer das Haar in der Suppe, das stimmt wahrscheinlich auch.

      • Wir gehören ja zu einer Generation (nicht direkt wir zwei, ich weiß), in der Wert auf Auseinandersetzung mit inneren und äusseren Problemen gelegt wird und dies zurecht. Sonst werden diese somatisch (innen) oder zu schwelenden Konflikten (aussen).

        • @Gerhard: Ja, sehe ich auch so, wenn dann alles nur political correct abläuft wirkt das auf Dauer heuchlerisch und bigott.

          Da fällt mir ein: Irgendwo im Buch spricht sie sich sinngemäß gegen die Eitelkeit und für die Natürlichkeit des Alterns aus. Tja, und auf dem Cover dann ein optimiertes Foto, auf dem eine nahezu 70 Jahre alte Frau aussieht, wie soeben dem Jungbrunnen entsprungen (kein Fältlichen, strahlend-weißes Blenda-Med-Lächeln, perfekt aufgehelltes Teint). Das ist schwer zu glauben und passt irgendwie nicht zusammen.

          • Liegt vielleicht auch daran, dass kein Mensch das Buch sonst kaufen würde. Die natürliche Schönheit des Alters möchten die meisten doch gar nicht sehen.

    • @MariUS-A: Das „Vorspiel“ ist keine Einleitung, sondern eine aus dem Zusammenhang gerissene Beschreibung von den Geschehnissen beim ARD Wettbewerb im Jahr 1968. Man darf das als den Dreh- und Angelpunkt ihrer internationalen Karriere ansehen, vermutlich wird es deswegen isoliert vorangestellt.

      Das „Zwischenspiel“ ist ihrem Vorbild Marian Anderson gewidmet, ebenso wie Norman eine anerkannte, afro-amerikanische Sängerin im klassisch-romantischen Fach und somit eine kulturelle Pionierin.

  2. @Mandy, das sagt eine junge Frau?! 🙂
    Nein, im Ernst: War letztes Jahr in Jena, da gab es zufällig eine Foto-Austellung zu Hundertjährigen. Wenn man sich erst mal dran gewöhnt hatte, daß die großformatigen Gesichter „gelitten“ haben, dann überraschte die Energie und Lebensfreude der gezeigten Menschen, Frauen wie Männer. Man fragte sich, wo kommt diese her und wieso ist sie nicht verlorengegangen?
    Das war für mich das Rätsel.
    Als Zeichner haben mich betagte Gesichter nach einer Phase von Portraits eher glatter Gesichter besonders interessiert. Ein sehr wertvolles Buch war für mich in diesem Zusammenhang „Jüdische Portraits“ von Herlinde Koelbl, das ich vor etwa 20 Jahren kaufte. Ich finde das Buch auch heute noch großartig.

    • @Gerhard: So jung bin ich gar nicht mehr und doch froh darüber!!! Das Älterwerden hat sehr viele Vorteile aber eben auch so einige Nachteile, denen wir so schwer ins Auge sehen können. Am besten irgendwann einfach den Spiegel abhängen :-). Ich mag allgemein sehr gerne ältere Gesichter, weil die einfach schon viel erzählen. Die Ausstellung war bestimmt sehr interessant.

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