André Postert ist promovierter Historiker und arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Hannah-Arendt-Institut in Dresden. Aktuell beschäftigt er sich mit Jugend und Hitlerjugend im Nationalsozialismus und hat dazu die umfangreiche Schrift „Hitlerjunge Schall“ bei dtv veröffentlicht. Es geht darin um die Tagebücher des bekennenden Nationalsozialisten Franz Albrecht Schall, einem thüringerischen jungen Mann aus gutbürgerlichem Hause, der zusammen mit seinen zwei Brüdern und gegen den erklärten Willen seiner Eltern starke Sympathien für die nationalsozialistische Bewegung entwickelt. 1925 wurde Schall Pfadfinder, 1930 trat er in die Hitlerjugend ein und 1932 wurde er Mitglied der NSDAP. Das Besondere an diesem Fall: Von 1928 bis 1935 führt der junge Abiturient, Lehrling und spätere Student akribisch Tagebuch über seine Erlebnisse und dokumentiert damit insbesondere seine persönliche, aber auch die gesellschafts-ideologische Entwicklung in Deutschland in der ersten Hälfte der 1930er Jahre. Nahezu täglich berichtet er von Ausflügen, HJ-Treffen, Kameradschaftsabenden, Kundgebungen, Parteitreffen und was diese Erlebnisse in ihm auslösten. So gewähren die Aufzeichnungen einen einzigartigen Blick in die ideologische Verblendung einer gebildeten und an sich liberal und tolerant erzogenen Einzelperson aus besserem Hause.
Schall hat seine Aufzeichnungen noch Ende der 1930er Jahre reingeschrieben und einem Professor des Psychologischen Instituts an der Universität Jena als Dokumente überlassen. Während die Originale in der Kriegszeit auf unbekannte Weise verloren gingen, blieben die Abschriften per Zufall erhalten und fanden nach einigen Zwischenstationen im Jahr 1966 den Weg zurück zu ihrem Urheber.
Der deutsche Geschichtsforscher Postert hat diese Aufzeichnungen gesichtet und sortiert. In seinem Buch ordnet er sie in den zeitgeschichtlichen Kontext, erklärt und bewertet einzelne Passagen und macht somit die Schrift für den Leser deutlich zugänglicher. In der Einleitung wird die Provenienz dargelegt, die Vorgeschichte der Hitlerjugend erklärt und der allgemeine Wert persönlicher Tagebücher als historische Dokumente reflektiert. Postert teilt die von den Tagebüchern abgedeckte Zeit in sechs sinnvolle Abschnitte und Entwicklungsphasen. Sie reichen von „junger Aktivist“ (1931), über „Parteigenosse“ (1932), über „Hitlerjunge in der Diktatur“ (1933), bis zu „sogenannter Erwachsener“ (1934) und „Student“ (1935).
Posterts Beitrag ist wertvoll, denn Schalls Schrift alleine ist auf Dauer zwar lebendig, doch letztlich auch arg repetitiv und wegen der ideologischen Färbung immer wieder zäh. Schall schreibt allerdings nüchtern und keinesfalls hetzend oder aggressiv. Der knallharte Widerspruch zwischen gesellschaftlichen Utopie und der allseits bekannten brutalen Wirklichkeit macht die erstmals veröffentlichte Niederschrift der Erlebnisse, so wie sie sich für ihn dargestellt haben, im kritischen Rückblick eben doch interessant.
Im letzten Abschnitt des Buches fasst Postert die weiteren Lebensstationen Schalls dankenswerterweise zusammen und so ergibt sich ein halbwegs geschlossenes Bild. Schall arbeitete in den späten 1930ern als anerkannter Lehrer in einer Adolf-Hitler-Schule, überlebte den Krieg größtenteils unbeschadet und arbeitete danach weiterhin als Werklehrer. Er starb im Jahr 2001 im hohen Alter von 88 Jahren. Bis zum Ende seines langen Lebens war Schall überzeugt, Teil einer Jugendbewegung mit hohen Idealen gewesen zu sein, die von dem Despoten Hitler und seinen Helfershelfern verraten wurde.
Fazit: Dicke Empfehlung für Leser, die authentische Einblicke in die persönliche Entwicklung eines überzeugten ideologischen Mitläufers des Nazi-Regimes nehmen wollen. André Postert hat dabei hervorragende Arbeit geleistet. Seine Kommentare sind präzise und auf den Punkt, nie unnötig ausschweifend oder betont akademisch. Schön, wenn wissenschaftliche Forschung einen so offensichtlichen Erkenntnisgewinn generiert.
Das gebundene Buch erscheint im dtv Verlag, hat 336 Seiten und kostet 24 Euro.
Vielen Dank für die Buchbesprechung und den Tipp für das Buch. Ich habe es mir bestellt und bin neugierig darauf.
@Schläbitz: Gern geschehen. In dieser Hinsicht auch sehr interessant, allerdings stärker vom Herausgeber/Autoren verdichtet sind die letzten beiden Bücher von Florian Huber „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ und „“hinter der Tür warten die Gespenster“, die beide ebenfalls auf Tagebuchaufzeichnungen und Notizen kleiner Leute beruhen.
Anders als politische Verlautbarungen und persönliche Schriften entwickeln diese nur persönlich motivierten Tagebucheinträge nochmal eine ganz eigene Unmittelbarkeit. Sie waren ursprünglich oft nur an den Autoren selbst oder das familiäres Umfeld gerichtet. Und man spürt, dass gnadenlos ehrlich und komplett ohne alle literarische Effekte geschrieben wurde.
Schall hat zum Ende seiner Schriften vermutlich schon geahnt, dass das über den persönlichen Wert hinaus auch für andere interessant werden könnte. Und hat sie dann folgerichtig auch einem Professor angeboten, der das Angebot dankbar annahm.
hallo, hier findet ihr eine durchaus kritischere rezension des buches, der ich voll und ganz zustimme:
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2018-1-155
beste grüße
@Herzliche willkommen auf diesem Blog und danke für den Hinweis.
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