Als Popmusikinteressierten begegnen einem über die Jahre und Jahrzehnte immer wieder Artikel und Listen in denen auf angeblich legendäre Alben hingewiesen wird, die man als Kenner gut finden und am besten in mehreren Medienformaten im Schrank stehen haben sollte. Ich habe auf diese Weise einige wirklich Klassiker für mich entdecken können, zum Teil auch aus musiksalischen Bereichen, die ich normalerweise selten bis gar nicht hör(t)e, so aber einen Zugang gefunden habe. Andererseits habe ich mir auch ohne mit der Wimper zu zucken etliche Alben gekauft mit denen ich auch nach mehrfachem Hören wirklich überhaupt nichts anfangen konnte. Bei „Pet Sounds“ der Beach Boys war ich jahrelang sogar felsenfest eine Fehlpressung zugestellt bekommen zu haben, weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dass diese primitive Songsammlung legendär sein soll, fängt schon vorm eigentlich hören beim Cover an, zur Musik sag ich mal lieber nichts, sonst ufert das aus. Nur so viel: Dass das von manchen Beobachtern auf gleiche Stufe mit epochalen Alben der Beatles gestellt wird, wird bis auf weiteres eines der ungeklärten Rätsel der Menschheit für mich bleiben.
Beim Durchforsten meiner CD- und iTunes-Sammlung als Vorbereitung für eine baldige DJ-Tätigkeit (Freitanz-Party im Studio 108) sind mir innerhalb einer Stunde gleich mehrere dieser Missempfehlungen und Fehlkäufe wiederbegegnet. Sie befinden sich alle in den oberen 50 Plätzen der „500 Greatest Albums“ des Rolling Stone, ich habe sie alle gekauft (und bezahlt!) und mehrfach komplett durchgehört (es liegt also nicht an einer etwaigen schwachen Tagesform als Hörer). Hier meine Top 5 der legendären Alben, mit denen ich nichts anfangen kann, the most overated albums:
1. „Pet Sounds“ von The Beach Boys (1966)
Anspielwarnung: „Sloop John B.“
2. „The Velvet Underground & Nico“ (1966)
3. „Bitches Brew“ von Miles Davis (1970)
4. „Dark Side of the Moon“ von Pink Floyd (1973)
5. „The Joshua Tree“ von U2 (1987)
Anspielwarnung: „I still haven’t found what I’m looking for“
Bei der Betrachtung dieser Liste fällt mir Folgendes auf: In der Zeit vor 1966 sind entweder nur wenig legendäre Alben entstanden oder sie werden ihrem Ruf gerecht. In der Zeit nach 1987 sind tatsächlich nur wenige legendäre Alben entstanden (siehe Liste des RS) bzw. haben sie noch nicht den entsprechenden Status erreicht (das setzt wohl ein gewisses Alter voraus). Meine Liste rahmt ziemlich präzise die Blütezeit des Medienformats LP-Album ein. Verhältnis zwischen GB und USA entspricht den geographischen Relationen, Eastcoast und Westcoast sind in etwa ausgeglichen. Europäer spielen im internationalen Geschäft kaum eine Rolle und wenn, dann keine legendäre. Und schließlich: Es befinden sich auffällig wenige, genaugenommen fast keine Frauen unter den überbewerteten Musikern (Nico ist keine Musikerin!). Was fällt euch noch auf? Schönes Wochenende!
..naja wie immer Geschmackssache!!! frag mehr Leute! Auch wenn ich dir bei 5. unbedingt zustimmen würde und die Anspielwarnung auf hoch setzen würde , aber wenn Tausende das kaufen und anders sehen ist das nun mal so; bei 3 und 4 widerspreche ich auf jeden Fall 1 und 2 finde ich persönlich auch überbewertet!
Veto zu 4 !! 😉
@Robbi: Was ist für dich bei 4 so besonders?
Ich hatte bei dem Album immer den Eindruck, dass halluzinogene Drogen dafür nicht nur eine interessante Möglichkeit, sondern eine dringend erforderliche Massnahme sind, um es als Hörer in voller Länge zu ertragen.
@Dennis du bist eben auch den Song geeicht! Alles was 3 min überschreitet nur mit Drogen erträglich?! zweifelhaftes Schema?!?!
@Bernhard: Ich habe beim Hören gar kein festes Schema. Frage mich gerade , woher du weisst worauf ich „geeicht“ bin. Ja, ich mag das für Popmusik typische Songformat, aber ich höre (und spiele) auch musikalische Großformen (Suiten, Variationszyklen, Symphonien). Dazu zähle ich auch das LP-Album, denn das sind im Grunde genommen Songzyklen (daher der Name Album), die auf eine Spielzeit von +/- 45 Min angelegt sind. Fast alle Popalben, die ich mag, sind genauso lang oder länger wie „Dark Side“ und funktionieren für mich ganz wunderbar.
Mit welchen legendären Alben kannst du nichts anfangen? Lass es uns wissen und über Geschmack streiten!
@Dennis weiss ich natürlich nicht! war ja reine Provokation und hat mal wieder funktioniert 🙂 ne im ernst, auf angebliche Legends gebe ich nichts ausser sie vielleicht als Anlass zur Auswahl zu nehmen, was manchmal ja auch funktioniert; auf Parties oder beim Tanzen ist es ja auch mal ganz gut zu Bekanntem (ob gut oder schlecht is dann fast egal ) gemeinsam Spass zu haben. Bspw zähle ich Cpt. Beefheart zu Legenden und damit können viele eben ma gar nichts anfangen; ich halte es da eher mit dem Spruch über Geschmack lässt sich nicht streiten oder eben ewig 🙂
So ist es auch beim Kino. Filme werden oft völlig unterschiedlich von Freunden bewertet. Gegenargumente gibt es nicht – besser man lässt es.
3,4,5 hatte ich schon irgendwann angehört, kann dazu aber nichts mehr aus der Erinnerung sagen.
@Gerhard: Dann haben 3, 4, 5 wohl auch bei dir keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.
Der Punkt ist, ich höre kein altes Material. Immer Neues, immer Frisches. Das ist auch vorurteilig, vorurteilhaft, mit Vorurteil behaftet, aber das neue Material liegt einfach aufmerksamkeitserheischend ständig und gehäuft um den CD-Player herum, das alte in Schubläden.
@Gerhard: Das ist vermutlich ein richtiger Ansatz: Die Vergangenheit hin und wieder mal ruhen lassen, dafür der Gegenwart und Zukunft Raum geben. Theoretisch habe ich das schon lange begriffen, praktisch bin ich auf halbem Weg hängen geblieben.
Andererseits lebt meine berufliche Tätigkeit auch von der reflektierten Kenntnis vergangener Stilausprägungen. Würde ich die nicht kennen und erklären können, wovon sollte ich meinen Schülern erzählen, worauf sollte ich ästhetisch und pädagogisch aufbauen? Freilich könnte ich sagen, alles offen, alles frei, macht was ihr wollt, aber dafür kommen die Leute nicht zu mir. Sie sind suchende, wollen erfahren, erkennen, lernen, motiviert und verbessert werden, abschauen, ausprobieren, ihren Idolen nacheifern, neu interpretieren, einen eigenen Weg finden. Da sind klassische Einspielung nicht der schlechteste Anknüpfungspunkt.
Zu 4.
War für uns damals (Damals klingt halt immer so weit weg) Die Scheibe schlechthin.
Ich hab die auch schon lange nicht mehr gehört.
Wish you were here ist immer noch ein Song den ich liebe.
Kannst du mir gerne mal im Unterricht zeigen. Auch wenn es für dich vielleicht zu trivial ist. Kein Muß!!
Bis denne
Mit etwas Verspätung eine Nachfrage. Du hast zwar Hörer Tages Form ausgeschlossen, hast aber natürlich nur den Dennis Schütze von 2017 als Wertungsperson.
Die Musik ist alle samt 30 Jahre und älter. Glaubst du nicht, dass es etwas anderes ist die Musik damals gehört zu haben? Dass der Dennis aus 2017 die gewachsene Begeisterung zu den Platten nicht verstehen kann, liegt vielleicht daran, dass er es nur aus 2017 begutachten „kann“. Auch wenn du schon früher die Musik gehört hast, hilft dir das nur bedingt bei deiner aktuellen Bewertung der Platten – oder nicht?
Und noch was zum Schluss. Sagt man nicht auch, dass die Reihenfolge in der man Musik entdeckt, massiv beeinflusst ob sie einem gefällt oder nicht? Vielleicht magst du U2 nicht, weil du schon Band xY kennst und magst und es für dich einfach nur nach einem billigen Abklatsch klingt?
@Simon: Ich wollte mit dem Artikel darauf hinweisen, dass man der vorherrschenden Meinung als Individuum auch mal widersprechen darf. Nichts läge mir ferner, als meinen persönlichen Geschmack zur Richtlinie für alle anderen machen zu wollen. Eine wahrlich furchtbare Vorstellung.
Interessant dein Gedanke, dass wir historische Musik rückblickend oft in willkürlicher Abfolge hören und deswegen nicht selten die Zusammenhänge verrutschen. Insbesondere ja auch, weil Spielarten ja nicht irgendwann aufhören, sondern – auch wenn sie nicht mehr neu und up to date sind – von Liebhabern und Epigonen weitergepflegt, manchmal sogar wiedererfunden werden werden (Bossa Nova, New Wave, Neo Punk, Retro Soul). Auch das Streaming trägt zu diesem Durcheinander bei, die Leute wissen immer seltener von wann oder wem ein bestimmter Track stammt. Das ist für mich als Hobbypophistoriker bedauerlich, führt aber zu vollkommen neuen Zusammenhängen, im digitalen Zeitalter oft auf algorithmischer Basis. Da war mir die gute alte Willkür, Zufall oder Glück/Pech deutlich lieber, da gibt’s immer wieder brutale Querschläger, die das eigene kleine Weltbild ins Wanken bringen können. Das gefällt mir!
Die Listen mit Hörempfehlungen finde ich deswegen immer wieder spannend, habe dadurch einiges entdeckt. Man darf sie nur nicht als verbindlich oder absolut nehmen. Dahinter stehen auch nur Menschen, die ihre persönlichen, kleinen Vorlieben rausposaunen.
In den Naturwissenschaften sagt man ja, dass die Erkenntnisse des Einen, die Arbeit des Anderen erst ermöglicht habe. Es gäbe ohne Newton wahrscheinlich keinen Heisenberg usw.
Das lässt sich in der Musik nur schwierig adaptieren. Gäbe es ohne Mozart die Beatles? Und wenn es sie gäbe, wäre Ihre Musik so wie Sie jetzt ist. Wahrscheinlich schon.
In der Kunst geht es leider (oder zum Glück) viel weiter als in der Naturwissenschaft. Was einen wie beeinflusst ist universell. Manche Musik mag ich einfach, weil ich sie mit besonderen Menschen oder Momenten verbinde.
Wenn nun Musikwissenschaftler – die in diesem Fall ja fast Historiker sind – sich die Mühe machen und versuchen eine Setzliste der „einflussreichsten Alben“ o.ä. zu verfassen, ist das im besten Fall gut gemeint. Es ist unmöglich das objektiv zu tun. Verkaufszahlen können keinen Aufschluss darüber geben, genauso wenig wie Chartplazierungen oder Verweildauern in den Charts.
Wären Bands der 70er Jahre heute ebenso erfolgreich wie damals? Mit der gleichen Musik sicher nicht.
Deine Intention sich von der herrschenden Meinung loszueisen ist absolut richtig. Ich halte es sogar für eine Notwendigkeit. Musik kennt meiner Meinung nach keine Wertungszahl.
Es ist schon witzig, dass niemand bei U2 widerspricht 🙂
Ich nehme mal U2 als Einstieg in die Dark Side Diskussion. Ich erinnere mich noch, dass ich bei der Scheibe damals ein ambivalentes Verhältnis dazu hatte. Alle sind drauf steil gegangen und irgendwie musste man die mögen, aber so ganz gezündet haben U2 bei mir nie, obwohl ich mich als Teenager nur allzu gerne dem Alternative-Mainstream angeschlossen hätte. (Ja, ich weiß, dass das Album deutlich vor meiner Teenager-Zeit auf dem Markt kam. Die „Alternativen“ in meiner Heimat waren immer etwas in der Vergangenheit verankert.)
Ich denke, Simon hat da durchaus einen wunden Punkt getroffen: Es ist erstens schwierig, heute darüber zu urteilen, welchen Einfluss ein Album damals hatte und man sollte sich immer der Subjektivität der eigenen Analyse bewusst sein. Oder anders ausgedrückt: Die Mehrheit kann ganz andere Ansichten haben (auch wenn sie damit trotzdem irren kann).
Außerdem würde mich mal interessieren, nach welchen Kriterien der Rolling Stone seine Top 500 aufgestellt hat. Verkaufszahlen? Besucher bei Konzerten? Anzahl Musiker, die sich auf ein Album als Einfluss berufen? Anzahl Bands, die versuchen, den Stil zu kopieren?
Vielen herzlichen Dank übrigens, dass ich jetzt einen Ohrwurm von der Anspielwarnung habe 😉
Jetzt zu Dark Side: Dein Beitrag hatte den sehr schönen Einfluss, dass er mich getriggert hat, mir dieses Stück Vinyl nochmal anzuhören. Mein ganz persönlicher Eindruck: Mir gefällt’s immer noch. Ohne Drogen und obwohl ich beim Erscheinen noch lange nicht lebte. Letzteres ist nur erwähnt, um einen Ich-War-Dabei-Bias auszuschließen. Ich würde allerdings zugeben, dass es nach meinem Geschmack nicht das beste Album von Pink Floyd ist. Atom Heart Mother, Division Bell udn Wish You Were Here würde ich in beliebiger Reihenfolge vorziehen. Aber das sagt ja nun nichts darüber aus, wie einflussreich die Platten waren. Ich könnte mir vorstellen, dass häufig auch schlicht die Platte einer Band am erfolgreichsten und einflussreichsten ist, die auf dem Zenit einer Band entstand. Dass es also eine Umkehrung von Ursache und Wirkung ist: Die Band erlebte nicht ihren Zenit, weil sie das wichtigste Album raus brachte, sondern sie brachte das wichtigste (aber nicht beste) Album raus, weil sie gerade den Zenit ihres Erfolgs erlebten.
Zu Pink Floyd könnte man im Übrigen generell noch anmerken, dass man den Stil schlicht mögen muss. Bei einigen Tracks der Dark Side Of The Moon ging mir auch das Wort „überkomponiert“ (sodenn es existiert) durch den Kopf. Einige Stellen sind so dicht, dass man das im Pop eigentlich nach heutigem Geschmack kaum mehr songdienlich nennen kann. Aber gerade deshalb ist Pink Floyd auch für mich nie Pop gewesen, sondern immer eine eigene Kategorie. So wie das Wort Progressive eine Band wie Dream Theater besser beschreibt als Metal.
Fazit: Das Album und den Stil muss man mögen. Die absoluten Zahlen betrachtend, mögen es sehr viele, denn es ist angeblich das zweithäufigst verkaufte Album der Welt. (laut wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_weltweit_meistverkauften_Musikalben) Die Liste der absoluten Zahlen finde ich an sich übrigens schon interessant. War der Soundtrack zum Film Bodyguard zum Beispiel wirklich so gut? Na ja, zumindest wahrscheinlich besser als der Film. Ob Dark Side deshalb einflussreich war, müsste wie weiter oben schon angerissen genauer untersucht werden und wir müssten uns meiner Ansicht nach vor allem auf eine geeignete Kenngröße für „Einfluss“ einigen. Und man müsste in die Originalveröffentlichung kucken und heraus bekommen, wie „great“ eigentlich vom Rolling Stone definiert war.
PS: Während des Schreibens hatte sich in meinem Kopf irgendwie verankert, dass es um die 500 einflussreichsten Alben ging und nicht um die „greatest“, deshalb ist einiges in diese Richtung geschrieben. Sorry.
@Sven: Danke für deinen interessanten Beitrag zur Diskussion.
Die Veröffentlichung des Rolling Stone zu den „Greatest Albums of all time“ gibt es meines Wissens in einer US- und einer deutschen Version. Zusammengestellt wurden sie von den jeweiligen Magazinautoren in einem nicht transparenten Verfahren. Mit ziemlicher Sicherheit nicht nach wissenschaftlichen Massstäben.
Aber was würde das auch bedeuten: Dass jeder Mitgestalter der Liste eine wissenschaftlich belegte persönliche Meinung beiträgt (die am Folgetag schon wieder eine andere sein kann)? Ich verstehe das als Momentaufnahme einer Einschätzung von popkulturgeschichtlich relevanten Albumveröffentlichungen, zusammengestellt von anerkannten Fachautoren. Nicht mehr und nicht weniger. Leider stammen die alle aus einem Verlagshaus und sind noch dazu vermutlich überwiegend weiß, männlich, bildungsbürgerlich sozialisiert und 40+. Aber das bin ich ja auch, also passt’s wieder.
In meiner Dissertation habe ich um die einflussreichsten Einspielungen der Rock and Roll-Ära einigermaßen nachvollziehbar herzuleiten Hörempfehlungen/Auswahldiskographien, Bestenlisten, Kompilierte Notenausgaben und kompilierte Tonträger zusammengetragen und daraus einen Querschnitt destilliert, den ich als Traditionsstrom (im Fluss!) der R&R-Gitarre bezeichnet habe. Diese Methode wurde akzeptiert und hat sich, wie ich finde, gut bewährt (etwas besseres ist mir zumindest nicht mehr eingefallen). So konnte ich die 40 meistgenannten Interpreten und 50 meistgenannten Einzeltitel ermitteln, die dann zum Ausgangspunkt der musikanalytischen Arbeit wurden.
Großes, großes Veto bei 1! Pet Sounds ist also eine „primitive Songsammlung“? Wie definierst du „primitiv“? Zwischen „überbewertet“ und „primitiv“ gibt es ja noch einen ziemlichen Unterschied.