Ari Folman ist Regisseur, Drehbuchautor und Filmproduzent und wurde als Sohn polnischer Holocaust- Überlebender in Haifa geboren. 2008 dreht er über eigene traumatische Erinnerungen aus dem Libanonkrieg (1982) den animierten Dokumentarfilm „Waltz with Bashir“, der als bester fremdsprachiger Film für den Oskar nominiert wurde. David Polonsky stammt aus Kiew und ist preisgekrönter Illustrator und Comiczeichner. Weltbekannt wurde er durch seine Arbeit für den o.g. Film und die gleichnamige Graphic Novel.
Gemeinsam haben die renommierten Künstler das literarische Vermächtnis von Anne Frank umfangreich und aufwändig als sogenanntes Graphic Diary aufgearbeitet. Anne Frank war ein jüdisches deutsches Mädchen, das 1934 mit seinen Eltern und Schwester Margot in die Niederlande auswanderte, um der Verfolgung durch die Nazis zu entgehen. Ab 1942 lebte die Familie in einem versteckten Hinterhaus in Amsterdam. Dort hielt Anne Frank bis zur Verhaftung und Deportation ihre Erlebnisse und Gedanken in einem Tagebuch fest, das nach dem Krieg als „Tagebuch der Anne Frank“ von ihrem Vater Otto Frank veröffentlicht wurde. Anne Frank gilt als jugendliche Symbolfigur gegen die Unmenschlichkeit des Völkermordes in der Zeit des Nationalsozialismus.
Folman und Polonsky haben sich also einiges vorgenommen und sind sich der Verantwortung und Tragweite dieses künstlerischen Projekts durchaus bewusst. Es ist ein gehöriges Unterfangen das historische Textdokument, das bereits vielfach in Theaterstücke, Filme, Hörspiele, Dichtung und Musik übertragen wurde, als künstlerisch anspruchsvolle Bildgeschichte neu zu interpretieren. Es ist nämlich gerade kein einfaches Comic, das hier entstanden ist. Die englische Bezeichnung Graphic Diary, abgeleitet von Graphic Novel, trifft es dagegen ziemlich gut, weil die Begriffe als Fachbegriffe für eine Kunstsparte etabliert sind.
Folman und Polonsky haben es sich weiß Gott nicht leicht gemacht. Offensichtlich gab es eine enge Zusammenarbeit zwischen ihnen und dem Anne Frank Fonds, der das Erbe seit dem Tod des Vaters verwaltet. Größte Aufgabe war es von vornherein die etwas 3500 Originalseiten zu straffen und erzählerisch zu verdichten. Faustregel war es 30 Seiten Originaltext in der graphischen Version auf 10 Seiten zu reduzieren, dabei wurden Einträge gebündelt um möglichst alle der vielfältigen Themen anzusprechen, die Anne beschäftigten. Die Einträge sind chronologisch angeordnet und unaufdringlich mit Daten versehen. Bei der graphischen Darstellung wurde wirklich mit allen Mitteln der zeichnerischen und erzählerischen Kunst operiert. Es ist farbenfroh, phantasievoll, bildstark und nicht zuletzt einfallsreich und sehr oft witzig. Man hat als Leser und Betrachter wirklich den Eindruck in die spezielle Welt einer intelligenten und impulsiven Jugendlichen eintauchen zu können. Es geht viel um das das praktische Zusammenleben in beengten und eigentlich absurden Wohnverhältnissen, um Essenversorgung, um Körperhygiene, um zwischenmenschliche Beziehungen. Selbstverständlich spielen auch gesellschaftliche und politische Geschehnisse eine wesentliche Rolle, aber auf eine ungewöhnlich spielerische Art. Einige zentrale Passagen wurden dann auch konsequent nicht illustriert, sondern als Textblöcke in Schriftform übernommen und wortgetreu zitiert. Das gibt Menschen punktuell die Gelegenheit die ursprüngliche Präsentationsform zu erleben.
Das Ergebnis ist ohne jede Einschränkung ein herausragendes Kunstwerk und erweist sich der symbolträchtigen Vorlage mehr als würdig. Die Aufarbeitung als Graphic Diary ist zeitgemäß und inspirierend. Darüber hinaus ist es ein willkommener Anlass sich den Texten der jungen Anne Frank zu nähern. Es ist nach wie vor faszinierend mit welcher Unvoreingenommenheit, Intelligenz und Weisheit die gerade mal 14-jährige uns von sich und ihrem besonderen Blick auf die Welt berichtet. Und große Erzählungen zeichnen sich eben genau dadurch aus, dass sie in verschiedenen Formen, Interpretationen und zu verschiedenen Zeiten ihre Kraft und ihr Potential behalten oder sogar noch steigern. „Das Tagebuch der Anne Frank“ als Graphic Diary ist ein wunderschöner Beweis dafür.
Das Buch erscheint bei Fischer, hat 160 Seiten und kostet glatte 20 €.