Buch: „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz

Ulrich Alexander Boschwitz wurde 1915 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns und einer Lübecker Senatorentochter geboren und erhielt eine streng protestantische Erziehung. Nach seinem Musterungsbefehl emigrierte er 1935 zuerst nach Schweden, weiter nach Norwegen, 1936 nach Frankreich, Luxemburg, Belgien und 1939 nach England. Sein erster Roman „Menschen neben dem Leben“ (1937) erschien unter dem Pseudonym John Grane in schwedischer Sprache, sein zweiter Roman „The man who took trains“ erschien 1939 in englischer Sprache in England, ein Jahr später unter dem Titel „The Fugitive“ in den USA. Boschwitz wurde nach Kriegsausbruch in England als „feindlicher Ausländer“ interniert und 1940 nach Australien verschifft. Dort verfasste er seinen dritten Roman. 1942 wurde das Schiff, auf dem er sich auf der Rückreise nach England befand, von einem deutschen U-Boot torpediert und ging unter. Boschwitz starb im Alter von 27 Jahren, sein letztes Manuskript sank wohl mit ihm.

Allein diese bewegte und bewegende Lebensgeschichte könnte Stoff für einen Roman oder Film liefern. Umso erstaunlicher ist es, dass bis 2018 keiner seiner beiden Romane jemals in deutscher Sprache erschienen ist. Der deutsche Herausgeber Peter Graf hat sich der Sache angenommen, das deutschsprachige Originaltyposkript im Deutschen Exilarchiv der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt ausfindig gemacht und sorgfältig überarbeitet. Bereits bei der ersten Inaugenscheinnahme hatte er sich von der hervorragenden literarischen Qualität des Manuskripts überzeugen können. Hinzu kommt noch die außergewöhnliche literaturhistorische Bedeutung dieser eigentlich viel zu spät erfolgten Archiventdeckung.

Hauptfigur des Romans ist der jüdische Kaufmann Otto Silbermann aus Berlin, Soldat des ersten Weltkriegs und angesehenes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, der im Zuge der Novemberpogrome des Jahres 1938 aus seiner Wohnung vertrieben und von seiner nicht-jüdischen Ehefrau getrennt wird. Von seinem nicht-jüdischen Geschäftspartner wird er finanziell übervorteilt und reist fortan mit einer Aktentasche voller Bargeld mit dem Zug innerhalb Norddeutschlands von Stadt zu Stadt. Zuerst um Geschäfte abzuschließen, Dinge zu regeln, nach dem Rechten zu sehen, im Verlauf wird das Zugfahren aber immer mehr zum Selbstzweck, weil er nirgends bleiben kann oder gewollt ist. Silbermann befindet sich auf der Flucht, verliert zuerst sein Hab und Gut, dann seine Würde und schließlich seinen Verstand. Die Zugfahrten sind hier eine Metapher für sinnlose Fortbewegung ohne wirklich von der Stelle zu kommen oder irgendetwas an der Situation ändern zu können. Silbermann macht unermüdlich weiter, kann aber keinem mehr vertrauen und gerät immer wieder in Gefahr als Jude erkannt und verhaftet zu werden.

Es ist schon erstaunlich mit welcher Präzision der damals noch relativ junge Boschwitz die gesellschaftspolitische Situation in Deutschland aus der Ferne erfasst und literarisch verarbeitet hat. Mit „Der Reisende“ befindet er sich auf einem literarischen Niveau mit Jakob Wassermann, Franz Kafka oder Thomas Mann. Es hat eine ganz besonders furchtbare Tragik, dass bei seinem Tod durch deutschen Beschuss auch gleich das einzige Manuskript seines dritten, bereits vollendeten Romans vernichtet wurde, der ihm – wie wir aus privater Korrespondenz wissen – sehr viel bedeutete.

Nun bleibt wenigsten die Hoffnung, dass der vorliegende Roman, wenn auch verspätet, seine volle Wirkung entfaltet und damit das gelingt, hat Peter Graf und der Verlag Klett-Cotta gverdeinstvolle Arbeitet geleistet. Vielleicht erscheint beim entsprechende Erfolg auch sein Debutroman erstmals in deutscher Übersetzung. Das wäre eine erfreuliche Folge dieser kleinen Sensation.

Fazit: Eine spektakuläre Entdeckung in deutschsprachiger Erstveröffentlichung und ein gewichtiges Stück deutscher Literaturgeschichte. Hat das Zeug zum modernen Klassiker und gehört auf die Lektürelisten von Gymnasien, Hochschulen und Universitäten.

Das Buch erscheint bei Klett-Cotta, hat 304 Seiten und kostet gebunden 20 €.

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