Sommer der Schmerzen (KW35/2018)

Schon im Juni und Juli hatte ich latenten Druck im linken Oberkiefer gespürt, aber die Zahnärztin konnte nicht mal auf dem Röntgenbild was finden. Ich redete mir ein, dass das vielleicht mit der trockenen Hitze und einem persönlichen kleinen Durchhänger zu tun haben könnte. Anfang August wurde es dann schlimmer, der Druck wandelte sich zum dauerhaften Schmerz und Ibuprofen wurden zu meinem ständigen Begleiter. Pünktlich im Urlaub dann stechend-pulsierende Schmerzen, wie ich sie noch nie verspürt hatte. In der Nacht meiner Rückkehr habe ich trotz hoher Schmerzmitteldosis kein Auge zugemacht, Samstag zum zahnärztlichem Wochenenddienst, auch der war erstmal ratlos. Mit Antibiotikum und Schmerzmitteln konnte ich wenigstens das umfangreiche, musikalische Engagement am selben Nachmittag/Abend einigermaßen durchhalten. In der Woche darauf, bei einem erneuten Zahnarztbesuch dann Wurzelbehandlung, das war heftig, aber sorgte zügig für Entlastung. Ich war dankbar für eine andere Variante des Schmerzes, der sich aber bald verzog. Danach eine Woche Ruhe. Es war die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm.

Eine schöne Woche, Schmerz und Sommer klingen aus. Am Fr mit dem Rad in die Stadt, kleiner Kick mit den Jungs auf dem Hartplatz am Sanderrasen. Ich spiele mit 10- und 12-jährigen, betont locker, es war ein heißer Tag. Der Ball verspringt, ich renne schnell hinterher, weil der Platz so weitläufig ist, hüpfe in einer 180°-Wendung über den Ball, als mein Bein den Boden berührt, sehe ich bereits, dass sich die Schuhsohle auf dem trockenen Hartplatz nicht mitdreht, stattdessen dreht das Knie in einem unnatürlichen Twist. Ich falle zu Boden und verspüre einen unfassbaren Schmerz, der mich fast ohnmächtig werden lässt. Zu allem Überfluss rufen die Kinder um mich herum „Neymar, Neymar!“, der Sturz sah anscheinend harmlos aus und sie glauben, ich würde nur den Verletzten mimen. Von der Seitenlinie kommt mir ein nordafrikanischer Flüchtling zu Hilfe, der bis dahin nur auf seinem Smartphone herumgedrückt hatte. Ich lege einen Arm auf seine Schulter und zusammen schaffe wir es bis an den Spielfeldrand. Dort sitze ich erstmal, die Kinder spielen unbeschwert weiter.

Später schleppe ich mich zur Notaufnahme des Juliusspitals. Nach dem Röntgen ist klar, kein Knochenbruch, wahrscheinlich irgendwas mit den Bändern, MRT erst am Montag möglich, mit einer Bandage und Krücken werde ich nach Hause entlassen. Über Nacht schwillt mein rechtes Knie zu einem Umfang auf, wie ich es nicht für möglich gehalten hätte. Es ist ca. doppelt so dick wie das linke. Die Nacht ist anstrengend, in den frühen Morgenstunden falle ich in einen unruhigen Schlaf. Morgens versuche ich mit den Krücken aufzustehen, mir ist abwechselnd heiß und kalt, als ich stehe, wird mir schwindelig, ich verspüre Schmerzen, dann wird mir schwarz vor Augen und ich wache eine Weile später am Boden liegend wieder auf. Neben mir ist ein Stuhl umgefallen, an dem ich mich anscheinend festhalten wollte, ich kann mich aber nicht daran erinnern. Ich versuche ein zweites Mal aufzustehen und wache kurz danach erneut ein paar Meter weiter auf dem Boden wieder auf. Beim dritten Mal schaffe ich es zurück auf’s Bett und rufe nach Hilfe.

Wie sich nach einem unschönen Wochenende am Montag beim Besuch eines Orthopäden herausstellt, gibt es einen starken Verdacht auf Kreuzbandriss, der sich am Di nach der Auswertung des MRT bestätigt. Ich werde noch montags punktiert, d.h. der Arzt sticht ohne Betäubung 3-4 in mein Knie und zieht eine trübe rot-graue Flüssigkeit heraus. Das tut furchtbar weh, sorgt aber unmittelbar danach für spürbare Erleichterung, weil es den Druck nimmt. Nachmittags schlafe ich 1-2h, abends steht ein kurzer Auftritt auf einem Schiff an.

Mit Unterstützung von Familie, Kollegen und Schmerzmitteln, schaffe ich es auf’s Schiff, alles ganz langsam. Wir spielen für eine 70+-Gesellschaft, die sich aus Kreuzfahrtteilnehmern aus USA, Australien und Neuseeland zusammensetzt. Sie haben größtes Verständnis für mein Handicap. Ich habe sogar den Eindruck sie sind beruhigt, dass auch Angehörige der nächsten Generation körperliche Beschwerden haben. Alles easy, alles cool, ich sitze beim spielen, geht besser als ich dachte. Meine Mitmusiker machen Späße, z.B. dass ich beim nächsten Mal mit Holzbein, Augenklappe und Papagei auf der Schulter kommen soll, das würde dann noch authentischer wirken, haha.

Nachdem das geschafft ist, verbringe ich den Rest der Woche im Bett und auf der Couch, telefoniere und erörtere meine Optionen und Perspektiven. Sieht so aus, als ob mich das Thema noch Monate beschäftigen wird. Erstmal muss die Schwellung abklingen, irgendwann wahrscheinlich OP, danach geht’s nochmal bei Null los, eine Woche Krankenhaus, danach 4-6 Wochen Krücken, Beschwerden, Physio, langsamer Muskelaufbau, tolle Aussichten, der Sommer ist vorbei, die Schmerzen nicht.

Ich überlege mir, wie ich die Zeit sinnvoll nutzen kann. Viel lesen, viel schreiben, ich kann Klavier und Gitarre spielen, unterrichten (also arbeiten und Geld verdienen) ist kein Problem. Haus verlassen, Treppen steigen, Autofahren, Dinge tragen ist sehr mühsam, da brauche ich Hilfe und viel mehr Zeit, weil ich alles erst vorbereiten und erklären muss. Abwechselnd bin ich verärgert und niedergeschlagen, dass mir sowas und dann auch noch bei einer so einer läppischen Aktion passieren musste. Andererseits könnte es auch wesentlich schlimmer sein, ich hätte mir Arm, Hand oder Finger verletzen können, das wäre eine noch viel größere Beeinträchtigung und de facto existenzgefährdend. Bis jetzt war ich von wirklich einschneidenden Erkrankungen und Verletzungen weitgehend verschont geblieben. Muss jetzt nur aufpassen, dass mir nicht die Decke auf dem Kopf fällt, versuche mir meine gute Laune zu bewahren, aktiv zu bleiben, weniger zu essen, damit ich wegen der mangelnden Bewegung nicht Gewicht zunehme, muss körperliche Bewegung durchdenken, Aktionen planen etc. Um Kontakt zu halten werde ich mehr telefonieren und Freunde einladen, sonst vereinsame ich hier noch, ist bereits nach ein paar Tagen spürbar.

Sobald die Schule anfängt, habe ich wieder mehr zeitliche Spielräume, weil die Kinder untergebracht sind, vielleicht komme ich durch meine Immobilität sogar schneller mit meiner Eigenproduktion voran, mal sehen. Spiele jedenfalls bereits täglich viel Klavier. Da kann ich mich, wenn mir langweilig ist, einfach hinsetzen und losklimpern, das habe ich vorher nur gemacht, wenn es einen konkreten Anlass gab.

Habe allerdings auch schmerzlich erkennen müssen, dass mein Körper, also ich, alt wird. Muss Bewegungsmuster und Prioritäten anpassen, vor allem langsamer und vielleicht auch weniger machen. Bei dem Gedanken erfasst mich eine gewisse Angst und Panik. Hatte bis jetzt eigentlich gedacht, dass ich verhältnismäßig kraftvoll, fähig und willig bin. Aber der Zahn der Zeit nagt auch an mir. Es gibt, wenn ich die nächsten Monate überstanden habe, kein weiter so. Dieser Sommer war ein erster, gehöriger Schuss vor den Bug. Ich bin jetzt offiziell ein alter Mann.

9 Gedanken zu „Sommer der Schmerzen (KW35/2018)

  1. Ein alter Mann bist Du nicht.
    Ich hatte ja unlängst beim Überklettern eines Tores gemerkt, daß ich bestimmte Dinge nicht mehr aus dem FF kann.
    Nun bin ich 64, das ist ein gutes Stück älter als Du.

    In meinem Bekanntenkreis passieren solche Dinge wie Dir auch Leuten in Deinem Alter.
    Was kann ich Dir raten? Das beste daraus machen und nicht aufgeben. Du bist ja ein harter Hund.
    Ich denke immer an Nils Frahm mit seinem Album 9 Fingers. Der verletzte sich ja den Daumen schwer.
    Das Ganze wird sich lange hinziehen, das ist nun mal so.
    Ich hatte mal eine 15-monatige Depression, ziemlich genau in deinem Alter – das war auch nicht fein.

  2. Too old to rock n roll but too young to die harhar – kopp hoch und durch, geht auch vorbei znd aus eigener Erfahrung – wie du weisst – es gibt schlimmeres….

  3. Hey Dennis,

    wir hatten ja ein ausführliches Telefonat schon und als alter Kreuzbandriss-Kollege kann ich nur wiederholend sagen: Ja, ist shit. Ja, macht keinen Spaß. Aber Nein, ist kein Weltuntergang.

    Eine kleine (nicht ganz ernst gemeinte) Anregung von mir noch. Du hast doch 4 Kinder. Das ist die perfekte Anzahl für eine Sänfte… nur so ein Gedanke 😉

    • @Robbie: Von dick und dumm war keine Rede, das hast du dazu gedichtet. Aber im Ernst: Geht von Tag zu Tag besser. Wenn dann alles wieder läuft, kommt die OP und es geht wieder von vorne los. Also so, wie im richtigen Leben.

      PS: Nur weil du älter bist und dich besser g’halten hast, bin ich nicht mehr jung. Und: In meinem Alter waren Hendrix und Cobain schon jahrelang tot.

  4. Die Sache mit dem Älterwerden holt natürlich jeden ein, aber für jeden, der das wie auch immer zu spüren bekommt, ist das trotzdem eine eigentümliche Erkenntnis, mit der erst einmal umzugehen gelernt werden muss.

    Ich selbst bin bis vor drei Jahren noch Marathon gelaufen und habe mich, wie in den Jahren zuvor, über meine Zeiten, die zwischen 3Std.10min und 3Std.20 bewegten, gefreut.

    Dann war – beinahe von heute auf morgen – damit Schluss. Mein Körper wollte so lange Strecken einfach nicht mehr laufen. Heute laufe ich so für mich pro Trainingseinheit maximal 10km (etwa 4x die Woche). Vor ein paar Jahren hätte ich mich gefragt, ob es sich für 10km überhaupt lohnt, die Schuhe anzuziehen. Überdies laufe ich die in Zeiten, die ich vor ein paar mit Spazierengehen gleichgesetzt hätte.

    Da mir mein Leistungseinbruch unerklärlich damals war, folgten diverse Arztbesuche, die dankenswerterweise alle bescheinigten, dass ich gesund sei. Endlich ein Arzt, der mir sagte: „Herr Schläbitz, Sie werden bald 60, schon mal überlegt, dass sie so eine Art Altersschub bekommen haben. Bei manchen geht die Leistung schleichend verloren, bei anderen eher in Stufen.“

    Eine solche Stufe abwärts hat mich wohl erwischt. Schleichend wäre mir lieber gewesen. Dem Laufen bleibe ich zwar weiterhin treu, aber der Marathon, den ich so liebte, auch das Training dazu mit seinen langen Läufen und dem harten Intervalltraining, ist leider Geschichte.
    Ich besinne mich seitdem wieder mehr des aktiven Musizierens.
    Das hilft oder hat mir geholfen, diese Erkenntnis des Alterns in etwa anzunehmen, zu sublimieren.

    ZUM GLÜCK GIBT ES DIE MUSIK !!! – Da gibt es, glaube ich, auch keine wirkliche Altersgrenze 😉

  5. Ich geb jetzt die Altkluge: Krisen gehören zum Leben. Aus Situationen die einem seelisch und/oder körperlich einiges abverlangen, das Beste zu machen, klingt banal, ist aber so, denn das ist eine Kunst! Eine Chance einen anderen, neuen Blick auf die so selbstverständlichen, gewöhnlichen Dinge im Alltag zu werfen. Die Zeit und immer wieder ist natürlich die Zeit das Thema. Vergangene Zeit, das Alter, Zeit, die man füllen muss mit einem Handicap, die Zeit, die man noch vor sich hat usw. usw. Ich bin davon überzeugt, dass die Krise/Krankheit, sei sie nun körperlich oder seelisch oder psychosomatisch, ein Lehrer sein kann. Was ist wirklich wichtig? So, dass war das Wort zum Sonntag

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