Shirati: Soundscape 24h

Klangprotokoll, 24./25.08.2019: Shirati, Owen Hotel, 2. Stock, Zimmer 15

Gegen Mittag (12.00) erklingt von der anderen Straßenseite zum ersten Mal ein gospelartiges Vokalstück mit Kinder- und Erwachsenenstimmen (drei Akkorde, einfacher Harmoniegesang). Das Stück ist offensichtlich die Wiedergabe einer Aufnahme, denn nach dem ersten Mal wird es nochmal und dann immer wieder und wieder von vorne gespielt. Manchmal wird eine kleine Pause gemacht, dann fängt alles wieder von vorne. Das geht so weiter für die nächsten 5-6 Stunden, es sind grob geschätzt 50-60 Gesamtdurchläufe. Der Klangvolumen ist laut, klingt nach großer Anlage, ist aber schwer zu orten. Nach ca. 3h versuche ich die Klangquelle zu finden, überquere die Straße, laufe zwischen die Hütten in das einfache Wohnviertel, Ziegen kreuzen meinen Weg, Kinder linsen aus den Türen und Fenstern, kichern, als sie mich erblicken. Ich treffe auf einen Bolzplatz, Kinder im Grundschulalter kicken einen Ball aus zusammengewickelten Stofffetzen hin und her. Der Klang kommt aus den Gebäuden dahinter, ich gehe nicht mehr weiter, drehe um. Ein Bewohner sagt mir, der Klang käme aus einer nahegelegenen Kirche. Ich kann nicht glauben, dass niemand anders in der Nachbarschaft sich über die sehr laute, ewige Wiederholung des gleichen Liedes wundert, dann gehe ich zurück ins Hotel.

Gleichzeitig läuft im Hotelfoyer die ganze Zeit ein Fernseher mit tansanischen Musikvideos in Dauerschleife. Man kann den Klang den ganzen Nachmittag bis in den späten Abend verwaschen im Treppenhaus erkennen. Musikalische Zusammenhänge (Beats, Harmonien, Melodien) verschwimmen, sind im Hotelzimmer nicht näher zu erkennen. Als ich auf dem Weg zur anderen Straßenseite nach unten komme steht die Rezeptionistin versunken vor dem Monitor und tanzt zur Musik eines Videos. Sie bemerkt mich nicht.

Wiederum gleichzeitig erklingt eine Klangkollage aus zwei benachbarten Straßenbuden, ca. 50m auf der rechten Seite gegenüber. Einer davon ist der „Jesus is Lord Hair Cuting Salon“. Wenn keine Kundschaft da ist (also ständig), betätigt sich der Frisör als DJ und beschallt mit seinem PC und einem alten Poweramp die Straße mit zeitgenössischer tansanischer Popmusik z.B. Bongo Flava (aktueller Musikstil aus der Metropole Dar es Salaam). Der Nachbarladen (direkt daneben) spielt, ebenfalls über eine Anlage die zur Straße ausgerichtet ist, einen regionalen Radiosender mit hohem Werbeanteil.

In der Summe der vier Klangquellen (Gospelsong, Musikvideo, Bongo Flava, Radiosender) steht der Gospelsong eindeutig im Vordergrund, ist dominant wegen der Lautstärke, aber auch durch die dauerhafte Wiederholung.

8.30-21.00 Protokollant bei Abendessen auswärts

Bei unserer Rückkehr (21.00) haben die beiden Läden geschlossen und daher die Beschallung der Nachbarschaft eingestellt. Der Gospelsongs erklingt immer noch, ab 22.00 jedoch wird die Übertragung unterbrochen, stattdessen erklingt jetzt aus derselben Richtung eine Außenübertragung eines spätabendlichen Gottesdienstes. Da er auf Kisuaheli abgehalten wird kann der Protokollant den Inhalt nicht verstehen, die Art des Vortrags weist aber deutlich in diese Richtung: Gebete, Predigten, Gesänge, allerdings deutlich energetischer als in Deutschland üblich. Die verschiedenen Redner sprechen, schimpfen, rufen, schreien, brüllen, krächzen, flehen und singen in ein verzerrtes Mikrofon, immer wieder hört man auch off-Mike die Gemeinde enthusiastisch reinrufen, johlen, applaudieren, dazu Musikplaybacks mit billigen Synthiesounds. Die Übertragung geht bis nach 24.00, wird hin und wieder von hupenden Autos und Mofas von der Straße untermalt, ich döse zuerst, falle dann in einen Halbschlaf, irgendwann hört der Lärm auf und ich sinke in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

1.00-5.00 Protokollant schläft

Gegen 5.00 früh beginnt ein Hund zu bellen, Nachbarhunde schließen sich an, innerhalb weniger Minuten scheinen alle Hunde der Ortschaft Shirati aufgewacht und mit eingestiegen zu sein. Das Heulen, Bellen, Knurren und Winseln kommt von allen Seiten, nah und weit, lang und breit. Es sind schätzungsweise 10-20 Tiere beteiligt, etwa die Größe eines Rudels Kojoten. Die Dynamik des Gesamtgeräusches kommt wellenartig, steigt an, ebbt wieder ab usw. manchmal ist es nur noch ein Hund, dann steigen die anderen wieder ein, nach ca. 20 Min ist der Spuk vorbei.

Um 5:26 kommen neue Gäste ins Hotel. Man hört sie schon von weitem auf das Hotel zukommen, Türen werden aufgerissen und zugeschlagen, die Unterhaltung ist sehr laut, fast auf Brüllniveau (Bierzelt), evtl. sind die männlichen Gäste angetrunken. Nach ca. 10 Min trete ich in Boxershorts und nacktem Oberkörper in den Flur und bitte ebenso lautstark um Ruhe. Die Männer reagieren überrascht, damit hatten sie wohl nicht gerechnet, danach ist es etwas besser, sie duschen noch, kurz danach schnarchen sie in ihrem Betten.

Beim Versuch noch einmal einzuschlafen melden sich ziemlich pünktlich um 6.00 die Gockel der Ortschaft mit seriellem Kikeriki zu Wort, immer einzeln, insgesamt sanfter als die Hunde und die Besoffenen, aber kein guter Sound um wieder zurück in den Schlaf zu finden.

Ab Sonntagmorgen (6.30) beginnt langsam wieder das reguläre Alltagsleben in der Hauptstraße. Autos und Mopeds fahren hupend an Fahrradfahrern und Fußgängern vorbei, Passanten rufen, begrüßen und unterhalten sich lautstark.

Ich sinke in einen leichten Schlaf, um 7.00 werde ich sanft von dem Gospelsong vom Vortag geweckt. Er läuft wieder den ganzen Vormittag. Der Kreis hat sich geschlossen, oder ist es ein Spirale?

2 Gedanken zu „Shirati: Soundscape 24h

  1. Da fällt mir glatt der Titel eines Gospels ein, bei dem ich vor „Jahrtausenden“ mal mitgeträllert hab „Oh happy Day“ oder in dem Fall wohl eher Oh happy night 😉

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