Am Montag waren wir nach dem Abendessen zum Abschied bei Dr. Glen Brubacker eingeladen. Es kommen in Shirati so selten auswärtige Besucher vorbei, dass man sich nach seiner Ankunft wie selbstverständlich bei den Honorationen des Orts vorstellt und vor der Abreise auch wieder verabschiedet. Brubacker empfing uns in seinem Bungalow, bot Mandarinen, Zartbitterschokolade und Instantkaffee an und wir tauschten uns aus. In seinen 30 Lebensjahren in Shirati hat er viel erlebt und etliche Entwicklungen aktiv begleitet. Er erzählte uns von seinen Erfahrungen und den Veränderungen der Lebensumstände, so wie er sie erlebt hat. Das Hospital und die medizinische Versorgung spielen dabei eine tragende Rolle, Projekte werden von ausländischen Initiativen und Organisationen (z.B. DAHW) angestoßen und teilfinanziert. Auf diese Weise wurde über Jahre und Jahrzehnte hinweg ein wichtiger Beitrag dazu geleistet betroffenen Menschen und deren Familien ihr Leben zu erleichtern. Später stieß noch Dr. Bwire Chirangi zu unserer Runde, bedankte sich persönlich für die Hilfe aus Deutschland und verabschiedete sich in aller Form. Wir waren vom selbstlosen Engagement der beiden tief beeindruckt.
Am Dienstag packten wir unsere Sachen und checkten aus dem Hotel aus, denn es ging weiter zu unserer nächsten Station. Vor der Abfahrt noch ein kurzer Stopp beim Hospital. Wir verabschiedeten uns von Tumaini, der in den letzten Tagen ganz nebenbei einige technische Probleme für uns gelöst hatte. Dann wurde ein Dreirad mit großen Reifen auf das Dach unseres Geländewagens geladen, wir würden es weiter zu unserer nächsten Station transportieren. Kurz vor der Abfahrt wurde noch der Reverent mit seinem Wagen in den Hof geschleppt. Sein Auto war irgendwo stehen geblieben, aber seine gute Laune wurde davon nicht beeinträchtig. Er erkundigte sich nach unserem Befinden und erklärte uns noch warum die Menschen Afrika im Gottesdienst so laut und in Europa so leise wären: Gott ist in Europa, deswegen müssten die Afrikaner so laut rufen, beten, tanzen und singen. Na klar, das ergab natürlich einen Sinn! Wir verabschiedeten uns voneinander, er betete mit uns für eine sichere Reise und mit Gottes Segen fuhren wir los.
Die Fahrt führte 3-4h über rumpelige Pisten, unser Fahrer nahm aber Rücksicht auf unsere Bitte und fuhr ein klein wenig langsamer, als noch zu Beginn unserer Reise. Gut durchgeschüttelt kamen wir am Nachmittag in Musoma an, nahmen einen kleinen Snack in einer Art öffentlicher Kantine (R&B), dann fuhr die Mannschaft weiter zum ersten Besuch der zweiten Schule, ich verblieb in der Kantine, lud Akkus, sichtete Fotos und schrieb an Blogartikeln.
Am Mittwoch ging es frühmorgens los (Frühstück 6:30), dann folgte eine knapp einstündige Fahrt in das Musoma Rural Gebiet zur zweiten Grundschule. Wir kamen mit etwas Verspätung an, wieder wurden wir von vielen Kindern empfangen, diesmal wurde die Schule von einer Frau geleitet, die einen etwas aufgeklärten Ansatz pflegte. Sie erklärte uns, der Einsatz von Ruten würde die Kinder verängstigen, deswegen würde sie selbst darauf verzichten, gut so. Zusammen mit der Direktorin liefen wir zur Hütte von zwei Kindern mit körperlicher Beeinträchtigung. Leokadia (13 Jahre) und Magai (15 Jahre) sind keine Geschwister, aber sie leben zusammen bei einer alten Frau, die in der Region als traditionelle Heilerin arbeitet. Auf ihre spezielle Weise ist sie Ansprechpartnerin für viele Bereiche, sie ist Heilpraktikerin, Apothekerin, Hebamme, Physiotherapeutin, Kinderbetreuerin etc. Als wir bei der Hütte ankommen, sind mehrere Frauen mit ihren kleinen Kindern anwesend und bitten um ihren Rat. Einige Meter abseits der Hütte ist ein kleines, etwa dreijähriges Kind bis zu unter die Achseln im sandigen Boden eingegraben. Wir erfahren, dass dies eine Maßnahme ist um das beeinträchtige Mädchen, das bisher, aufgrund einer Fehlstellung, nur gekrabbelt ist, senkrecht auf die Füße zu stellen und Muskeln, Sehnen und Nerven an eine natürliche Körperhaltung zu gewöhnen. Täglich vormittags, von Sonnenaufgang bis gegen Mittag, wenn die Sonne zu heiß wird, wird diese ungewöhnliche Maßnahme praktiziert und das für einen Monat, also ganze 30 Tage. Das ist für unser Empfinden schwer zu fassen. Uns wird erklärt, dass es gemessen an den Umständen und Möglichkeiten in dieser abseitigen Gegend oft ein relativ wirksames Mittel ist. Das Kind selbst scheint während unserer Anwesenheit nicht zu leiden. Wir wenden uns wieder den Pflegekindern der Heilerin zu.
Das Mädchen Leokadia hat bereits vor langer Zeit beide Eltern verloren, ist lose mit der Heilerin verwandt und wurde deswegen von ihr aufgenommen und versorgt. Eine unbehandelte, vereiterte Mittelohrentzündung führte bei ihr zu starken Beschwerden, teilweisem Verlust des Hörvermögens und zusätzlich noch zu starker Geruchsentwicklung. Sie hatte unter chronischen Schmerzen und sozialer Ausgrenzung zu leiden. Erst in diesem Frühjahr wurde sie durch einen Hinweis der Bevölkerung entdeckt. Ihr Leiden konnte durch eine Behandlung mit Antibiotika rasch behoben werden, allerdings hatte ihr Hörapparat bereits einen irreparablen Schaden erlitten. Mittlerweile ist Leokadia mit einen angepassten Hörgerät versorgt und kann wieder planmäßig am Schulunterricht teilnehmen.
Der Junge Magai ist an den unteren und oberen Extremitäten vollständig bzw. teilweise gelähmt. Im Alter von ca. vier Jahren wurde er von seiner Mutter, die nicht aus der Gegend stammt, zur Heilerin gebracht. Am nächsten Tag war sie verschwunden und tauchte seitdem nie wieder auf. Magai verbrachte die letzten zehn Jahre fast bewegungsunfähig in und um die Hütte der Heilerin, die ihn gezwungenermaßen aufnahm und versorgte. Weil ihm bis vor kurzem noch keinerlei Hilfsmittel zur Verfügung standen, war sein Leben sehr beschwerlich, eine soziale Teilnahme nahezu unmöglich. Zur eigentlich nahegelegenen Schule (ca. 500m) geht er seit Jahresbeginn, musste aber monatelang buchstäblich 2h hin- und 2h zurück auf dem Lehmboden robben, bis er im Mai, im Alter von 15 Jahren, endlich erstmals einen einfachen Rollstuhl bekam. Seitdem hat sich sein Aktionsradius erweitert, er kommt mit der Hilfe von Freunden täglich zur Schule und zurück, kann am Unterricht der unteren Klassen teilnehmen um den versäumten Schulstoff nachzuholen. Im Gespräch ist Magai freundlich und offen, wirkt wach und geistig nicht beeinträchtigt. Er betont mehrfach wie dankbar er für den Rollstuhl ist. Als wir ihn nach einem Wunsch fragen, sagt er, er würde gerne seine Mutter wiedersehen, weiß aber nicht, ob sie ihn nicht weiterhin ablehnen würde. Am Ende des Gesprächs hat er noch einen weiteren Wunsch: Er hätte gerne eine Matratze, denn solange er sich erinnern kann, schläft er auf einer einfachen Strohmatte auf dem harten Lehmboden der Hütte der alten Frau. Unsere Reiseführerin Grace reagiert sofort und bezahlt eine Matratze zur baldigen Lieferung aus eigener Tasche. Ein schriftlicher Antrag würde sich erfahrungsgemäß hinziehen und eine Lieferung ewig dauern.
Wir machen einige Fotos und begleiten Leokadia und Magai auf ihrem Weg in die Schule. Leokadia suchte die Nähe zu mir, trägt mein zusammengeklapptes Fotostativ, führt mich stolz an der Hand. Sie macht einen kleinen Umweg mit uns, direkt zur Hauptstraße, wo alle Dorfbewohner uns sehen können. Wir werden von allen Seiten betrachtet und gegrüßt. In der Schule angekommen weicht Leokadia nicht mehr von meiner Seite. Sie hat meine Sonnenbrille auf der Nase, darf die Abdeckung von der Kameralinse nehmen und wieder drauf stecken, eine kleine Sequenz drehen. Es scheint ein wichtiger Moment für sie zu sein, sie kann ihren Mitschülern zeigen, dass sie vollkommen von uns akzeptiert ist. Immer wieder nimmt sie Kontakt auf, spricht, singt, lacht, es ist eine wahre Freude sie so glücklich zu sehen, wenn man weiß, was sie hinter sich hat. Auch ihr Pflegebruder Magai ist zufrieden. Im Vergleich zu seinen Mitschülern ist er deutlich älter, er wirkt jedoch milde, versöhnlich und entspannt. Auch er genießt die Aufmerksamkeit, helfende Freunde stehen an seiner Seite, er scherzt und lacht mit ihnen. In den kommenden Wochen und Monaten soll eine einfache und praktikable Lösung für seinen Toilettengang gefunden werden, wahrscheinlich wird ein mobiles Hilfsgerät angefertigt. Einiges ist für ihn besser geworden, endlich kann er in der Schule nun grundlegende Kompetenzen erwerben.
Christof beginnt mit einer Gruppe Grundschulkinder sein Musikprogramm im Schatten eines großen Baumes. Auch Leokadia und Magai sind mit von der Partie. Danach führen wir die Einzelinterviews durch. Leo und Magai sind sehr gesprächsfreudig und mitteilsam, viele der anderen Kinder dagegen sehr zurückhaltend, manche sagen gar nichts.
Dann kommt eine Gesangsgruppe und wir machen Aufnahmen von 4-5 Kinderliedern. Eines davon ist die Melodie des deutschen Kinderliedes „Ein Männlein steht im Walde“ kombiniert mit einem melodischen Ausschnitt von „Summ, summ, summ“, Text natürlich in der Landessprache. Die musikalische Parallele ist so offensichtlich: Besteht etwa ein historischer Zusammenhang zwischen dem tansanischen und den deutschen Kinderliedern? Können wir hier leider nicht klären, aber wir bleiben dran. Die Lieder werden wieder mit einfachen Trommeln begleitet, dazu wird getanzt. Call & Response: Die Direktorin singt mit ihrer charaktervollen Stimme voraus, die Kindern antworten, bzw. wiederholen die Passage. Etwas weniger Tanz und Bewegung, dafür mehr Melodie im Vergleich zur ersten Schule. Gesang ist wieder einstimmig, ohne Harmonien.
Nach dem gemeinsamen Abschlussfoto bekommen die Kinder kleine Geschenke (Anstecker, Bleistifte, Zahnbürsten), die Lehrer erhalten Leinentaschen des DAHW. Ich versuche Leokadia zum Abschied kurz zu umarmen, sie freut sich, aber umarmt nicht zurück, scheint etwas ratlos zu sein über den Bewegungsablauf. Wurde sie schon einmal von einem Erwachsenen umarmt? Dann packen wir unsere Sachen, der Abschied fällt uns anscheinend schwerer als den Kindern. Die haben schulfrei und gehen nach hause. Wir fahren 1h über die Staubpiste nach hause und stellen fest, dass uns der ungefilterte Einblick in die Lebenssituationen der Kinder verändert zurücklässt.
Sehr beeindruckend beschrieben!
Tolle und berührende Erfahrungen und Begegnungen!
In Gedanken bin ich mit und bei euch!
Danke, dass wir teilhaben dürfen.
Jetzt hatte ich Pipi in den Augen! Einfachste Mittel die bei uns im Müll landen wären dort das Höchste.
Die Aussage „Gott ist in Europa“ ist so treffend.
Ich habe damals ähnliche Situationen in Afrika erlebt die gerade wieder hochkommen. 🙁
Super Sache die ihr da macht und Dennis ich habe es dir neulich schon prophezeit. Afrika verändert einen! Man vergisst es leider im deutschen Alltagseinerlei. Deshalb vielen Dank für diese tollen Einblicke in eurer Reise.
Mensch Dennis und Christof, wir hier können nicht mal erahnen, was ihr da drüben alles gesehen habt! Wahnsinn, wie unterschiedlich Welten sein können. Unbegreiflich und herzzerreissend . Du hast eure Erlebnisse unglaublich gut beschrieben und aufgeschrieben. Liebe Grüße