Norbert Schläbitz ist leitender Professor des Faches Musikpädagogik an der Westfälischen-Universität Münster. Neben diversen Schulmaterialien erschien zuletzt „Als Musik und Kunst dem Bildungstraum(a) erlagen“ (2016). Nun hat er sein Opus Magnum vorgelegt, quasi die Quintessenz der Betrachtungen, Überlegungen und Einschätzungen seines Themenfeldes.
Allein der Umfang dieses Gewaltwerkes in Ziegelsteinform ist mit knapp 900 Seiten eigentlich eine absolute Zumutung. Der Anspruch ein Buch zuerst komplett gelesen zu haben, bevor man eine Rezension dazu verfasst, gerät hier an eine natürliche Grenze. Ganze vier Monate vergingen bis ich auf die letzte Seite des Buches vorgedrungen war, da hat man die Ideen und Thesen der ersten 200 Seiten fast wieder vergessen. Und 900 Seiten anspruchsvollen, wissenschaftlichen Text, das soll erstmal jemand schaffen, das eignet sich nicht zur entspannten Lektüre vor dem Zubettgehen, da muss man hellwach sein. Und: wer hat schon die Muse über Wochen so einen Schinken durchzuarbeiten, als Liegeleser bekommt man schnell Atemnot, wenn man diesen Klotz (1,65kg) auf dem eigenen Brustkorb abstellt. Es ist daher schwer vorstellbar, dass mehr als eine Handvoll Menschen das Buch komplett lesen werden. Und man fragt sich unwillkürlich, wie kann das eigentlich einem angeblich erfahrenen Pädagogen passieren, einen so wesentlichen Teil der Leserfahrung so lebensfremd einzuschätzen, er will doch sicherlich auch, dass seine Schrift gelesen wird, warum dann so abartig lang und unverdaulich? Da haben anscheinend die Jahrzehnte an der Uni und in akademischen Kreisen eine eigenwillige Einschätzung bewirkt, vermutlich wurde aber beim Verfassen des Textkörpers nicht mal im Ansatz an den möglichen Leser gedacht, sonst wäre das nicht passiert.
Nun zur eigentlichen Sache: Das sehr umfangreiche Buch basiert auf einer eigenen Dissertationsschrift aus dem Jahre 1997 und wurde zum 25-Jährigen Jubiläum einer massiven Überarbeitung und Erweiterung unterzogen. Der interessante, ursprüngliche Titel „Zum diskreten Charme der Neuen Medien“ ist jetzt Untertitel, passt aber immer noch, obwohl das, was Ende der 1990er Neue Medien bezeichnete verglichen mit der Gegenwart sich fundamental verändert hat. Nur zur Erinnerung: Damals gab es gerade mal Rechner, das Internet und Suchmaschinen. ipod, iphone, Facebook, Youtube, Instagram, Twitter & TicToc befanden sich noch in einer weit, weit entfernten Galaxis. Die Voraussetzungen dafür waren aber freilich schon gelegt. Welche Anteile von der ursprünglichen Schrift übernommen wurden, was neu dazu kam, ist nicht gekennzeichnet, man darf annehmen, dass das meiste ersetzt oder ergänzt wurde und sich Schläbitz mit dem Rückbezug vor allem seiner eigenen damaligen (richtigen?) Einschätzung vergewissern will. Und warum auch nicht?
Inhaltlich geht es in 19 langen Kapiteln um fünf Thesen, die dankenswerter Weise am Anfang vorangestellt werden: 1. Mensch/Maschinekopplungen, 2. Gestaltungsräume zwischen analog/digital & Pop/Kunstmusik, 3. Computermusik als Programmmusik, 4. Kunst-Ästhetik und Erziehung, 5. Musikpädagogik als praktische Medientheorie.
Wie man im durchaus aufschlussreichen Nachwort aus den autobiographischen Notizen erfährt, hat Schläbitz einen fachlich fundierten Hintergrund als Gitarrist, Bandmusiker, Songschreiber, aber vor allem als über Jahre tätiger Filmkomponist. Da ist man meistens immer auch gleich Keyboarder, Techniker, Produzent, Instrumentalist und Arrangeur, ein musikalischer Allrounder sozusagen. Irgendwann hat sich seine berufliche Karriere allerdings akademisiert, wurde zuerst (musik)pädagogisch, dann kunstphilosophisch und schließlich nahezu rein geisteswissenschaftlich. Aus dieser heutigen Perspektive blickt er zurück auf die musiktechnischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und versucht sie einzuordnen bzw. in den Schulalltag zu integrieren. Äußerst sympathisch dabei sein unkonventioneller Blick, seine bereits bekannte, systemkritische Haltung kommt hier immer wieder durch, er stellt althergebrachtes größtenteils auf krasse Weise in Frage, übt begründete Kritik insbesondere an der im deutschensprachigen Sprachraum verbreiteten traditionellen Idee von Musikwissenschaft, Musikpädagogik und grundsätzlichem Bildungsideal ganz allgemein. Dazwischen immer wieder Exkurse in (musik)historische, fachliche, wissenschaftliche und gesellschaftliche Regionen, wo er erstaunlich offenherzig Stellung bezieht. Als Außenstehender des akademischen Regelbetriebs kann man sich gut vorstellen, dass man mit solch steilen Thesen heutzutage keine Professur mehr bekommen würde, aber leider irgendwie auch wirkungslos, weil die geschätzten Kollegen sein Buch mit absoluter Sicherheit nicht lesen werden und schon gar nicht Bildungspolitiker in den Ministerien, aber das weiß er vermutlich auch selbst. Trotzdem natürlich angenehm, dass jemand diese Ideen intelligent formuliert vorlegt, könnte ein anregender Beitrag zum Diskurs sein, falls es einen solchen denn geben würde. (Tut es nicht.)
Man muss übrigens auch nicht immer einverstanden sein um seinen Beitrag wertzuschätzen. In einigen Bereichen präsentiert er fragwürdige Theorien, bügelt ernstzunehmende Bedenken einfach vom Tisch, geht mit Gegenargumenten nicht gerade zimperlich um. So behauptet er bspw., dass die politische Corona-Kampagne die aus seiner Sicht positiv zu bewertende Digitalisierung an den Schulen beschleunigt hätte, was natürlich total verrückter Irrsinn ist. Erstens waren es die unnötigen und kinderrechtswidrigen Schulschließungen (Recht auf Bildung, Recht auf sozialen Umgang etc.), die die Kinder davon abgehalten haben zur Schule zu gehen, zweitens sind eben in dieser Zeit ohne Not katastrophale Missstände unter Kindern und Jugendlichen verursacht worden (psychische Probleme, Esstörungen, Misshandlungen, Suizid – you name it), deren Aufarbeitung uns noch Jahre beschäftigen wird. Man muss schon der realen Welt vollkommen entrückt sein und/oder keine schulpflichtigen Kinder haben um dieser Phase des rechtsstaatlichen und bildungspolitischen Totalausfalls irgendetwas Gutes abgewinnen zu wollen. Streng genommen war es der absolute Beweis, dass Digitalisierung eine vollkommen hohle Phrase ist und Kinder, Jugendliche, Eltern und Gesellschaft in erster Linie von Analogisierung, also echten menschlichen Begegnungen profitieren.
Nicht nachvollziehbar auch wie Schläbitz allgemeine Bedenken zur Smartphonisierung der Kinder und Jugend, z.B. dargelegt von Manfred Spitzer, lächerlich macht. Auch hier wieder: So kritiklos wie er kann man nur sein, wenn man seit Jahren keinen Kontakt mehr mit Kindern, jungen Eltern oder Lehrern hat. Dass die allgemeine Verbreitung von Smartphones, Wlan und mobilen Daten zu einem Zusammenbruch von Lernbereitschaft, Lesevermögen, Konzentrationsfähigkeit, Leistungsbereitschaft, etc. geführt hat, wird jeder Nachhilfelehrer, jeder Instrumentalpädagoge, jeder Sporttrainer bestätigen können, da braucht es nicht mal Studien, obwohl es die selbstverständlich auch gibt. Wie man an diesen bedenklichen Entwicklungen (nach den Regeln internationaler, hochmanipulativer, meist amerikanischer Medienkonzerne) kritiklos ausschließlich Gutes erkennen kann ist schon sehr, sehr einseitig.
Die meisten anderen seiner Betrachtungen sind hingegen erfrischend aktuell: Noch nie habe ich einen Musik(pädagogik)professor so fachlich und zeitgemäß informiert über Computermusik, Musiksoftware und die Möglichkeiten der KI schreiben sehen. Hier ist Schläbitz eine absolute Ausnahmeerscheinung. Ausgehend von seinen eigenen, zutreffenden Betrachtungen entwickelt er etliche interessante Thesen bzgl. kreativer Prozess, Nutzbarkeit von Rechnern in Musikproduktion und Medienerziehung, Bedeutung von Klangbibliotheken, Automatisierungen und Künstliche Intelligenz, zukünftige Bedeutung des Begriffs Urheberschaft, Zukunft und Gestaltung von Musik, die fast allesamt neuartig, manchmal fast schon prophetisch wirken. Und genauso können musikpädagogische Betrachtungen eben auch sein: klassische Incentives für Gegenwart und Zukunft. Anregungen und Anreize für eine aktive Auseinandersetzung mit Medien, Musik und Technik.
Fazit: Insgesamt ein äußerst langwieriger, aber passagenweise bereichernder Read. Könnte sein, dass das Buch am Ende doch mehr Menschen erreicht als gedacht, weil das Thema KI und Musik just nach Erscheinen einen enormen Hype in den Medien erzeugt hat. Generierte Musik wird wohl eine Nische in den Weiten des digitalen Musikkonsumkosmos finden, davon kann man ausgehen. Wenn dieses ungewöhnliche Buch dann doch eine unerwartete Bedeutung erfährt, wäre das sicherlich ganz im Sinne der vom Autor immer wieder erwähnten Kontingenz. Ein zumindest für den Rezensenten beruhigendes Konzept, das letzten Endes mit dem Autor versöhnt. Vielen Dank für die vielen Anregungen in diesem Buch, ich wünsche viel Erfolg, beim nächsten Mal aber bitte auf 300-400 Seiten beschränken.
Das gebundene Buch hat 874 Seiten, erscheint bei epOs und kostet knackige 45 Euro. Das ist viel Geld, in diesem Fall aber seinen Preis wert, allerdings nur, wenn man die erforderliche Zeit zum Lesen und Einwirken lassen hat.