Das Buch erschien im April 2014 bei transcript in der Reihe „Beiträge zur Popularmusikforschung“ der Gesellschaft für Popularmusikforschung (GfPM früher ASPM) und trägt den Untertitel „Zur Historiographie populärer Musik“ (ISBN 978-3-8376-2510-3, 18,99 €). Der Herausgeber Dietrich Helms ist Professor für historische Musikwissenschaft an der Universität Osnabrück; der Herausgeber Thomas Phleps ist Professor für Musikpädagogik an der Universität Giessen.
Nach einem Editorial der Herausgeber folgen sieben deutsche und englischsprachige Aufsätze verschiedener Autoren, darunter auch einer von Helms. Bis auf eine Ausnahme sind alle Aufsätze die Verschriftlichung von Vorträgen der gleichnamigen Arbeitstagung der ASPM (jetzt GfPM), die Ende 2012 am musikwissenschaftlichen Seminar an der Universität Basel stattfand.
Das mit 128 Seiten etwas knapp angelegte Buch geht der interessanten Fragestellung nach unter welchen Bedingungen die Geschichte der Populären Musik gemacht bzw. geschrieben wird. Wer oder was war wichtig? Wen oder was kann man vergessen? Vom wem werden die Geschichten verfasst? Warum und für wen wird Popmusikgeschichte niedergeschrieben?
Den Anfang macht Helmut Rösing mit dem Text „Geschichtsschreibung als Konstruktionshandlung.“ Er rekapituliert kurz die Geschichte der (deutschen) Musikgeschichtsschreibung von den Anfängen der Schrift bis zur Gegenwart und stellt schließlich sieben fundamentale, selbstkritische und zum Teil provokante Fragen, so z.B.: „Benötigen wir im Zeitalter der medialen Überlieferung überhaupt noch Musikgeschichte?“ Er versucht dazu abschließend knappe Antworten zu finden, aber es ist sicher lohnenswert auch eigene Antworten zu seinen intelligenten Fragen zu suchen.
Der folgende englischsprachige Text des amerikanischen Musikers und Musikforschers Elijah Wald ist aus meiner Sicht der inhaltliche Höhepunkt des Buches und rechtfertigt alleine schon eine Anschaffung. Wald hat in den letzten Jahren bereits mit mehreren Büchern und einige steilen Thesen Aufsehen erregt, so z.B. „How the Beatles destroyed Rock and Roll“ (2009), „Escaping the Delta“ (2005) oder (zusammen mit Dave van Ronk) „The Mayor of MacDougal Street“ (2005), das als Inspiration zum jüngst erschienenen Film „Inside Llewyn Davis“ (2013) der Coen Brüder diente. Im vorliegendem Buch trägt sein Text den Titel „Forbidden Sounds: Exploring the Silences of Music History“. Darin stellt er die These auf, dass die Bedeutung von populärer Tanz- und Bühnenmusik aufgrund ihrer Funktion als pure Gebrauchsmusik von Musikhistorikern selten oder gar nicht dokumentiert wird und deswegen Teile der gelebten Musikkultur in der Geschichtsschreibung einfach totgeschwiegen werden. So entstehen blinde bzw. stumme Stellen innerhalb der Musikgeschichte, die zwar von musikalisch interessierten Zeitgenossen erlebt wurde, aber konsequent nicht akademisch erfasst wurde und wird. Er sucht und findet in seiner unnachahmlich, stark auf eigenen Erlebnissen und Nachforschungen basierenden Art einige sehr überzeugende Beispiele und Erklärungen. Spannend, erhellend, dabei aber unterhaltsam und in letzter Konsequenz auch nachdenklich stimmend.
Der englische Text des Briten Derek B. Scott trägt den Titel „Invention und Interpretation in Popular Music History“. Es wird nicht ganz klar worauf er eigentlich hinaus will, schon seine These ist unpräzise und sein Argumentationsstil wirkt sehr willkürlich, nicht stringent, er springt ohne erkennbaren Zusammenhang wild von Beispiel zu Beispiel, trotzdem einige gute Gedanken und deswegen lesenswert.
Interessant der im Vergleich dazu nüchterne Text „Geschichtsschreibung populärer Musik“ von Martin Pfleiderer. Er vergleicht hier Inhalt und Präsentation von sieben verschiedenen amerikanischen Popularmusikgeschichtsbüchern, die in englischsprachigen Ländern vorzugsweise als Literatur an Colleges und Universitäten eingesetzt werden. Diesen Publikationen kommt somit ein signifikanter Einfluss bei der Ausbildung eines popmusikalisch-kulturellen Bewusstseins unter jungen, amerikanischen Akademikern zu, alleine deswegen lohnt sich eine nähere Betrachtung. Außeramerikanische kulturelle Einflüsse spielen in den Publikationen und ihren Wiederauflagen offensichtlich eine eher untergeordnete Rolle. Ebenfalls bemerkenswert ist, dass es bezüglich dieser tendenziell amerika-zentristischen Sichtweisen auf die Geschichte der Popmusik angeblich keine umfassenden, deutschen oder europäischen Gegenentwürfe gibt. Musste gleich an Piero Scaruffis „A History of Rock Music“ (2003) oder an Charlie Gilletts „The Sound of the City“ (1970) denken, aber auch diese nicht-amerikanischen Autoren haben die Entwicklung in den USA im Zentrum ihrer Darstellungen.
Barbara Hornberger wendet in ihrem Text „Geschichte wird gemacht“ die analytische Arbeitsweise des amerikanisch geprägten New Historicism auf den gleichnamigen Popsong der deutschen Band Fehlfarben an. Sie nennt den Ansatz ihrer Untersuchung im weiteren Verlauf „kulturpoetisch“ und man kann den Versuch durchaus als aufschlussreich und somit gelungen ansehen. Neue und exemplarisch dargestellte Ansätze für Analyse sind immer willkommen.
Der Text „Nothin’ here but History: Geschichtlichkeit als ästhetische Kategorie bei Steely Dan“ von Friedrich Geiger wirkt so, als wenn die Lieblingsband des Autors (Steely Dan) in die thematische Vorgabe der Tagung/des Buches (Musikgeschichte) hineingezwungen wurde. Nachvollziehbar, aber nicht wirklich mitreißend. Die Notenbeispiele wirken wie lustlos abgetippt (Klavierauszug, keine Angaben zur Provenienz der Transkriptionen), es werden leider keine tieferen Zusammenhänge oder Beziehungen erläutert. Für Steely Dan-Fans vermutlich lesenswert.
Das Buch schließt ab mit dem Text „History? My story! Ein Plädoyer für das Ich in der Musik-Geschichte“ von Dietrich Helms, leidenschaftlich und lesenswert, ein schöner Schlusspunkt. Man fragt sich am Ende nur warum Helms als etablierter Musikwissenschaftler, Herausgeber und Autor von Texten nicht einfach nach seinen eigenen Vorgaben loslegt und ein entsprechendes Buch schreibt, was hindert ihn daran genau das zu tun? Naja, vielleicht ist der Text ja eine getarnte Selbstmotivation und er arbeitet schon heimlich dran.
Fazit: Ein schmaler Band mit beeindruckendem Inhalt. Die Herausgeber haben gute Arbeit geleistet. Insbesondere die englischsprachigen Texte sind eine wirkliche Bereicherung für die Sammlung und lockern die ansonsten etwas nüchterne und sehr deutsche Argumentationsweise etwas auf. Schade, dass es von den Vorträgen der Tagung nicht noch einige mehr in den Tagungsband der Reihe geschafft haben. Das wäre nämlich abschließend ein Kritikpunkt: Für ein Buch von 128 Seiten sind 18,99 ein ziemlich hoher Preis. Und: Warum erscheint der Tagungsband erst eineinhalb Jahre nach der Tagung?
Als nächstes erscheint voraussichtlich der Band zur Tagung im Jahr 2013 zum Thema „Typisch Deutsch – (Eigen)Sichten auf populäre Musik in diesem unseren Land“.
Hallo Dennis, was wäre eine „sehr deutsche Argumentationsweise“?
Der Band beinhaltet mehrere deutsche und jeweils einen amerikanischen und einen britischen Textbeitrag. Als „deutsch“ empfinde ich, dass der Blick auf das Thema sehr sachlich, akademisch, vermeintlich objektiv, distanziert und abstrahierend wirkt. Das „Ich“ wird aus der Argumentationskette herausgehalten, die (deutschen) Autoren geben sich den Anschein neutral und von Außen zu betrachten, nicht Teil der Geschichte oder eines Prozesses zu sein, als Wissenschaftler einen ungetrübten Blick zu besitzen. Trotzdem wird natürlich subtil gewichtet, selektiert, gewertet, hierarchisiert, aber eben leider ohne klare Ansage.
Der Amerikaner Wald dagegen beschreibt sich z.B. nicht als Wissenschaftler, sondern als Musiker und Autor, also als beteiligter und involvierter Beobachter. Er ist sich der Gefahren dieser undistanzierten Position durchaus bewusst und thematisiert sie (z.B. im Text des Bandes, aber auch andernorts). Das halte ich für glaubhaft und sehr überzeugend.
Das Plädoyer von Helms im selben Band geht in eine ähnliche Richtung, er benennt dabei aber nicht die grundsätzlich unterschiedlichen Herangehensweisen von US-Amerikanern und Deutschen. Vielleicht liegt es daran, dass Amerikaner selbstverständlich mit amerikanischer Popmusikkultur aufgewachsen sind (übrigens ohne die typisch deutsche und sehr wertende Einteilung in E/U oder Kunst/Kommerz) und eine distanzierte Blickweise für sie vermutlich gar nicht denkbar bzw. sehr konstruiert wäre. Für einen Musikwissenschaftler aus Mitteleuropa, der am Kanon klassischer Musik ausgebildet wurde ist das jedoch möglich, wirkt auf mich aber meist wie eine künstliche Trennung und daher nicht überzeugend.
Vielleicht wird deine Frage im nächsten Band „Typisch deutsch“ beantwortet. Wäre sicher lohnenswert die Forschungsansätze von Anglo-Amerikanern und Kontinentaleuropäern miteinander zu vergleichen.
Ja, so wird das verständlicher. Danke!
@Dennis: Sehr richtig, was du da sagst. Auch außerhalb der wissenschaftlichen Publizistik ist mir Subjektivität, die sich „objektivistisch“ maskiert (Typische Phrase: „Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass…“) deutlich unangenehmer als Subjektivität, die ihre notwendige Beschränktheit immer mitdenkt (Typische Phrase: „Nach meinem Kenntnisstand beurteile ich das folgendermaßen…“).
@Dennis: Danke für die kompetente und differenzierte Besprechung 🙂