Friederike Wißmann ist Musik- und Literaturwissenschaftlerin und lehrt zur Zeit an der Universität Bonn. Nach der Biographie „Hanns Eisler“ von 2012 ist „Deutsche Musik“ ihre zweite, umfangreiche Publikation. Das Buch beginnt mit einer ausführlichen und aufschlussreichen Einleitung. Darauf folgen 13 Kapitel, die mit Adjektiven wie „Himmlisch“, „Diskursiv“, „Gesellig“, „Regional“ „Öffentlich“, „Käuflich“ etc. übertitelt sind und in denen entsprechende Themen der deutschen Musikkultur epochenübergreifend exemplarisch verhandelt werden. Am Anfang jeden Kapitels steht ein kurzer, inhaltlicher Überblick, der die folgenden Ausführungen übersichtlich zusammenfasst. Das letzte Kapitel beschäftigt sich ausschließlich mit Faust und dem Mythos der deutschen Musik, ein Thema mit dem sich die Autorin bereits umfassend in ihrer Dissertation auseinandergesetzt hat. Das Buch endet mit präzisen Anmerkungen, einer Danksagung und einem Verzeichnis der Personen, Orchester und Bands.
Friederike Wissmann ist sich der Komplexität und Problematik des Themas durchaus bewusst und geht von Anfang an souverän und argumentativ überzeugend damit um. In übergeordneten Kapitel bietet sie einen umfassenden Überblick über herausragende Momente deutscher und deutschsprachiger Musikkultur vom Zeitalter des Barock über das 19. und 20. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart. Die meisten Betrachtungen stammen dabei aus dem Bereich des klassisch-romantischen Bildungskanons. So spielen Leben, Werk und Rezeption von Bach, Händel, Haydn, Mozart, Beethoven, Schumann, Mendelssohn Bartholdy, Wagner, Brahms und Bruckner eine zentrale Rolle. Im 20. Jahrhundert werden vor allem Schönberg, Eisler und Stockhausen betrachtet. Als Leser spürt man, dass die Autorin in der Welt der klassischen Musik zu Hause ist und sich sicher in diesem stilistischen Umfeld bewegt. Die Argumentation wirkt klar durchdacht und stringent, immer wieder bietet sie neue oder zumindest ungewöhnliche Sichtweisen, allenfalls sind einige Ausführungen etwas zu ausschweifend (z.B. Wagner). Spannend sind ihre Ausführungen zu besonderen Ausprägungen deutscher Musikkultur, so wie sie sich in Fangesängen, Castingshows, Festivalkultur oder Nationalhymnen manifestieren, allerdings wirken einige Passagen und Exkurse hier bereits etwas angelesen und nicht so gründlich reflektiert wie noch in den klassisch-romantischen Themenbereichen. Nicht ganz so überzeugend sind dann die Äußerungen zu den popmusikalischen Anteilen deutscher Musik. Hier ergeben sich trotz des bemerkenswerten Umfangs des Buches auch einige auffällige, thematische Leerstellen. Obwohl auf dem Titel des Einbands schlagwortartig Namen, Stile und Stichworte abgedruckt sind, werden einige davon im Buch gar nicht behandelt, so gibt es wenig oder gar keine Aussagen zu einigen Themen, die wenigstens eine kurze Erwähnung durchaus verdient gehabt hätten, wie z.B.: Marschmusik, Alpenländische Volksmusik, Kinderlieder, Kaffeehauskultur, Tanzmusik, Comedian Harmonists, Marlene Dietrich, Katharina Valente, Heintje, Heino, Reinhard Mey, Udo Jürgens, Wolf Biermann, Krautrock, Kraftwerk, Udo Lindenberg, Nena, Falko, Neue Deutsche Welle, Herbert Grönemeyer, Deutscher Hip Hop, Fantastischen Vier, Techno, Kruder Dorfmeister, The Notwist, Sportfreunde Stiller, Peter Fox oder Helene Fischer, um nur einige zu nennen.
Wißmann schreibt routiniert, zugänglich und unterhaltsam. Immer wieder werden interessante Anekdoten und Querverbindungen zwischen die allgemeinen Ausführungen gestreut. Der Stil ist ernsthaft, solide recherchiert und dabei angenehm unakademisch. Externe Quellen sind sauber markiert und in den Fußnoten im Anhang ausführlich dokumentiert. Gerade deswegen ist bedauerlich, dass sich die Autorin zur strukturellen Entwicklung der deutschen Musikkultur nur selten bis gar nicht äußert. Bereiche wie Musikkritik, Musikwissenschaft, Charts, DJs, Veranstaltungsorte, Musikvermarktung, Kulturförderung, Bildungsauftrag der öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsender, Medienföderalismus, Förderung, Wettbewerbe, Ausbildung, Hochschulwesen, Musikvermittlung in der Schule, Bedeutung von Sing- u. Musikschulen, Chören und Hausmusik werden, wenn überhaupt, nur am Rande behandelt. Gar keine Stellung bezieht die Autorin zu aktuellen Tendenzen, es gib keinen abschließender Ausblick und die Zusammenfassung fällt denkbar knapp aus. Im Schlussteil stellt sie erwartungsgemäß fest, dass Vielfalt und Hybridität die wesentlichen Merkmale ‚deutscher Musik’ sind, eine Erkenntnis, die sich im Verlauf der Betrachtung dem Leser immer deutlicher aufdrängt und der letztlich uneingeschränkt zugestimmt werden kann. Deutsche Musik ist und bleibt wie auch deutsche Kultur, das deutsche Volk oder die deutsche Nation ein geistiges Konstrukt. Auf der anderen Seite ist genau diese kritisch-distanzierte Sichtweise auch wiederum sehr deutsch.
Fazit: Die Autorin bietet mit ihrer Fragestellung eine außergewöhnliche Sichtweise auf verschiedenste Ausschnitte deutscher Musikkultur(en) der letzten Jahrhunderte. In einem angenehmen, ansprechenden Ton gelingt ihr damit eine interessante und vielseitige geo-kulturelle Darstellung exemplarischer, deutscher Kulturgeschichte, Entwicklungen und Befindlichkeiten. Ein intelligenter und unterhaltsamer Blick auf das Selbstverständnis einer kulturbeflissenen Region im Herzen Europas.
Das Buch enthält fünf kleinformatige, s/w-Abdrucke von zeitgenössischen Drucken. Das gebundene Buch erscheint im Berlin Verlag, hat 512 Seiten und kostet 38,00 Euro.
Ich kann folgendes schwer einordnen:
„Deutsche Musik ist und bleibt wie auch deutsche Kultur, das deutsche Volk oder die deutsche Nation ein geistiges Konstrukt. Auf der anderen Seite ist genau diese kritisch-distanzierte Sichtweise auch wiederum sehr deutsch.“
Also so: Macht Dennis Schütze deutsche Musik? Ja, denn er ist Deutscher!
@Gerhard: Meine Großeltern stammen aus Amerika, Frankreich und Ostpreußen, geboren bin ich in Elmshorn, aufgewachsen in München, meine ganze Jugend habe ich westliche Popmusik gehört, war als Schüler ein komplettes Jahr in den USA, ich singe und schreibe englischsprachige Songs, reise gerne ins Ausland, weil ich mich da oft wohler fühle, ich hasse Richard Wagner und bin genervt vom bundesrepublikanischen Bildungskanon. Aber ja, dem Pass nach bin ich deutsch. Fühle ich mich auch deutsch? Immer wenn ich im Ausland bin, ist es für mich fast greifbar. Und mein ständiger Versuch alles zu verbessern und die Welt zu belehren ist auch ziemlich deutsch.
@Dennis: Danke für die sachkundige Rezension 🙂 Meine Befürchtungen, die der Buchtitel hervorrief (Musik als Vehikel deutschen Nationalismus), scheinen ja im Buch selbst nicht bestätigt zu werden. Ungeklärt bleibt allerdings, wieso das Buch dann überhaupt „Deutsche Musik“ heißt, wo es doch – in Bezug auf die Kunstmusikkomponisten – um Bach, Händel, Haydn, Mozart, Beethoven, Schumann, Mendelssohn-Bartholdy, Wagner, Brahms, Bruckner, Schönberg, Eisler und Stockhausen – geht. Haydn, Mozart, Bruckner und Schönberg waren jedenfalls keine Deutschen, sondern Österreicher. Außerdem gibt’s ja auch bedeutende Schweizer Komponisten wie etwa Honegger oder Frank Martin.
@Dennis: Ups, ich war noch nicht ganz fertig mit meinem Kommentar, da ist mir der „abschicken“-Knopf reingerutscht. Also (ich weiß, ewiges, leidiges, aber mir wichtiges Thema): Ich denke nicht, dass es eine „deutsche Musik“ gibt, genausowenig wie es eine „niederländische Musik“ oder eine „kroatische Musik“ gibt. Sehr wohl gibt es natürlich eine bayerische Volksmusik, holländische Volkslieder etc. Aber die o. a. Kunstmusik-Komponisten (Frauen kommen keine vor?) sind nun mal in erste Linie individuelle Autoren von mehr oder minder zusammenkompilierten musikalischen Artefakten. Mit ihrer ethnischen Herkunft steht das nur in sehr losem Zusammenhang (ist Beethoven nicht „eigentlich“ ein niederländischer bzw. flämischer Komponist, wo er doch keinen deutschen Namen trägt?)
@Gerhard & Stefan: Ja, Frau Wißmann erkennt das Problem durchaus und thematisiert es auch ausführlich in der Einleitung. Trotzdem sucht sie nach Gemeinsamkeiten „deutscher Musik“ und das Buch ist passagenweise durchaus erhellend, übrigens auch, weil es anregt selbst über das eigene Verständnis von deutscher Musikkultur nachzudenken.
Im Buch ist der Begriff durchaus weit gefasst; geografische, territoriale, ethnische, sprachliche Grenzen werden nicht explizit gezogen, K&K ist dabei, Schweiz und Südtirol nicht, war ja im Laufe der Jahrhunderte auch stark im Wandel. Besonders im Fall D ist freilich die ausgeprägte Regionalität (im Gegensatz zu zentralistischen Nationen wie z.B. Frankreich), die schon immer und immer noch ein Markenzeichen deutscher Lande ist. Vielleicht kommt genau daher auch der Drang die große Gemeinsamkeit zu suchen, die alles verbindet und zusammenhält. Es wirkt manchmal wie die Suche nach dem heiligen Gral, aber oft genug ist ja auch der Weg das Ziel.
„Ausgeprägte Regionalität“ gibt es auch in anderen Landen. Ohne Experte darin zu sein: Der Film „Willkommen bei den Sch’tis“ thematisiert etwa lustvoll die Unterschiede Südfrankreichs zum Norden. Auf einer Zypernreise hatte ich einen guten Kumpan aus England, der mein mageres Englisch deutlich dem der Engländer in der Gruppe vorzog, die alle aus einer bestimmten Region, die er nicht leiden konnte, zu stammen schienen. Aber vielleicht meinst Du regional unterschiedliche Musik?
@Stefan: Jahrhundertelange Kleinstaaterei und Föderalismus haben in Deutschland ein sehr differenziertes, kulturelles Umfeld geschaffen. Die Unterschiede zwischen z.B. Friesland und Bayern, Rheinland und Sachsen könnten größer nicht sein. Das ist meiner Ansicht nach wirklich eine Besonderheit, die viele zentralistisch organisierte Nationalstaaten eben genau nicht haben. Frankreich ist für diese Organisationsform eine idealtypisches Beispiel.
und wie immer stehn wir am ende betroffen und viele fragen offen…..
ich würde sagen der größte gemeinsame Nenner wäre. deutsche Musik wurde in Deutschland gemacht, mehr aber auch nicht; irgendwie ist doch inzwischen alles crossover siehe http://everynoise.com/engenremap.html
dass sich heute noch jemand um eine reinform schert ist doch die ausnahme noch wie zu Zeiten des Kontrapunkts z.B.
sorry natürlich hat auch der liebhaber von 40er jahre blues seine daseinsberechtigung, aber selbst der macht ja auch inzwischen neue (?) deutsche musik 🙂
das waren noch zeiten als man die genres so schön einfach zuordnen konnte Pop Rock Klassik fertich!
musik wird von menschen gemacht und die lassen ihre erfahrungen und kulturellen hintergründe miteinfliessen, bewusst oder unbewusst; früher hiess dass dann halt zB schule von ….
es ist wie mit jeder reinheitsdiskussion; nach dekonstruktion und multikulti fällt es immer schwerer den ursprung zu erkennen;
das ist ja auch immer ein verständliches bestreben aller/vieler zu wissen wo man herkommt und macht die idendität einer person aus volk zu sagen bin ich verleitet, geht aber halt ned….
und jedes volk sieht sich als einzigartig – ist aber doch auch nur ein produkt von mischungen aus wanderbewegungen, wie wir sie nun auch mal wieder erleben dürfen, das bringt frisches blut und neu einflüsse….
@Bernhard: bin ganz auf deiner Linie. Die meisten Reinformen entpuppen sich bei näherer Betrachtung selbst als Hybriden und wurden erst im Nachhinein zu Urtypen erklärt. Gerade bei (Pop)musik wird auch allzu gern vergessen, dass die Kategorien von der Tonträgerindustrie etabliert wurden um die Vermarktung der eigenen Produkte zu erleichtern.
Reinrassigkeit, my ass. Weiß der Teufel, warum diese Fiktion immer wieder als Qualitätsmerkmal herangezogen wird.
Fazit des Buches ist ja auch wohlgemerkt „Vielfalt und Hybridität“ und das ist doch ein erhellendes und erfreuliches Ergebnis.