Joachim Meyerhoff ist Schauspieler am Wiener Burgtheater und Autor einer mittlerweile bereits dreibändigen, frei interpretierten Autobiographie mit dem Titel „Alle Toten fliegen hoch“. Der erste Band „Amerika“ erschien im Frühjahr 2011 und erzählte von seinem Austauschjahr als Jugendlicher in den USA. Der zweite Band folgte 2013 und berichtete von seiner Kindheit als Sohn eines Arztes in einer Psychiatrie bei Schleswig. Nun erschien der dritte Band „Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“. In diesem Teil schreibt Meyerhoff über seine Ausbildung an der Schauspielschule Otto Falkenberg in München und seine Zeit mit den Großeltern, bei denen er während dieser Zeit für einige Jahre wohnte.
Der Zeitraum der Romanerzählung umfasst ca. 3-4 Jahre. Meyerhoff gerät per Zufall an die Schauspielschule, er wollte nur weit weg von Schleswig, seine Wahl fällt auf München und er plant seinen Zivildienst an einem Krankenhaus anzutreten. Doch dann besteht er zu seiner eigenen Überraschung die Aufnahmeprüfung und tritt seinen Ausbildungsplatz kurzentschlossen an. Er wohnt in dieser Zeit bei seinen Großeltern in einer Villa im vornehmen Stadtteil Nymphenburg. Seine Großmutter ist eine divenhafte, aber liebenswerte alte Dame, sein Großvater ein verkopfter und mindestens genauso liebenswerter Philosophieprofessor. Das Leben des Ich-Erzählers spielt sich in dieser Zeit zwischen zwei Extremen ab: Tagsüber wird er an der Schauspielschule in seine Einzelheiten zerlegt, er wird immer unsicherer, zweifelt immer mehr an sich und verliert vollkommen das Vertrauen in sich selbst. Die Abende hingegen verbringt er berauscht von alkoholischen Getränken zusammen mit seinen Großeltern auf dem opulenten Sofa im Wohnzimmer der Villa in einem Zustand fortgeschrittener Weltflucht.
Wie schon in den vorangegangenen Bänden zeigt sich Meyerhoff als sehr sensibler und humorvoller Beobachter und Erzähler. Er kann vollkommene Nebensächlichkeiten sehr eindringlich beschreiben und auf unterhaltsame Art und Weise so lange darüber fabulieren bis sie auf den letzten Meter dann eben doch einen erhabenen Sinn ergeben. Er erzählt von seiner Zerrissenheit als junger Mann, dem der Tod des eigenen Bruders noch tief in den Knochen sitzt. Im Rahmen seiner Ausbildung ist er auf der Suche nach sich selbst, findet aber keine verwertbare Substanz: Er vergleicht sich fortwährend mit seinen begabten Schauspielschülerkollegen, darunter einige Naturtalente, und empfindet sich selbst als verstockt, talentlos, fahrig und ungestalt. Lehrer und Mitschüler konfrontieren ihn immer wieder mit den eigenen Unzulänglichkeiten und er findet einfach kein Mittel dagegen.
Auf der anderen Seite stehen die gnädigen Großeltern, die sich im fortgeschrittenem Alter eine ganz eigene, weltabgewandte, routinierte und in sich vollkommen geschlossene Wirklichkeit geschaffen haben. Besonders die Großmutter, selbst eine ehemals gefeierte Schauspielerin, liebt ihren Enkel und unterstützt ihn auf ihre ganz eigene, etwas altmodische Art. Erst spät wird dem Ich-Erzähler klar, dass die eigentliche Ausbildung in seiner Freizeit in der Villa der Großeltern stattgefunden hat und die Schauspielschule ihm keine Fähigkeiten vermittelt, sondern in erster Linie eigene Schwäche offenbart hat. Zusammen ergibt sich daraus dann aber etwas Ganzes und als Leser wissen wir ja wohin den Autor diese Erlebnisse geführt haben.
Fazit: Meyerhoff offenbart hier sein ganzes literarisches Potenzial, spielt auf der kompletten Klaviatur eines großartigen Geschichtenerzählers und ist dabei humorvoll, poetisch, gnadenlos, liebevoll, energisch, mutig, kurios, eigenwillig, originell und auf den Punkt. Man darf sich jetzt schon auf die Fortsetzung freuen, die vermutlich erst 2017 erscheint.
„Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke“ erscheint bei Kiepenheuer & Witsch, hat 348 Seiten und kostet gebunden 21,99 €.