Während sich die Gesellschaft von einem Lockdown zum nächsten hangelt, gehen die Produktionsarbeiten immer weiter. Allerdings werden sie kleinteiliger, weil passend zum allgemeinen Trend weniger Album- und stattdessen immer mehr Einzeltrack-Veröffentlichungen in noch dazu immer kürzeren Abständen produziert werden. Ein Track im Monat und am besten noch ein Video oder eine B-Seite dazu sollten es schon für einen Artist/Band/Projekt sein, sonst verschwindet man am hinteren Rand des Algorithmus, da wo es ganz dunkel und finster ist, am Rand der klingenden Scheibe, in der allerletzten Rille sozusagen. Da ich selbst mehrere Musikprojekte betreibe und zusätzlich noch eine Hand voll andere Musiker und deren Projekte betreue, kommen da im Monat schnell mal 8-10 Einzeltracks zusammen, also das Musikaufkommen, das man vor kurzer Zeit alle paar Jahre zusammengefasst in einem Album veröffentlicht hätte. Die Zyklen werden einfach immer kürzer und folgen immer schneller aufeinander, das Tempo ist alleine kaum noch steigerbar. Da ist schnelles und effektives Arbeiten angesagt. Das bedeutet vor allem zügige und treffsichere Beurteilungen vorzunehmen und mutige und richtige (!) Entscheidungen daraus abzuleiten. Man muss schnell erkennen, wann sich die Arbeit lohnt, ob man evtl. gerade einen Um- oder Irrweg geht oder ob es einen effektiveren Weg geben könnte um zu guten oder noch besseren Ergebnissen zu kommen. Dabei ist es von Vorteil, wenn man in der Vergangenheit vieles probiert hat, die schlimmsten Fehler schon begangen hat und aus ihnen gelernt hat. Nur umfangreiche Erfahrung macht einen zügigen, effektiven Workflow überhaupt möglich.
Zur Zeit arbeite ich an folgenden Projekten: Klassische Popballade mit Sandra Buchner (voc), Nina C. Frenzel (cello), Dennis Schütze (piano). Zwei vierstimmige Choräle in Oktettbesetzung und Cello (Thilo Hofmann & Nina C. Frenzel), reduziertes Voc/Git-Arrangement mit Grisu Biernat, zwei Popliedproduktionen mit/für Simon-Philipp Vogel, weitere Neo-Jazz-Tracks mit/für Sandra Buchner, Neo-Barock/Klassik Tracks für LoFiLu, EP-Album „Style Sheets“ für LoFiLu, zwei moderne Songinterpretationen unter eigener Flagge, dazu bahnen sich weitere Projekte aus dem Bereich Kammer-Folk und Solo-Klassik an. Es geht so schnell, dass mein Label langsam Schwierigkeiten hat hinterherzukommen, weil jede Woche 2-3 Track von mir geliefert werden.
Das verrückte dabei ist, dass sich bei mir nicht nur die Quantität der Produktionen, sondern auch die Qualität deutlich gesteigert hat. Habe rückblickend den Eindruck, dass ich bis vor einigen Jahren Musik wie ein Hobby betrieben habe. Songs schreiben nach Lust und Laune und alle paar Jahre mal ins Studio und ein Album machen, anschließend jahrelang genau diese Songs bei kleinen Auftritten spielen und die gepressten CDs verkaufen. Wirkt inzwischen wie eine andere Welt für mich. Mittlerweile nehme ich alles alleine auf, spiele fast alle Instrumente selbst, schreibe, instrumentiere, arrangiere, mische und mastere und kann mich manchmal schon 1-2 Wochen nach der Produktion nicht mehr erinnern was, wie oder mit welchem Instrument ich einen Part gespielt habe, weil ich längst an fünf anderen Tracks arbeite. Die aktuelle, hochkreative und lebendige Produktionsarbeit ist somit quasi das Gegenstück zu der langjährigen Re-Produktionsarbeit in Form von redundanten Proben und Konzerten, zumindest wie ich sie betrieben habe ohne es zu merken. Aber gespürt habe ich es natürlich schon. Deswegen fehlen mir die durch die Corona-Maßnahmen abgesagten Konzerte aus vielen Gründen (Publikum, Austausch mit Musikerkollegen, Ortswechsel, Gagen), aber nicht so sehr wegen dem Musikmachen, wie es von vielen anderen Kollegen beklagt wird. Ich mache wirklich 10x mehr Musik als vor der Krise und vor allem sind es neue, kreative, dynamische, abwechslungsreiche, inspirierende Inhalte, die ich beackere. Das ist im re-produzierenden Gewerbe so kaum existent. Selbst die einfallsreichste Improvisation ist nach dem dritten Durchlauf für den immer wieder Beteiligten voller erkennbarer Varianten und Wiederholungen, wie sollte es auch anders sein. Da bietet die Plattform einer Musikproduktion unendlich viel mehr Möglichkeiten und das wird noch potenziert, wenn weitere Musiker beteiligt sind.
Meine Tätigkeit hat sich in den letzten Monaten so fundamental verwandelt, dass ich wirklich gespannt bin wie die Dinge stehen, wenn sich die Situation ab dem Sommer hoffentlich entspannt. Ich wage mal zu behaupten, dass dann dieser Paradigmenwechsel erst sichtbar werden wird und die Veränderung im Schnellverfahren viele Verlierer und wenige Gewinner hervorgebracht haben wird. Insbesondere in den Bereichen Schule, Bildung, Soziales, Kultur, Gastronomie, Freizeit, Reise, Mobilität, Digitales, Finanzen wird da wohl kaum mehr ein Stein auf dem anderen stehen, auch wenn das im Moment noch nicht sichtbar ist. Könnte mir vorstellen, dass viele Musiker und Bands, Bühnen, Theater, Festivals komplett aufgegeben haben und sich das Feld neuformieren werden muss. Das ist einerseits sehr traurig, andererseits werden so auch vertrocknete Strukturen auf- und abgebrochen, die auf anderem Wege nicht mehr veränderbar gewesen wären. Dass konzertante Musikkultur fast komplett auf Null gefahren wurde, gab’s nicht mal in den letzten beiden Weltkriegen. Mal sehen, was außer den etablierten und voll-subventionierten Institutionen übrigbleibt.
Bei mir hat jedenfalls eine Metamorphose stattgefunden, über die ich selbst am allermeisten staune. Obwohl es sich vorher schon deutlich abzeichnete (Auflösung der Live-Band, Verzögerung des Albums, keine neuen Songs mehr etc.), hat es eine Krise globalen Ausmaßes gebraucht um eine innerliche und äußerliche Veränderung und eine Hinwendung zu Neuem bei mir zu bewirken. Läuft also. Irgendwie.