Huntington – Indianapolis

Gestern bin ich um 7.30 aufgestanden, weil ich vor meiner Weiterfahrt noch einiges vor hatte. Mit der Uebernachtung auf der Malabar Farm und der in Huntington hatte ich schon zwei komplette Tage keinen Zugang zum Internet gehabt. Ich musste dringend meine Route checken, Reservierungen machen, Mails lesen und den Blog pflegen. Weil es hier im Days Inn zwar WiFi, aber keinen oeffentlich zugaenglichen Computer gab, wollte ich auf eine Public Library ausweichen. An der Rezeption wurde ich an die Buecherei von Barboursville verwiesen, die lag relativ nah und auf meinem Weg. Ich war um 8.55 da, um 9.00 wurde geoeffnet. Nach knapp 2h war ich fertig und bin dann weiter zur Huntington Mall. Im Jahr 1988 war das immer ein Ereignis, wenn wir alle paar Wochen mal zur Mall gefahren sind. Es ist ein Einkaufszentrum mitten in der Pampa und es gibt dort Laeden fuer alle moeglichen modischen Sachen, vor allem viel Klamotten (Mode, Sport, Schuhe usw.), einen obligatorischen Foodcourt, aber keinen erwaehnenswerten Buch-, Zeitschriften- oder Musikladen. Habe eine paar Kleinigkeiten fuer die Familie eingekauft.
Auf dem Rueckweg habe ich noch bei dem Laden “Route 60 Music” in Barboursville angehalten von dem mir eine ehemalige Mitschuelerin beim Klassentreffen erzaehlt hatte. Leider nicht allzuviel Vintage, aber brauchbares Sortiment. Habe mir eine Gibson “Robert Johnson” geschnappt und den “Kind-hearted Woman Blues” vor mich hingepickt. Da kam ploetzlich ein anderer Mann, nahm eine Dobro von der Wand und spielte wortlos Slide zu meinen Gedengel dazu. Blues in A, tierische Session. Der Mann ist Jeremy Short aus Huntington, lokaler Gitarrenlehrer und Ausnahmegitarrist. Wir haben zusammen noch ein paar andere Nummern gespielt (“Hey Joe”), dann hat er mich dem Ladenbesitzer Paul Callicoat vorgestellt. Der war sehr, sehr nett und hat mir seine aktuelle CD “The Wayward Truth” und ein T-Shirt des Ladens geschenkt. Ich habe mich herzlich bedankt und gesagt, dass es so schoen waere in den USA zu reisen, weil alle so freundlich und offen sind und er meinte: “We love people, we just love people, man, I don’t care if you’re black or white or jewish or muslim.” Ich kann das besaetigen und werde versuchen etwas von dieser Mentalitaet mit nach hause zu nehmen. Es war jetzt schon spaet geworden und ich wollte ja noch weiter, deswegen bin ich dann los, zurueck nach Huntington und ueber die Bruecke rueber nach Ohio.
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Ich fuhr entlang der Nordseite des Ohio Rivers Richtung Cincinatti. Hatte mich wieder fuer die ‘scenic route’ entschieden, es war wunderschoen. Um Cincinatti machte ich einen grossen Bogen und fuhr dann weiter ueber die Interstate 74 nach Indianapolis. So langsam habe ich das amerikanische Beschilderungssystem verstanden, es gab keine Probleme und ich fuhr mit kleinen Pausen durch bis zum “Indy Hostel” in Indianapolis.
Als ich da ankam, passierte etwas Seltsames: Ich oeffnete die Tuer zum Hostel und stand – wie bei einer Surprise Party – mitten im Augen des Hurricans einer brodelnden Hausparty. Leute standen rum mit Drinks und unterhielten sich, mir wurde Essen und Trinken angeboten und Wohnzimmer spielte eine Folkband in Hawaii-Hemden Songs von Woody Guthrie.
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Es stellte sich heraus, dass das Hostel und der Garten an diesem Abend vermietet worden waren und es sich tatsaechlich um eine Surprise-Party handelte, allerdings nicht fuer mich, sondern fuer Joe, der heute seinen 50. Geburtstag hatte. Zur Party eingeladen hatte mich seine Frau und, weil sich viele der Gaeste nicht kannten, war es kein Problem ins Gespraech zu kommen. Eine aeltere Dame erzaehlte mir, dass spaeter noch eine andere, professionellere Folk-Formation im Garten spielen wuerde und sie erzaehlte mir die Story von einem der Songs der Band und dass sie gefuellte Peppers mitgebracht haette und die solle ich doch unbedingt probieren. Ich war ziemlich bedient von 4h Autofahrt und lud mir erstmal eine Portion Jambalaya vom Buffet auf den Pappteller inkl. Peppers (war beides super) und dann begann auch schon das Konzert im Garten. Es spielten Tim Grimm (voc/git) und seine Frau (voc/harp). Sie leben seit vielen Jahren auf einer Farm in Indiana.
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Tim schreibt die Songs und sie performen immer zu zweit, sehr schoen. Interessant war die Mikrophonierung. Sie stehen herum um ein einziges, empfindliches Kondensatormikrophon in das sie beide singen und musizieren. Die Gitarre selbst wurde nur minimal mit dem Pickup verstaerkt. Das ist uebrigens seit Jahrzehnten gaengige Praxis bei einigen, puristischen Bluegrass Bands: Da werden teilweise regelrechte Choreographien ausgefuehrt damit immer der Saenger oder Solist vorne dran steht (Prinzip: durch die Mitte kommen, dann seitlich ausweichen). Das Konzert war wunderbar und sehr beruehrend.
Nach dem Konzert habe ich noch mit allen moeglichen Leuten gequatscht, auch mit den beiden Musikern. Sie haben schon in Europa gespielt, wir haben Adressen ausgetauscht und evtl. ergibt sich was, wenn sie das naechste Mal da sind. Habe auch eine CD von ihnen geschenkt bekommen, leider war der Song mit der tollen Story nicht drauf. Das hat die nette Dame mit den Peppers mitbekommen und hat mir die entsprechende CD gekauft und geschenkt, vielen Dank! Unfassbar: An einem und demselben Tag haben mir drei Menschen unabhaengig voneinander CDs mit Musik geschenkt, die ihnen sehr viel bedeutet. Der Song heisst uebrigens “Perfect Getaway” und ist auf der CD “Heart Land”.
Danach noch ein Absacker auf dem Front Porch mit dem harten Kern der Party (inkl. dem Geburtstagskind Joe). Bin dann um kurz nach 12 ins Bett, alles super, alles gut. Freue mich trotzdem langsam auf zu hause, morgen geht der Flieger.

3 Gedanken zu „Huntington – Indianapolis

  1. Wow, klingt alles sehr begeistert, scheint prima gelaufen zu sein, dein Trip. Du zeichnest hier das Bild einer ländlich-sittlichen, aber toleranten USA, das ich in den hiesigen Massenmedien aber nur selten finde. Die USA, das sind ja oft entweder durchgeknallte Großstadt-Intellektuelle, cracksüchtige Gangsta-Rapper und arschgeliftete KalifornierInnen – oder eben Bible-Belt-Betonköpfe, Scientologen, Mormonen, Rednecks. Dass es da noch ein paar mehr Varianten gibt bzw. geben müsste, ahnte ich wohl, aber du hast es mit deinen Artikeln jetzt auch bewiesen. Danke dafür – und guten Heimflug 🙂

    • @Stefan: Ja, war bis jetzt sehr gut, alles prima gelaufen. Ich werde den Verlauf des ganzen Trips nochmal abschliessend zusammenfassen, wenn ich wieder daheim bin. Es sind diesmal sehr viele Dinge gluecklich verlaufen und ich habe sehr viele, freundliche, interessierte und hilfsbereite Menschen kennengelernt. Dafuer bin ich sehr dankbar, haette evtl. auch anders kommen koennen. Habe meinen Teil beigetragen indem ich selbst auch versucht habe offen, interessiert und freundlich zu sein. Das faellt mir hier irgendwie leichter als zu Hause.

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