Tim Marshall ist britischer Journalist und Autor, bekannt für seine Analysen zu internationalen Diplomatie und geopolitischen Beziehungen. Das Buch „Prisoners of Geography“ erschien im Juli 2015 im englischen Original, zum Ende des Jahres veröffentlichte es dtv mit dem Titel „Die Macht der Biographie. Wie sich Weltpolitik anhand von 10 Karten erklären lässt“ in deutscher Übersetzung.
Marshall teilt die Welt in zehn Regionen und das Buch in eine entsprechende Anzahl von Kapitel: Russland, China, USA, Westeuropa, Afrika, Naher Osten, Indien und Pakistan, Korea und Japan, Lateinamerika, Arktis. Anhand von geographischen Gegebenheiten wie Küsten, Gebirgen, Flüssen, Wüsten, Ebenen etc. erklärt er historische Entwicklungen und politische Machtverhältnisse. Das ist eine fundamentale und interessante Herangehensweise, die einige außergewöhnliche Perspektiven eröffnet. Allerdings hat sich der Autor mit der Darstellung der Gegebenheiten und deren Auswirkungen auf allen Kontinenten und Landmassen und das noch dazu von der Frühzeit bis zur Moderne und unter Einbeziehung aktueller Phänomene dann doch etwas sehr viel vorgenommen. Immerhin beschränkt er sich dabei tatsächlich auf Geographie, das bietet dann zwar einerseits einen ungetrübten Blick, auf der anderen Seite bleiben jedoch konstituierende Faktoren wie Religion, Sprache, Klima, Vegetation, Kultur, Nation, etc. weitestgehend unberücksichtigt. Dadurch wirkt die Darstellung passagenweise schmalspurig und selektiv.
Marshall nimmt bei seinen Ausführungen eine erkennbar anglo-amerikanisch gefärbte Position ein. Ein Beispiel zum Umfang der Betrachtungen: Die deutsche Ausgabe widmet der Region Westeuropa eine kleinformatige, einfarbige Karte und ganze 20 Seiten Buchtext. Auf diesem eng bemessenen Raum werden die geographischen Lagen einiger exemplarischer Länder und deren Auswirkung auf Geschichte und Gesamtsituation erläutert. Deutschland werden etwas mehr als drei (3!) Buchseiten gewidmet. Erster und zweiter Weltkrieg werden gerade mal in einem Nebensatz erwähnt, das ist natürlich etwas wenig, denkt man sich als deutscher oder mitteleuropäischer Leser.
Auf den Punkt, aufschlussreich und interessant sind dagegen die Einblicke, die man in andere, etwas entfernte Regionen erhält, insbesondere in Gebiete, die nicht regelmäßig Orte von offen ausgetragenen Konflikten sind und daher meist nicht im Zentrum der medialen Berichterstattung stehen. Dazu gehören Afrika, Indien und Pakistan, Korea und Japan und die Arktis. Man bekommt bei der Lektüre des Buches eine Ahnung davon, was Regierungen und Bevölkerung in diesen Teile der Erde bewegt und erhält diverse Erklärungsversuche für vermeintlich schwer nachzuvollziehende Begebenheiten.
Marshall schreibt routiniert und zugänglich, pflegt dabei einen gut lesbaren, journalistischen Stil (hervorragend übersetzt von Birgit Brandau). Das Konzept geopolitische Entwicklungen anhand von Landkarten darzustellen ist ein interessanter und einleuchtender Ansatz, allerdings hat sich der Autor zu viel vorgenommen. Die Ausführungen sind – zumindest zum Teil – oberflächlich und lückenhaft und allesamt zu knapp geraten. Aktuellen, politischen Entwicklungen (z.B. Russland, Ukraine, Türkei) räumt er dagegen deutlich zu viel Raum ein und lässt durch Gewichtungen (ganz unjournalistisch) seine eigene Meinung erkennen. In den Literaturangaben am Ende des Buches sind nur wenige, darunter viel zu viele journalistische Texte angegeben (zu „Westeuropa“ z.B. fast ausschließlich anglo-amerikanische Quellen, zu „Deutschland“ nur ein (1!) Text von Helmut Kohl, erschienen als Beitrag in der Bildzeitung 2012).
Das gebundene Buch erscheint im dtv Verlag, hat 304 Seiten und kostet 22,90 Euro.
Der Titel allein wäre mir schon verdächtig. Komplexe Sachverhalte auf einige wenige Faktoren runterzubrechen ist für mich kritisch und lädt mich nicht ein.