Klaus Bittermann ist deutscher Autor und Verleger u.a. im eigenen Tiamat-Verlag in Berlin. Hier agiert er auch als Herausgeber der Reihe Critica Diabolis in der bereits weit über 200 Bücher unterschiedlichster Couleur, aber immer mit deutlich erkennbarem Indie-Touch erschienen sind. Diesmal hat sich Bittermann nach langer Zeit mal wieder die literarische Großform des Romans vorgenommen. Ausgangspunkt dazu war eine uralte Zeitungsnotiz über ein 16-jähriges Mädchen und einen 17-jährigen Jungen, die von zu Hause ausreißen und sich monatelang in Süddeutschland, Österreich und Norditalien als Betrüger und Hoteldiebe durchschlagen. Dabei hätten die beiden unterschiedlicher kaum sein können: Nancy stammt aus adligem Hause, kennt sich bestens aus mit den Gepflogenheiten von Luxushotels, der Modebranche und europäischen Metropolen. Sid ist der spargeldünne Sohn eines versoffenen Boxers, liebt Punkmusik und hat keine Ahnung von der großen, weiten Welt. Zusammen ergeben sie aber ein gutes Team, Nancy ist die Anführerin, Sid geht gerne hinterher, lässt sich von ihr mit teuren Designerklamotten einkleiden, bewundert ihre Eloquenz und gesellschaftliche Gewandtheit, verliebt sich im Verlauf des Tripps in seine Kumpanin. Im Gegenzug spielt er ihr seine Lieblingsmusik vor, nimmt sie mit zu Konzerten und ist durch seine Unerfahrenheit und Lustlosigkeit die fleischgewordene Coolness. Ihr planloser Roadtrip im Mitteleuropa der frühen 1980er Jahre führt sie von Stadt zu Stadt, immer wieder entkommen sie nur knapp ihren Verfolgern. Polizei, Privatdektive und Bestohlene sind ihnen auf den Fersen. Sie verlieren sich bei überstürzten Fluchten, finden sich wieder, lernen sich im Lauf der Zeit gegenseitig zu schätzen und zu lieben, doch eines Tages passiert das Unvermeidliche. Sie werden während einer Routinekontrolle aufgegriffen, landen getrennt in Untersuchungshaft, werden an die BRD ausgeliefert und es kommt zu Prozess und Verurteilung. Sid sieht Nancy jahrelang nicht wieder, weiß nichts über ihren Verbleib, hat keine Adresse, lebt nach seiner Freilassung als Wehrdienstverweigerer ein irrlichterndes Hausbesetzerleben im Berlin kurz vor dem Mauerfall, bis er sich vornimmt sich auf die Suche zu machen und Nancy wieder zu finden.
Bittermann hat die erwähnte, reale Zeitungsnotiz mächtig ausgebaut. Der Roman basiert auf fiktiven, zum Teil – so darf vermutet werden – wohl auch autobiographischen Anteilen (Süddeutschland, Berlin). Er verbindet Elemente von klassischem Entwicklungsroman, moderner Coming-of-Age-Erzählung, Popliteratur (Musik & Mode) und bundesrepublikanischer Geschichte (RAF, Berlin). Es stellen sich Assoziationen ein zu den Romanen „Fänger im Roggen“ von Salinger (Verlorenheit), „American Psycho“ von Bret Easton Ellis (Musik & Mode), aber auch zu „Faserland“ (nomadisches Reisen, Teilnahmslosigkeit) von Christian Kracht und „Tschick“ (Roadtrip durch BRD, Paar aus unterschiedlichen sozialen Gesellschaftsschichten) von Wolfgang Herrndorf. Insgesamt und gerade zum Ende hin spannend und interessant zu lesen, aber Bittermann ist nicht konsequent und kann sich bezüglich seiner inhaltlichen Ausrichtung nicht klar entscheiden. Bestes Beispiel dafür ist der immer wieder auftauchende Schutzengel Sids, der an manchen Stellen des Romans willkürlich in die Handlung eingreift. Ähnlich unklar auch die bundesrepublikanischen und popmusikalischen Bezüge, sie sind nicht verkehrt, wirken allerdings etwas aus der Luft gegriffen, vielleicht sind sie aber auch einfach nur zu alt und vergangenen, als dass man heute eindeutige Bedeutungen von ihnen ableiten könnte. Sehr stark dagegen ist Bittermann in den für ihn so typischen Klein- und Kleinstformen. Immer dann, wenn einzelne Personen charakterisiert werden und/oder isolierte Handlungsstränge auf engstem Raum erzählt werden, wirkt der Roman gekonnt komponiert, einfallsreich und sehr überzeugend.
Fazit: Ein absolut lesenswerter Roman des legendären „Underground-Verlegers“, sehr unterhaltsame Sommerferienlektüre. Das Buch erscheint bei Edition Tiamat, hat 238 Seiten und kostet broschiert 18 Euro.