Harry Lehmann ist Kunstphilosoph und Autor von Büchern, Aufsätzen und Essays. Er studierte nacheinander Physik und Philosophie in Sankt Petersburg (RU), Berlin (BRD) und Leeds (GB). In den vergangenen Jahren erschienen „Die flüchtige Wahrheit der Kunst“ (2006), „Autonome Kunstkritik“ (Hg., 2012) und „Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie“ (2013). Nun hat er mit „Gehaltsästhetik“ einen eigenen Entwurf einer breit angelegten Kunstphilosophie vorgelegt, die neben Musik auch bildende Kunst, Literatur, Architektur etc. umfasst.
Lehmann betrachtet darin exemplarisch nicht nur diverse Kunstsparten, sondern entwickelt seine Erkenntnisse anhand einer Evolutionsgeschichte der hochkulturellen Künste, die sich über mehrere Jahrtausende von der Steinzeit bis zur Gegenwart und ausgehend von Mitteleuropa um den gesamten Globus, angefangen von Mitteleuropa bis Nordamerika und China, erstreckt. Angesicht dieses irrwitzigen Pensums ist die Schrift mit gut 230 Seiten plus Anhang geradezu kompakt, allerdings auch äußert dicht ausgefallen. Man kann dieses Büchlein nicht lesen, man muss es durcharbeiten, kommt dabei immer nur Abschnittsweise voran, muss durchdenken, reflektieren, nachlesen, eventuell mit anderen Interessierten darüber sprechen und dann Stück für Stück weiter machen. Doch die Mühe lohnt sich: Lehmanns Betrachtungen sind sinnvoll und nachvollziehbar, anregend und spannend, komplex und faszinierend in ihrer Gültigkeit.
Das Buch beginnt mit einem kurzen Vorwort, danach folgen die vier Kapitel Erfahrung, Eigenwerte, Übertragungswerte und Reflexionswerte. Die ersten drei Kapitel dienen zur Einführung in Lehmanns prinzipielle Sichtweise, hier wird das kunstphilosophische Fundament gelegt für den nachfolgenden Hauptteil, in dem es ausführlich um konzeptuelle Künste und Gehaltsästhetik geht.
Lehmanns Kunstphilosophie ist gründlich und bis zum Ende durchdacht und das lässt sich unter anderem daran erkennen, dass er komplizierte Sachverhalte mit einigen wenigen gut gewählten und prägnanten Beispielen auf engstem Raum veranschaulichen kann. Es changiert elegant zwischen verschiedenen Kunstsparten um die Allgemeingültigkeit seiner grundsätzlichen Aussagen verständlich zumachen. Untermauert werden die Ausführungen meist noch mit zusammenfassenden modellhaften Darstellungen, die einen geordneten Überblick bieten und im Gedächtnis des Lesers haften bleiben. Beispiele aus den bildenden Künsten werden zusätzlich bildlich dargestellt, allerdings leider nur kleinformatig und in s/w, das ist etwas schade. Gedichte sind abgedruckt, Musik lässt vermutlich im Internet finden, wenn man danach sucht.
Zusammen ergeben die Ausführungen und Beispiele einen klug strukturierten Einblick in die Kunstphilosophie des Autors. Dass so eine Ausführung komplex und mitunter schwierig zu lesen ist, liegt in der Natur der Sache und ist kein Nachteil. Bemängeln ließe sich allenfalls, dass alle genannten Beispiele aus den anerkannten Hochkulturen der Weltgeschichte stammen. Populärkultur aus Musik, Film, Games, Internet ist leider überhaupt nicht vertreten, dabei wäre es doch sehr spannend gewesen, ob sich die neue Kunstphilosophie auch auf zeitgenössische Kommerz- und Massenkultur anwenden lässt. Hier zieht der Autor eine unsichtbare, nicht erkennbare Grenze, obwohl die Übergänge zwischen den Kulturbereichen erkanntermaßen längst fließend und durchlässig geworden sind. Aber vielleicht ist das eine Aufgabe für den Leser, die der Autor noch übrig lassen wollte. Wenn der Leser sich bis zum Schluss durchgearbeitet hat, ist er für eigenständige, kunstphilosophische Analysen bestens gewappnet.
Das Taschenbuch erscheint bei Wilhelm Fink, hat 261 Seiten und kostet 19,90 €.
Videovortrag: Gehaltsästhetik – Eine Kunstphilosophie