Man könnte annehmen, dass es eigentlich längst mehr als genügend biographische Veröffentlichungen über den US-amerikanischen Countrymusiker Johnny Cash gibt. Er selbst veröffentlichte bereits zu Lebzeiten zwei (!) Autobiographien („Man in Black“, 1975; „Cash: The Autobiography“, 1997), posthum erschien zusätzlich eine autobiographische Textsammlung („Recollections“, 2014). Dazu Erinnerungen und ergänzende Texte von Familie, Freunden und Mitarbeitern, so z.B. von June Carter Cash: „Among my Klediments“, 1979; „From the Heart“, 1987, Rosanne Cash: „Composed: A Memoir“, 2010, John Carter Cash: „Anchored in Love“, 2007, Vivian Cash: My life with Johnny“, 2007, Marshall Grant: „My Life with Johnny Cash“, 2006. Zusätzlich gibt es ein populäres Bio-Pic („Walk the Line“, 2005) und unzählige Dokumentationen. Sucht man außerhalb der USA nach Literatur zu und über Johnny Cash wird bald klar, dass in vielen westlichen Ländern ein große Zahl von Spezialisten zum Thema veröffentlicht haben und in regelmäßigen Abständen unterschiedliche Lesarten des popkulturellen Phänomens Cash anbieten (in Deutschland z.B. Franz Dobler: „The Beast in me“, 2002/04, Reinhard Kleist: „I see a Darkness“, 2006 etc.) Es würde also durchaus eine Weile dauern allein diese naheliegenden Veröffentlichungen zu lesen um sich an das Thema heranzuarbeiten.
Der renommierte US-amerikanische Journalist und Autor Robert Hilburn hat im Jahr 2013 seine umfangreiche, eigene Cash-Biographie vorgelegt. Drei Jahre später, im Oktober 2016, erscheint sie nun auf gewichtigen 832 Seiten in deutscher Übersetzung (von Henning Dedekind & Werner Roller) im Berlin Verlag. Hilburn hat dafür bekannte und viele weit reichende Quellen konsultiert und zusätzlich unzählige Gespräche mit Freunden, Bekannten und Kollegen geführt. Er hat Bibliotheken und Archive besucht und ihm wurde Zugang zu zum Teil sehr persönlichen Sammlungen und Informationen gewährt (Sammlung Rosanne Cash, Sammlung John Carter Cash). Zusätzlich konnte er seine Erkenntnisse auf Interviews aufbauen, die er selbst in der Funktion als Musikjournalist mit Cash selbst und Angehörigen über mehrere Jahrzehnte hinweg immer wieder geführt hat.
Die Biographie ist in fünf Kapitel und etliche Unterkapitel unterteilt, verläuft streng chronologisch und beginnt ohne lange Vorgeschichte mit Cashs Kindheit in Dyess, Arkansas. Die Familie ist gläubig und arm, eine im Süden oft anzutreffende Kombination, die Eltern arbeiten hart, schaffen es aber kaum sich aus den Schulden herauszuarbeiten. Einzige Lichtblicke sind ihr unerschütterlicher baptistischer Glaube und die positive Strahlkraft der Musik: Im Hause Cash wird viel gesungen und Radio gehört. Erster heftiger Einschnitt im Leben des jungen Cash ist der Unfalltod seines großen, charismatischen Bruders Ray, der ihn sein ganzes Lebend lang beschäftigen wird. Nach ein paar unrühmlichen Irr- und Umwegen geht Cash zum Militär, macht dort eine Ausbildung zum Funker und verbringt als Soldat mehrere Jahre in Landsberg, Deutschland. Hier macht er erste, bescheidene musikalische Gehversuche. Erst nach seiner Rückkehr in die USA startet er ab 1955 seine musikalische Karriere, die bei der legendären SUN-Label ihren Anfang nimmt.
Hilburn informiert sehr sachlich, informiert und detailreich, eigenen Interpretation räumt er nur hin und wieder etwas Platz ein. Immer wieder flechtet er direkte Aussagen aus Interviews und Gesprächen mit Beteiligten in den laufenden Text mit ein. Obwohl der Text lang und ausführlich ist, ist er an keiner Stelle langweilig oder ausufernd. Klug platziert der Autor auch immer wieder kleine thematische Exkurse, die dem Leser die Alltagswirklichkeit und Verhältnisse der zeitgenössischen Musikszene vergegenwärtigen. Ein klein wenig mehr eigene Sichtweise hätten dem Ganzen noch etwas mehr Charakter gegeben, aber das ist nicht Hilburns Herangehensweise. Er sieht sich in der Rolle des nüchternen Chronisten.
Besonders interessant dürften für die meisten Leser insbesondere die Passagen ab Anfang der 1990er Jahre sein. Kurz zuvor lässt sein Label Columbia den Vertrag auslaufen, Cash ist somit vertragslos und befindet sich auch künstlerisch an einem deutlich erkennbaren Tiefpunkt. Erst die gar nicht naheliegende Zusammenarbeit mit dem außergewöhnlichen Musikproduzenten Rick Rubin hilft ihm wieder auf die Füße und es folgt mit seinem Alterswerk, den American Recordings, eine Albumserie, mit der so wohl niemand mehr gerechnet hätte, am wenigsten vielleicht sogar Cash selbst.
Der Autor hat seine Quellen im Anhang ausführlich dokumentiert. Selbst eingefleischt Cashfans dürften hier noch auf die ein oder andere Anregung stoßen. Das Buch enthält einige seltene, kleinformatige s/w-Abdrucke u.a. aus den Sammlungen Rosanne Cash und John Carter Cash. Das gebundene Buch erscheint im Berlin Verlag, hat 832 Seiten und kostet 34,00 Euro.
Wer an einer berühmten/bedeutenden Person (seines Fachs) interessiert ist, kann an Ergänzungen nicht vorbeigehen.
Ich kenne das zur Genüge 🙂
@Gerhard: War zu meiner Überraschung auch ein „good read“, kein bisschen langweilig.
naja, langweilig kann es werden, wenn man beständig an für den Kenner sattsam bekannten Details entlang geführt wird. Da muß man als Leser aufpassen, nicht die „Rosinen“ zu versäumen 🙂