Wenn man in den 1980er oder 1990er Jahren in Deutschland das Spiel der klassischen Gitarre erlernen wollte, waren die Lehrwerke „Gitarrenschule“ (1977) von Dieter Kreidler und „Die neue Gitarrenschule“ (1984) von Heinz Teuchert die Standardunterrichtswerke der meisten Instrumentallehrer. Beide Publikationen wurden später durch weitere Bände und ergänzende Spielhefte erweitert und zeichnen sich aus durch einen – aus heutiger Sicht – sehr trockenen und akademischen Zugang. Wenn man bedenkt, dass die Zielgruppe wohl hauptsächlich aus Kindern und Jugendlichen im Alter von 8-16 Jahren bestand, ist erstaunlich wie humorlos und textlastig Beschreibungen und methodischer Aufbau sind und wie uninspiriert und rückwärtsgewandt die Auswahl der musikalischen Stückchen. Sie bestand, wohl um Lizenzgebühren zu sparen, fast ausnahmslos aus uralten Kinderliedern und internationaler Folklore von anno dunnemal. So wurde vermutlich vielen Gitarristen der Spaß an der klassischer Gitarre schon im Ansatz ausgetrieben. Ein kleiner Lichtblick waren da die Arrangements von Beatles-Songs am Ende des ersten Bandes der Gitarrenschule von Dieter Kreidler (wenn man so lange durchgehalten hatte). Zwischen „Yankee Doodle Dandee“, „Oh, when the Saints“ und „Swing Low“ fanden sich die Arrangements von „Yesterday“ und „Yellow Submarine“, die damals freilich auch schon einige Jahre auf dem Buckel hatten, aber immerhin, es war ein Hinweis darauf, dass sich auf der klassischen Gitarre sehr wohl Bezüge zu halbwegs modernen und/oder popmusikalischen Inhalten herstellen ließ, wenn man denn wollte.
Im Jahr 1977 erschien die Sammlung „Beatles-Songs & Traditionals“ mit sieben kleinen Arrangements von Beatlesmelodien für klassische Gitarre. 40 Jahre später, im Jahr 2017, wurde diese Heftchen nun in überarbeiteter und erweiterter Form wiederveröffentlicht. Die Beatles-Songs wurden durch „Yesterday“ (aus Kreidlers „Gitarrenschule 1“) „erweitert“, einige Traditionals sind rausgeflogen und wurden durch andere ersetzt, hinzu kommt die schwache Komposition „Fab Four“ von Kreidler selbst, die eine Hommage an die vier Liverpooler sein soll, aber eher wirkt wie aus einer Verlegenheit entstanden. Wozu kompositorisch nachempfinden, wenn so viele interessante Originalvorlagen bereit stehen?
Die Arrangements waren bereits zur Zeit ihrer Erstveröffentlichung gut gelungen und transportieren recht ordentlich die musikalischen Ideen der zugrundeliegenden Popsongs in kleinster Besetzung. Sie stehen allerdings spieltechnisch voll und ganz in der Tradition der klassischen Spielweise. Selbst kompositorisch altmodische Beatles-Songs wie „Lady Madonna“ oder „When I’m Sixty-Four“ wurden nicht in der damals bereits längst etablierten Klangsprache der Guitar-Ragtime oder des Folkpicking arrangiert. Alle Arrangements erscheinen als traditionelle Notation mit guten und übersichtlichen Fingersätzen und eine Zeile drunter nocheinmal in Tabulatur (einzige erwähnenswerte Erweiterung der Neuauflage).
Etwas unpassend erscheinen in der Sammlung die ausgewählten Traditionals, die weder in der alten, noch in der neuen Ausgabe irgendetwas mit den Beatles oder ihrem musikalischen Umfeld zu tun haben. Warum nicht 3-4 neue Arrangements von Beatles-Songs (z.B. „Free as a Bird“) dazugenommen wurden oder wenigstens Traditionals ausgewählt wurden, bei denen ein musikhistorischer Zusammenhang zu erkennen gewesen wäre (z.B. „My Bonnie“, „Besame Mucho“ etc.) bleibt wohl das Geheimnis des Arrangeurs und Herausgebers. Zeit genug für ein paar neue Angebote hätte er in den dazwischen liegenden 40 Jahren wohl mehr als genug gehabt. Wenn man diesen Hintergrund kennt, erscheint die aktuelle Neu/Wiederausgabe etwas lieblos und unterambitioniert. Die alten Arrangements dieser uralten Songs klingen freilich immer noch gut. Bleibt nur die Frage, ob die heute noch jemand spielen will.
Versuche mir gerade vorzustellen, wie ich als junger Schüler reagiert hätte, wenn man mir im Instrumentalunterricht 40 Jahre alte Arrangements von 50 Jahre alten Popsongs auf’s Pult gestellt hätte. Die Begeisterung wäre wohl mäßig gewesen. Vielleicht besteht die anvisierte Zielgruppe dieses Heftchens aber auch aus den ehemaligen Gitarrenschülern der 1980er und 1990er Jahre. Das würde dann einen Sinn ergeben. Hier eine Liste des Inhalts:
Beatles-Songs
Yesterday
Norwegian Wood
Michelle
Lady Madonna
Penny Lane
For No One
When I’m Sixty-Four
And I Love Her
Traditionals
Dark Eyes
We Shall Overcome
Fab Four
Das Notenheft umfasst acht Arrangements von Beatles-Songs für klassische Gitarre, zwei Volkslieder und eine Eigenkomposition des Arrangeurs auf 27 Seiten. Es erscheint bei Schott und kostet 15 €.