Interview mit Dieter Kreidler, Teil 1

Dieter Kreidler ist klassischer Gitarrist und Instrumentalpädagoge. Von den 1970erJahren bis heute leistete er mit diversen Veröffentlichungen (z.B. „Gitarrenschule“, Schott) wertvolle Pionierarbeit für die deutsche Gitarrenpädagogik. 1975-2009 war Kreidler Professor für Gitarre an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, Standort Wuppertal.
Das Interview fand in schriftlicher Form im April 2017 statt und wurde geführt von Dr. Dennis Schütze.

F: Herr Prof. Kreidler, was hat sie als junger Mensch zum Instrument Gitarre hingezogen? Und wie haben sie das Instrument erlernt? Gab es damals etwas wie eine etablierte Lehrmethode für klassische Gitarre?

A.: Meine musikalische Sozialisation fand im Elternhaus durch Hausmusik statt (Vater Mandoline, Bruder Gitarre und die Mutter hatte eine schöne und klare Sopranstimme).
So stand auch zunächst das Singen -als Ausdruck meiner Liebe zur Musik- im Vordergrund und ich erfreute a cappella sowohl meine Eltern als auch die Nachbarn (vor dem abendlichen Einschlafen) mit Volkliedern und Schlagern (Caterina Valente: „Ganz Paris träumt von der Liebe…“) Die nächsten Stationen waren die Mitgliedschaft im Düsseldorfer Knabenchor und der Besitz einer Blockflöte, die ich recht schnell autodidaktisch zu blasen verstand. Wegen des auch damals schon erschwinglichen Kaufpreises für eine kleine Höfner-Gitarre, beschloss der Familienrat, dass der kleine Dieter doch jetzt „richtigen“ Unterricht erhalten sollte. So ging ich mit großer Lust und regelmäßig zu einer Privatmusiklehrerin, die als ausgewiesene Musiklehrerin die Fächer Klavier (auch Harmonium), Blockflöte, Gitarre und Laute unterrichtete. Das gängige Schulwerk war die Walter Götze-Gitarrenschule (Schott-Music), die, wie ich später erfuhr, absolut marktbeherrschend war. Ich kam schnell voran und so konnte ich nach wenigen Monaten bereits erste Solostücke spielen und beherrschte für die einfache Liedbegleitung schon einige Akkorde.

Meine Neugier für das Instrument war vollends geweckt, als ich in einem Meisterkonzert im Robert-Schumann-Saal in Düsseldorf Andrés Segovia hörte. Das war ein musikalisches Schlüsselerlebnis, diese instrumentale Meisterschaft in der Darstellung von Kompositionen von Bach bis zur spanischen Nationalschule. Damals war der Saal mit 800 Zuhörern noch bis zum letzten Platz (auch hinter der Bühne vor der großen Orgel) gefüllt und so lauschten alle dem Meister bis zu nicht enden wollenden Zugaben!
Etwa zur gleichen Zeit entdeckte ich aber auch den Jazz über eine Schülerband und natürlich Django Reinhardt, als „der“ Gypsy-Virtuose. So war der Einstieg in das Instrumentalstudium am Robert-Schumann Konservatorium (1965) für mich mit einer nicht ganz unproblematischen Gratwanderung „zwischen den Stilen“ verbunden.

F: Sie haben klassische Gitarre bei Maritta Kersting in Düsseldorf studiert. Wie war das Studium zu diesem Zeitpunkt angelegt? Was waren gängige Repertoire- und Prüfungsstücke?

A.: Maritta Kersting hatte noch Laute bei Walter Gerwig studiert und dann Gitarre bei Karl Scheit in Wien. Beide herausragende Pädagogen prägten Maritta Kerstings stilsichere musikalische Geschmacksbildung. So war das Generalbass-Spiel und kontrapunktische Grundlagen bei Liedsätzen alter Meister noch Teil der Ausbildung und gehörte zu den selbstverständlichen Übungen und häuslichen Aufgabenstellungen. Die spieltechnischen Grundlagen für die Gitarrenstudenten wurden bei ihr durch eine strenge, didaktisch kompetent untermauerte Systematik erreicht. Beispielsweise in der gründlichen Unterweisung der bedeutenden Lehrwerke von Emilio Pujol (neben Miguel Llobet der exponierteste Schüler von Francisco Tárrega) und natürlich der Werke von Tárrega selbst. Diese mitunter „zähen“ Studien führten mittelfristig auch für mich nachvollzieh-und erlebbar zu einer wirklich unabhängigen Bedienung des Spielapparates von linker und rechter Hand. Für mein ganzes Berufsleben als Lehrer an Musikschulen und als Professor habe ich diese unverzichtbaren Technik-Bausteine schätzen gelernt und wende sie auch heute noch (mit Varianten aus eigener Spiel- und Erfahrungspraxis) an. Die große Zahl der erfolgreichen Absolventen aus meiner Klasse bestätigt heute die ganzheitliche Ausbildung am „Kunstinstrument Gitarre“ von der Einstimmigkeit zur Mehrstimmigkeit.

Das Repertoire bestand aus einem ausgewogenen Mix von stilbildenden Werken der Renaissance (John Dowland) des Barock (J.S. Bach, S.L. Weiss), schwerpunktmäßig Werke der Klassik (F. Sor, M. Giuliani, D. Aguado), Etüden und Präludien von Villa-Lobos, Werke der spanischen und südamerikanischen Nationalschule (M. de Falla, I. Albeniz, J. Turina, E. Granados, M. M. Ponce) der Klassischen Moderne (z.B. H. E. Apostel) und schließlich auch aus Werken der Neuen Musik wie das Nocturnal after John Dowland op.70 von Benjamin Britten oder auch die „Tentos“ von H.W..Henze. Hinzu kamen zentrale Werke der Kammermusik mit Gitarre aus der von Karl Scheit initiierten Edition Gitarre Kammer Musik- GKM) beim Doblinger Verlag.

Verglichen mit dem heutigen Notenmarkt hatten wir jedoch eine eher beschauliche und übersichtliche Auswahl an Originalliteratur insbesondere einer Anfänger-Unterrichtsliteratur für die doch in der Regel noch jungen Einsteiger in die Musikschulen.

F: Kurz nach dem Ende ihres Studiums wurden sie zum Professor in Wuppertal berufen und haben 1977 die zweibändige Reihe „Die Gitarrenschule“ und weitere Stückesammlungen (Schott) veröffentlicht. Was war ihre Motivation? Wie waren die Reaktionen? Wie würden sie die Schule aus heutiger Sicht bewerten?

A.: Damals wie heute klaffen die Erwartungen von Jugendlichen und Erwachsenen hinsichtlich der komplexen Ausdrucksformen auf der Gitarre weit auseinander.
Abo-Konzerte für Gitarre mit einem anspruchsvollen klassischen Repertoire waren die seltene Ausnahme in Meisterkonzerten (Andrés Segovia, Julian Bream, Los Romeros, Siegfried Behrend). Infolgedessen war es gerade für mich (mit meinem „Allround-Ansatz“) als angehender Gitarrenlehrer eine Herausforderung, dem sich rasch verändernden musikalischen Zeitgeist Rechnung zu tragen und durch neue Literaturangebote auch eigene Impulse zu setzen.

So entstanden -in Notation und Fingersatz an klassischen Ausgaben angelehnt – meine ersten populären Ausgaben „Beatles-Songs, Easy Rider (leichte Bluesstücke), Picking Blues, Schottische Lieder & Balladen, usw. Aus diesem Anfangserfolg resultierte dann der Auftrag des Schott-Verlages, die alte Götze-Schule durch ein zeitgemäßes Schulwerk zu ersetzen. Hier musste ich dann zunächst alle mir zur Verfügung stehenden Lehrwerke einem Crashtest unterziehen und didaktische Kriterien entwickeln. Ausgangspunkt waren die recht fortschrittlichen Publikationen von Karl Scheit und Erwin Schaller, deren Systematik mir einleuchtete.
Anderseits mussten in Nomenklatur und Layout neue Wege gegangen werden um die ambitionierten Amateurgitarristen, die Amateurpädagogen und die zum Studium drängende Generation zu erreichen. Ausgebildete (studierte) Gitarrenlehrer gab es nur vereinzelt in den stetig wachsenden (Jugend) Musikschulen. Erst 1969 wurde die Gitarre als Solokategorie in den Wettbewerb „Jugend musiziert“ aufgenommen. So hatte ich in den ersten Jahrzehnten meiner Hochschulprofession mit meinem Team alle Hände voll zu tun, um dem rasant wachsenden Bedarf an ausgebildeten Lehrern gerecht zu werden.

Mit meinem ersten Lehrwerk (1977) wollte ich für alle Interessierten einen didaktisch nachvollziehbaren Weg aufzeigen, wie in kleinen Lernschritten unter Einbeziehung von populären Stücken die Gitarre“ zu erlernen ist. Ergänzend entwickelte sich parallel hierzu die Publikationsreihe „Kreidler-Gitarrenstudio“. Für diese Heftreihe konnte ich nach und nach ambitionierte Kollegen begeistern, die für die jeweiligen Basis-Lernschritte des Lehrwerks eigene Ideen einbringen konnten. So entstanden zahlreiche wertvolle und praxisnahe Begleitmaterialien für den Unterricht. Das bis dahin weit verbreitete Spielen von Akkorden zur Liedbegleitung fand mit meinem Anspruch, ein technisch-künstlerisches und systematisches Curriculum zu entwickeln, daher erst viel später Berücksichtigung.

In den 1980er und 90er Jahren etablierte sich allmählich der Studiengang „Elementare Musikerziehung (EMP) an den Musikhochschulen und das Angebot Musikalische Früherziehung an den Musikschulen. Infolgedessen wurden am Hochschulstandort Wuppertal mit seinem traditionell starken Schwerpunkt für die Musikalische Früherziehung von einem Autorenteam Überlegungen angestellt, wie man Erkenntnisse und Grundlagen der Musikalischen Früherziehung in einen praxisnahen Transfer zur Gitarre durch „Stundenbilder“ übertragen kann. Dies wurde in einer überaus engagierten Teamleistung umgesetzt, die Mitglieder hatten allesamt Musikalische Früherziehung mit dem instrumentalen Hauptfach Gitarre studiert. Somit verfügten alle über eine hohes didaktisches wie instrumentales Knowhow. Diese für alle spannende Herausforderung fand schließlich ihren Niederschlag in dem heutigen Standartwerk „Los- geht´s!“(Schott-Music, 1993), als eines der ersten Lehrwerke für den frühinstrumentalen Beginn. Für mich, als Mitautor dieser Publikation, war durch dieses „hinführende“ Konzept die entwicklungsrelevante Zeit zwischen Kindergarten und Grundschule, instrumentalpädagogisch überbrückt.

F: Eine andere, weit verbreitete Gitarrenschule war „Die Neue Gitarrenschule“ (Ricordi) von Prof. Heinz Teuchert (Frankfurt). Was waren die konzeptionellen Unterschiede dieser beiden für viele Jahre dominierenden deutschen Lehrwerke?

A.: Wir sind heute weit entfernt von den damaligen, bisweilen ideologisch geführten „Schule-Kriegen“ Heinz Teuchert ging auf seine Weise und auch seiner musikalischen Sozialisation folgend einen konsequenten Weg. So erreicht er über das Erarbeiten der I. Lage , den damit verbundenen klanglichen Möglichkeiten ( leichtes Akkord-und Zerlegungsspiel) und kindgerechten Stücken, frühe Erfolgserlebnisse bei Anfängern und Erwachsenen. Mein Ansatz (wie auch schon bei Schaller-Scheit) war dagegen der Fünftonraum in der II. Lage. Die Muskulatur der linken Greifhand wird durch die auf allen Saitenpaaren zu realisierenden und dadurch transponierbaren Reihen konsequent ausgebildet.
Heutige und didaktisch solide Lehrwerke für Rock- und Jazzgitarre gehen ebenfalls wie selbstverständlich vom „Skalenspiel“ ohne Leersaiten aus. Durch Transposition sind dann Bezüge zu Intervallstrukturen, zur Harmonik und zum Aufbau der Applikatur der Gitarre methodisch und handwerklich wesentlich leichter umzusetzen. Darüber hinaus führt das Spielen in der II. Lage auf gegriffenen Saiten zu einem griffökonomisch und tonästhetisch anspruchsvollen Spielen und Hören von Anfang an (Legato-Spiel).

Teil zwei des Interviews folgt.

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