Buch: „Als wir für immer jung waren“ von Matthias Kalle

Matthias Kalle (*1975) studierte Journalistik, arbeitete für den SZ-Verlag und ist heute stellvertretender Chefredakteur des ZEITmagazins. In den letzten Jahren veröffentlichte er Bücher mit alltagsphilosophischen Betrachtungen („Verzichten auf“, „Erstmal für immer“, „Normal hält das“) aus verschiedenen bundesdeutschen Lebensbereichen. Im Frühjahr 2017 erschien sein neuestes Werk „Als wir für immer jung waren“, darin geht es um kollektive Kindheits- und Jugenderinnerungen der Generation X in anekdotischer Form.

Die Soziologie spricht bei Gruppen von Personen, die gemeinsam ein bestimmtes längerfristig prägendes Ereignis erlebt haben, von sogenannten Bevölkerungskohorten. Eine dieser Kohorten sind die Menschen, die zwischen 1965 bis ca. 1980 geboren wurden. Sie werden als Generation X bezeichnet (nach dem gleichnamigen Buch von Robert Capa). Zu dieser gehört auch der Autor und in seinem neuesten Buch erzählt er von den „prägenden Erinnerungen unserer Jugend“. Man könnte nun meinen, dass es da in einem Zeitraum von ca. 15 Jahren so unterschiedliche Erinnerungen geben muss, dass es schwer ist einen gemeinsamen Nenner zu finden. Ist aber nicht so, zumindest beim Rezensenten haben nahezu alle Themen Erinnerungen an persönliche Erlebnisse getriggert.

Kalle hat sich für seine Ausführungen rund 90 Themen vorgegeben, die in Einzelkapiteln näher betrachtet werden. Schon auf dem Cover des broschierten Buches werden einige davon fotografisch gestreift: Ein Sony-Walkman, eine Swatch-Uhr, eine Mixkassette, ein Poster zum Film „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, die erste Zigarette, ein Gameboy, ein Monchichi. Weitere Schlagworte aus dem Inhaltsverzeichnis sind beispielsweise Tschernobyl, Miami-Vice, Aids, E.T., Nike, La Boum, Ein Colt für alle Fälle, Pulp Fiction, Britpop, Boybands, Wetten, dass…?, Sitcoms, Harald Schmidt, MTV, Otto, Rocky, C64 und Star Wars. All diesen Begriffen widmet Kalle einige Seiten und schafft dabei das Kunststück seiner Betrachtung gleichzeitig individuell und allgemeingültig erscheinen zu lassen. Die Einzelartikel sind unterhaltsam und interessant, teilweise auch überraschend tiefsinnig. Maxim Biller bezeichnet die Textsammlung als „großes poetisches Erinnerungslexikon“ und das trifft es eigentlich ganz gut.

Literarischen Anspruch haben die Texte noch dazu. Der Autor formuliert abwechselnd in verschiedenen Personen (ich, du, er/sie/es, wir, ihr, sie) und Zeiten. Das wirkt allerdings keineswegs aufgesetzt oder konstruiert, sondern fügt sich elegant zu einem natürlichen Erzählfluss. Zum Großteil werden die eigenen Erinnerungen aufgefrischt, erweitert und vertieft. Manchmal erfährt man auch Details, die damals mangels Informationsquellen, komplett an einem vorbei gegangen sind. So klären sich ganz nebenbei auch subkulturelle Mysterien der eigenen Jugend, wie z.B. die Frage wie ein perfektes Mix-Tape dramaturgisch aufgebaut sein sollte oder wer die Schöne auf dem Filmplakat von „Betty Blue“ eigentlich war.

Fazit: Ein schönes Lese- und Erinnerungsbuch über die eigene Jugend in Westdeutschland. Dabei gar nicht arg sentimental, aber schon etwas nostalgisch und zwar auf die nette Weise. Vielleicht geht es in dem Buch genau um die Sachen, die übrig bleiben, wenn man auf seine alten Tage auf popkulturellen Skurrilitäten der eigenen Jugend in den 70ern und 80ern des letzten Jahrhunderts zurückblickt. Auf jeden Fall wunderbarer Lesestoff für die Generation X. Und erklärt eventuell auch einige weitere, seltsame Entwicklungen.

Das Buch erscheint bei Fischer, hat 364 Seiten und kostet glatte 14,99€.

27 Gedanken zu „Buch: „Als wir für immer jung waren“ von Matthias Kalle

  1. klingt super interessant und ist wie immer schön verfasst, aber als echter generation xer habe ich natürlich sofort wieder den „einen“ Fehler, den du immer für mich einbaust erkannt: es muss natürlich heissen wetten, dass und nicht wenn, dass – easy

    • @Bernhard: Ja, stimmt, du bist ein aufmerksamer Leser, das gefällt mir. Danke für die Korrekturvorschläge, sie sind willkommen, darfst du gerne weiterhin machen.

      @alle: Ohne weiteren Blick ins Inhaltsverzeichnis: Welche popkulturellen Phänomen haben eure Jugend geprägt? Mal sehen, ob es Überschneidungen gibt!

  2. hab heute erst einen artikel über das revival der compact cassette gelesen, ich hab sie alle aufgehoben ca. 500 stück, habe aber leider keinen player mehr im auto aber noch ein prima deck zuhause;
    pun is not dead
    mofas – was für scheiss dinger an chinarollern heute so rumfahren, das erste verbrennerfahrzeug war gaaaaanz wichtig – velo solex
    in ner band spielen war damals glaub ich auch noch mehr angesagt als heute, egal wie dillentantisch!
    vinyl natürlich – jede mark abgespart und rad gefahren , um die busfahrkarte zu sparen für die monatliche neuanschaffung;
    adidas sneaker blieben in meiner jugend lange ein traum, das hatte pro klasse nur ein popper;
    und natürlich alle anderen analogen dinge, die es so gab, wir waren auch die letzten, die noch analog sozialisiert wurden und nun voll digital leben, können und kennen aber noch analog!

    • @Bernhard: Danke für den Einblick: Ganz wichtige Gerätschaften für mich waren: BMX-Rad, Sony-Walkman, Dual Plattenspieler, Vollverstärker von Harman-Kardon, Levis 501, Gibson ES-335, Doc Martens Schuhe. Musste zum Teil lange drauf warten, bis ich mir die Träume erfüllen konnte (Martin Westerngitarre), manchmal hatten sie sich später aber auch schon längst erledigt.

      • sollte natürlich heissen „punk is not dead“ …ja klar ne stereoanlage war ein muss und je größer desto mehr prestige (mein erstes tapedeck nach dem uralt tonband meiner Mutter wg der Überspielerei von geliehenen LPs lief über ein Röhrenradio, erster richtiger verstärker war ein Luxman, Dual hatte ich natürlich auch vor nem Thorens, der mir gepimped bis heute die Treue hält; erster Bass Ibanez Jazzbass mit dem Motorrad geholt und später auf fretless umgebaut; Klamotten waren auch wichtig, aber auf nem anderen Level wie die Kids heute (Punk!)

  3. Platten ausleihen und auf Kassette überspielen und während dessen das ganze natürlich anhören. Heute ein click und irgendwo ist die Kopie. Und auch geil natürlich der erst vor einigen Jahren verstorbene Thomas Brennege (oder so ähnlich) mit den Schlagern der Woche. Immer wieder Freitags:Vor dem Radio sitzen , Luft anhalten und mit dem kleinen Kassettenrecorder aufnehmen von der Box.

  4. Pogo Tanzen im Falkenhof; Zuckerwasserhaar; London Calling in der Ente;
    Popper kloppen im Bäulke; Zoff mit`m Meister ( mit den Haaren gehst du nicht auf Arbeit) Haut die Bullen flach wie Stullen; Haste mal ne Mark; Scheiß Cassettenrecorder hat mein Sexpistolstape gefressen; No Future…….

  5. Faka: legendäres Jugendzentrum im Falkenhaus, dh hinten drin am Falkenhof – jetzt Bücherei; das war früher noch ein Schmuddeleck, da gab es ne Hähnchenbraterei im Hinterhaus vom Kaufhof und noch nen Hinterhof da war das Juze drin – damals viele Punks in Wü und eigentlich der einzig akzeptable Ort, wenn man „richtige“ als Rockmusik hören wollte und natürlich Punk.

    • @Bernhard: Wann und warum hat der Laden zugemacht? Ein bisschen Jugendsubkultur im Würzburger Stadtkern wäre heute auf jeden Fall wünschenswert.

      Persönliche Frage: Warst du damals einer der Punks?

  6. der wurde Anfang der 90iger geschlossen als das Falkenhaus zur Bücherei umgebaut wurde, dafür gabs dann den Bechtolsheimer Hof als Ersatz; sagen wir s mal so angepunked, witzige Frisuren und Klamotten, damit konnte man damals noch gut in der Gesellschaft provozieren; war ja nie so auf eine Richtung festgelegt, aber Punk spielte definitiv eine wichtige Rolle in meiner musikalischen Sozialisation (Sex Pistols, Dead Kennedys, Billy Bragg, frühe Hosen, Slime…)

  7. So, mir fällt auch noch was ein: Rosarote Grobstrickpullover, Doc Morris, morgens Schule schwänzen und im Keller des Kumpels heimlich Bier trinken, Reagan statt Sonne und und und. Der Rest bleibt mein Geheimnis……

    • Zum Thema Schuhe fällt mir gerade ein indianisches Sprichwort ein:

      „Before you criticize someone, walk a mile in their shoes. That way, when you do criticize him, you’ll be a mile away and you’ll have his shoes.“

  8. @Alle: gestern ist mit noch was eingefallen: Rubik’s Cube, der Zauberwürfel, gleich bestellt, heute kam er mit der Post, gleich mit den Kinder dran gehockt, zum ersten Mal so’n Teil in die Hand genommen, man ist das komplex, selbst mit Anleitung, mal sehen, ob wir’s über’s WE schaffen. Endlich kann ich diese nostalgische Erinnerung meiner Jugend praktisch aufarbeiten.

          • Hab den Cube jetzet dreimal mit Anleitung gelöst, werde dabei immer schneller, weil die Formeln langsam sitzen. Aus eigener Kraft ohne Lösungsanleitung ist das wohl kaum möglich und das enttäuscht mich irgendwie. Einen vorgegebenen Lösungsweg in einer leichten Variante nachzubauen ist für mich unbefriedigend.

            Aber vielleicht ist es so auch in anderen Bereichen des Lebens und der Kunst: Man variiert bereits bestehende Vorgehensmodelle. Nur fällt es mir beim Zauberwürfel extrem auf, wie langweilig das wird, man kann sich eigentlich nur durch Schnelligkeit von anderen absetzen kann. Den Parameter konnte ich noch nie leiden. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Ideallösung vorgegeben ist das keine Abweichung akzeptiert wird, das ist in anderen Bereichen zum Glück nicht so, deswegen lieber Musik als Mathematik.

            Heute Morgen schrie meine jüngste Tochter wütend durch die Wohnung: „Wer hat sich eigentlich dieses Scheiß-Mathe ausgedacht?“ Ich konnte ihr die berechtigte Frage nicht beantworten und verhielt mich ganz still.

  9. die Antwort auf Mathe kann ich dir geben; die Welt ist Mathematik!! Wenn einer meist ein Lehrer, der das auch als Last sieht nicht vermitteln kann, dann liegts daran; auch dein Musik Dennis ist Mathematik in ihrer Grundlegung. Und mit dem Würfel lässt sich auch gut spielen, wenn man die Grundzüge und die dahinter stehende Logik erkannt hat beherrscht, hat mit Tempo dann auch nichts zu tun (ich hasse auch diese Griffbrettwichsereien)!

    • @Bernhard: Ich war selbst immer sehr gut in Mathematik, aber was das echte Leben angeht, da ist mir Berechnung zu langweilig und zu uninspirierend. Die unberechenbaren Dinge und Erlebnisse sind die entscheidende Würze, so ist es zumindest bei mir. Deswegen biin ich Musiker geworden, da passieren immer wieder Sachen, die einen kalt erwischen und komplett überraschen (gilt auch für das große Thema Familie).

      Bin mir sogar sicher, dass ich ein besserer Mathematiker als Musiker hätte werden können, aber der eigene, nicht vorherbestimmte Weg erschien mir von Angang an interessanter, als der logisch richtige und vermutlich vernünfigere.

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