Ana Zirner ist im Voralpenland aufgewachsen und arbeitet als freiberufliche Autorin, Kulturmanagerin und Regisseurin. Ihre diversen Wandertouren hat sie seit 2017 auf ihrem Blog anasways.com in Texten und Fotos dokumentiert. Nun hat sie mit „Alpensolo“ den Reisebericht ihrer Alpendurchquerung vom Sommer 2017 als Buch veröffentlicht. In zwei Monaten durchwanderte sie die Alpen von Ost nach West, knapp 2000km Wegstrecke durch fünf Länder und viele verschiedene Regionen.
Die Tour startet im Sieben Seen Tal in Slowenien, führt entlang der österreichisch-italienischen Grenze zum Zollnersee, dann in Italien weiter bis Bozen, von da zum Ortler und in die Schweiz, über Davos, Vals und Visp bis nach Chamonix nach Frankreich und weiter über Modane bis Grenoble. Während der gesamten Wanderung übernachtete Zirner vorzugsweise im Freien (Biwak), alternativ in Hütten, einige wenige Male auch in Pensionen oder kleinen Hotels.
Zirner wandert, dem Titel gemäß, die meiste Zeit alleine, nur punktuell hat sich Verwandtschaft (Eltern) und Freunde an ihrer Seite (anscheinend gab es einige Terminabsagen), hin und wieder sind fremde Weggenossen dabei, einige Male schließt sie sich für hochalpine Exkurse Gruppen unter der Leitung von erfahrenen Bergführern an. Zirner ist größtenteils Selbstversorgerin, hat ihr eigenes Essen dabei und isst zusätzlich auf Hütten, Wasser bezieht sie per Filter aus Quellen, Gebirgsbächen und Seen.
Von Anfang an hat man den Eindruck, dass Zirner mit der langen, kräftezehrenden und entbehrungsreichen Unternehmung ein nicht vorformuliertes Ziel verfolgt. Teilweise wirkt es wie Abkehr, Flucht, ein Bußgang oder eine Therapie um wieder Kontrolle über das eigene Leben zu erlangen. Dazu passt, dass die Wanderung in neun Etappen unterteilt wurde und mit mentalen Themen besetzt wurde: Atmen, Aufrichtigkeit, Aufgeschlossenheit, Entfaltung, Dialog, Geduld, Bescheidenheit, Erinnerung. Man hat unweigerlich den Eindruck, als ob im Leben vor Beginn der Wanderung ein Mangel dieser Themen geherrscht haben muss, genauer wird nicht darauf eingegangen, drum gibt es dafür leider bis zum Schluss auch keine offensichtliche Erklärung.
Gleichzeitig merkt man als Leser, dass Zirner, vermutlich nicht nur durch das Solowandern, extrem mit sich selbst beschäftigt ist. Sie erkennt die Welt fast immer nur in Bezug zur eigenen Person. Zu allem und jedem hat sie bereits eine vorgefertigte Meinung, bei Begegnungen entscheiden bereits die allerersten Sekunden über Sympathie oder Ablehnung, ein dazwischen gibt es irgendwie nicht. Alles wirkt sehr kategorisch und verbissen, fast nie mal einfach, locker und humorvoll. Besonders schwer haben es bei ihr Männer und ganz allgemein Personen, die die Dinge nicht ganz so ernst und schwer nehmen wie sie selbst. Das wird im Verlauf der Wanderung auch nicht besser, sondern eher schlimmer, nimmt manchmal groteske, teilweise auch unfreiwillig-komische Züge an. Sie ist aber immer wieder von extremen Gefühlen hin und hergerissen, das reicht von extrem euphorisch bis total niedergeschlagen, von fröhlich bis todtraurig, von glücklich bis am Boden zerstört und das alles gerne auch innerhalb kürzester Zeit. Mahlzeiten sind dann extrem köstlich oder quasi ungenießbar, gefiltertes Wasser schmeckt wie süßer Wein, sie spricht mit Tieren, macht um Menschen aber einen großen Bogen, schläft bei klirrender Kälte im Freien, muss in Supermärkten wegen der grellen Farben eine Sonnenbrille tragen, es ist alles furchtbar extrem.
Bei aller Naturverbundenheit, ist sie sich selbst manchmal erstaunlich fremd. Es wimmelt im Text von seltsamen Formulierungen wie „Mein Magen knurrt, denn er hat Hunger“ oder „Mein Füße sind mir wohlgesonnen“, so als ob einzelne Körperteile nicht mehr zum eigenen Selbst gehören, sondern ein Fremdkörper sind. Warum nicht „Ich habe Hunger“ oder „Meine Füße tun nicht weh“?
Bewundern muss man freilich ihren Durchhaltewillen, ihre mentale Kraft, die schiere Energieleistung, es erscheint schon fast wieder übermenschlich. Nur selten ändert sie ihre vorgefassten Pläne, eigentlich immer nur dann, wenn es wegen äußeren Faktoren (Witterung) anders gemacht werden muss. Jeden Morgen macht sie Yoga, checkt Smartphone und Fitnessarmband, macht Umwege, sucht Schlafplätze, nicht zu vergessen die Blogeinträge. So arg naturverbunden ist sie dann doch nicht, viel mehr höchst effizient von Sponsoren ausgerüstet, mit Care-Paketen, Energieriegeln, Karten, GPS. Hütten werden angerufen, Pensionen gebucht, Couch-Surfing, Soziale Medien, you name it. Muss sie mal einen Tag wegen schlechten Wetters rasten, hält sie es kaum aus, macht Tagestouren, ist genervt von Hüttenbetreibern oder anderen Wanderern, dann muss es weiter gehen, always on the run.
Nur hin und wieder lässt sie mal was durchblicken, z.B. in dem Teil wo sie total gefrustet von ihrer Arbeit als Regisseurin und der fehlenden Wertschätzung berichtet. Da wirkt sie dann für einen kurzen Augenblick menschlich und verwundbar, aber eigentlich sind doch die anderen Schuld und gleich danach geht’s doch planmäßig weiter und die Reise wird nüchtern bis zum Ende durchgezogen. Selbst ein gefährlicher Unfall und eine weitere unmittelbar anschließende Verletzung kann sie nicht aufhalten.
Zum Schluss des Textes gibt es keinen Blick zurück, keine Gedanken darüber, was der Weg und die Erfahrungen mit einem gemacht haben, auf welche Weise man verändert wurde, was man mit nach Hause nimmt, was davon übrigbleibt. Vielleicht ist die wirkliche Herausforderung für Ana Zirner gar nicht das Wandern in Gebirgen oder das Paddeln in Flüssen, sondern sich selbst so zu akzeptieren wie sie ist und ihren Platz in der widersprüchlichen, modernen Gesellschaft zu finden. Ständiger Aufbruch kann auch eine dauernde Flucht ohne Ziel sein. Und persönliches Glück findet sich nicht ausschließlich in Einsamkeit und Natur.
Das Buch hat in der Mitte farbige, zum Teil sehr stimmungsvolle Fotos. Im vorderen und hinteren Umschlag ist es mit einer kompakten Karte ausgestattet, die einen die Route kartographisch mitverfolgen lassen. Einen Blog mit Berichten von dieser und weiteren Reisen findet sich unter anasways.com
Das Buch erscheint bei Malik, hat 266 Seiten und kostet 20€.