Auf Jürgen Roth wurde ich aufmerksam durch das äußerst empfehlenswerte Buch „Die Reise durch Franken“ (2014), das er zusammen mit dem mittelfränkischen Extrem-Kabarettisten Matthias Egersdörfer in Briefromanform verfasste. Da präsentierte er sich als sorgfältiger Rechercheur, aufmerksamer Beobachter und geistreicher Chronist der gemeinsamen Erlebnisse. „Die Reise“ war für Egersdörfer sein Debut als Buchautor, Roth dagegen schreibt und veröffentlicht bereits seit den späten 1990er Jahren in einer beachtlichen thematischen Breite. Als Abkömmling der Neuen Frankfurter Schule um Eckhard Henscheid („Trilogie des laufenden Schwachsinns“ (1973/77/78) sind immer wieder behandelte Themen seiner Betrachtungen: Fußball, Bier, Wurst, Wirtshauskultur, sowie Naturbetrachtungen und Vogelkunde. Er veröffentlicht regelmäßig kulturkritische und politische Beiträge in z.B. konkret, in der jungen neuen Welt, taz, Titanic und anderen Publikationen. Mit „Vielleicht Hunsrück“ (2020) hat Jürgen Roth ein Buch veröffentlicht, das er selbst in der Gattung Jahresroman verortet. „Man könnte sagen: ein Gegenwartsentwicklungsroman, ein Protokollroman, eine Fetzenroman, ein Lumpensammlungsroman. Oder: ein Journal.“
„Vielleicht Hunsrück“ ist genaugenommen allerdings alles andere als ein Roman. Entstanden ist die Textsammlung von Ende August 2016 bis Ende August 2017, umfasst also genau ein Jahr von einem Spätsommer zum nächsten. Darin enthalten sind Gedanken, Zitate, Kurztexte, Aphorismen, Gedichte, Provokationen, satirische, sarkastische, glossenhafte, dadaistische Fetzen. Eine Sammlung von tagesaktuellem Stream-of-Consciousness, der unter Normalbedingungen wohl dauerhaft bei vielen Autoren/Menschen stattfindet, aber selten bis nie so akribisch festgehalten und betrachtet werden kann. Die Kurztexte speisen sich aus der Lektüre von Tagespresse und Onlinemedien, TV-Sendungen, Büchern, privater Korrespondenz, flüchtigen Gesprächen, Alltagsbeobachtungen z.B. bei (Wald-)Spaziergängen oder Kneipenbesuchen. Anscheinend hatte Roth in diesen 12 Monaten immer und überall ein Notizbuch oder ein Diktiergerät dabei, ansonsten würden die meisten dieser Zitate und Beobachtungen verloren gehen, bevor sie irgendjemand zu Papier bringen könnte. In den zum Teil zufälligen, willkürlichen, von außen eingetragenen Gedankenspielen tauchen auch Themen auf, die sich im Verlauf des Textes immer mehr zu Dauerbrennern entwickeln, die Roth anscheinend dauerhaft beschäftigen und die er, je nach Tagesform, aus verschieden Perspektiven betrachtet. Dazu gehören z.B. neo-liberale gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland und Europa, Auswirkungen von Turbokapitalismus auf Menschen und Umwelt, gesellschaftspolitische Entwicklungen in der Türkei, Bildungspolitik und Verdummung der Menschen durch „Soziale Medien“. Einen ganz besonderen Stellenwert räumt er dem Verschwinden natürlicher Habitate, dem Insekten-, Vögel- und Artensterben ein, auf das er immer wieder zurückkommt. Wütend, ohnmächtig, ratlos, resignierend, man leidet als Leser mit ihm, es sind dramatische Passagen, die man ungerne liest, die man aber unbedingt lesen sollte.
Lustiger wird es, wenn er als Germanist Politiker oder Journalisten zuerst zitiert und im Anschluss inhaltlich, stilistisch und sprachwissenschaftlich auseinandernimmt. Angela Merkel wird mehrfach vorgeführt, am schlimmsten trifft es aber Sascha Lobo (spiegel online), der wirklich mit extrem hirnverbrannten Schachtelsätzen zitiert wird und sich damit quasi selbst lächerlich macht. Roth sieht in ihm wohl seinen Lieblingsgegner, aber es gibt noch viele andere. Immer wieder werden unaufmerksame, unvernünftige Zitate von herausragenden Figuren des gesellschaftlichen Lebens präsentiert, gedreht und gewendet, dass es ein großer intellektueller Spaß ist. Einige andere seiner Lieblingsthemen wie z.B. Fußball, Bier, Rauchen kommen hier (vermutlich absichtlich) sehr kurz, vielleicht hat er dazu schon alles geschrieben, was zu sagen wäre und will sich nicht wiederholen. Immer wieder äußert er sich, zumeist sehr poetisch und friedlich zu Begegnungen mit Vögeln. Passend zu „Unser Freund, der Kiebitz“ (2019), ein Buch, das er zusammen mit seinem Bruder Thomas Roth nur ein Jahr zuvor im selben Verlag veröffentlichte.
„Vielleicht Hunsrück“ ist aber eben genau kein Roman, sondern eine lose Gedanken-, Zitate- und Textsammlung, ein flüchtiges Tagebuch, eine persönliche Chronik, ein detaillierter Lagebericht, eine distanzierte Homestory, ein einäugiger Gesellschaftsreport, ein selektives Untergangsprotokoll, ein schockierendes Schreckensszenario, ein poetischer Abgesang, keine Gute-Nacht-Geschichte, ein nüchterner Abschiedsbrief, also sozusagen wirklich alles, aber kein Roman.
Weil das Buch keine durchgehende Handlung, keine Figuren, keinen Ort, nicht einmal Kapitel oder andere Zäsuren hat, ist es in seiner Bruchstückhaftigkeit zugleich schwer, aber auch leicht zu lesen (man kann z.B. jederzeit unterbrechen). Die Gedanken des Autors über ein Jahr hinweg zu verfolgen und nachzuvollziehen ist, insbesondere wenn das beschriebene Jahr bereits etwas zurückliegt, anstrengend und bereichernd, eben weil einem viele Betrachtungen bekannt vorkommen, aber selten in dieser gedanklichen Tiefe stattgefunden haben. Hat man sich erstmal auf die Welt des Autors eingelassen, fällt die Lektüre immer leichter, wirkt anregend und die besondere Perspektive färbt langsam auf einen ab. Man betrachtet ab einem gewissen Punkt selbst die Dinge um einen herum mit anderen Augen und anderen Schlussfolgerungen. Und das ist eine Wirkung, die nur selten von Büchern erzielt wird. Vermutlich ist die ungewöhnliche Form des „Romans“ genau deswegen doch sehr lohnenswert. Zum Schluss stellt man sich die Frage: Wo oder was ist eigentlich dieser Hunsrück? Ein Mittelgebirge in Rheinland-Pfalz. Vielleicht lieber doch nicht.
Das Buch enthält vierzig laienhafte Bleistift-Illustrationen von Matthias Egersdörfer. Nicht besonders künstlerisch, aber sie lockern den dauernden Textfluss durchaus auf erfreuliche Weise auf.
Das Buch erscheint bei Haffmans Verlag bei Zweitausendeins, hat 448 Seiten und kostet 22,90€.
Herzlichen Dank für diese wichtige Information. Seit ich kein Merkheft mehr kriege – wahrscheinlich haben die Sozialen Medien es abgeschafft – erfahre ich noch weniger von der Welt, als ich wenig von der Welt erfahren möchte. Dabei war ich Gast beim Jubelfest fünf Jahre Haffmans Verlag in Zürich.