Alex Rühle ist Journalist (Artikel u.a. für SZ) und Autor (Sach- & Kinderbücher). Aufmerksamkeit erregte er mit dem Buch „Ohne Netz – Mein halbes Jahr offline“ (2010) und dem Selbsterfahrungsbericht „Wird schon gehen – zu Fuß von München nach Berlin“ (2012). Nun hat er im Frühjahr 2022 in 14 Wochen die meisten Länder Europas bereist, politische Aktivisten getroffen und berichtet in über 30 Kapiteln von seinen Begegnungen und Erlebnissen. Ausgehend von dem Satz „Europa ist kein Ort, sondern eine Idee“ (Lévy) stellt sich Rühle die Fragen: Welche Idee ist das? Trägt diese Idee noch? Verstehen sich die Bewohner der einzelnen Länder als Europäer? u.a. Ohne es explizit zu erwähnen meint er mit Europa ausdrücklich die Europäische Union, Länder wie die Schweiz, Großbritannien, Belarus kommen in seinem Reiseplan gar nicht vor, interessanterweise auch nicht sein Heimatland Deutschland.
Die Reise beginnt in Athen, gar nicht so sehr, weil dort angeblich die Demokratie erfunden wurde, sondern um die Nachwirkungen der bedrohlichen Wirtschaftskrise (2010) zu verstehen. Hier und an jeder anderen Station seiner langen Rundreise hat Rühle Verabredungen mit politischen Aktivisten, freilich mit den „Guten“, die für eine bessere Welt kämpfen, die anderen kommen nicht zu Wort. Es wird jeweils kurz die aktuelle gesellschafts-politische Gesamtsituation vor Ort umrissen und die engagierte Arbeit der portraitierten Personen beschrieben. Zumeist sind es bewundernswerte Einzelkämpfer, die alleine oder mit einem kleinen Team gegen übermächtige Vertreter unschöner Verhältnisse kämpfen. Als deutscher Leser braucht man jedes Mal einen Augenblick um die jeweilige Problematik zu begreifen, was eigentlich los, was das Problem ist und welche Wege begangen werden können. Die Aktivisten sind meist schon seit vielen Jahren dabei, kämpfen unverzagt gegen Windmühlen, geben nicht auf, aber oft ist ihnen die Desillusionierung deutlich anzumerken. Wegen der Dichte der Reihung ist es als Leser zunehmend schwer zu ertragen, dass quasi fast ausschließlich Missstände beleuchtet werden. Neutrale oder leichte Momente entstehen, wenn überhaupt, eher zufällig auf den teilweise unkonventionellen Reiserouten von einem Ort zum nächsten. Aber auch hier immer wieder bedeutungsschwangere Auslegungen, wenig unverhoffte, glückliche oder witzige Momente, wie sie bei unvorhergesehenen Begegnungen an unbekannten Orten doch eigentlich immer wieder entstehen, wenn man offen und erwartungsfroh durch die (alte) Welt gondelt. Fast hat man den Eindruck, dass die Wahrnehmung des Autors durch den engen Zeitplan und die prinzipiell ähnliche Verfassung der Gesprächspartner enorm eingeengt wurde, vielleicht wäre etwas weniger Agenda und mehr Zufallsbereitschaft da zielführender gewesen, ziemlich sicher aber unterhaltsamer.
Obwohl Rühle wochenlang unterwegs war und von eigenen Fotos spricht wurde kein einziges im Buch verwendet (nicht mal auf dem Titel), dabei hätte wenigstens ein Portrait jedes Gesprächspartners ihnen doch zumindest ein Gesicht gegeben. Und auch die ein oder andere Landschaft oder eine Alltagssituation hätten die Schrift etwas aufgelockert. So bilderlos wie es ist, wirkt es noch trockener und trostloser als es sein müsste und das ist wirklich ein Versäumnis, denn das sollte man als erfahrener Journalist schon wissen, dass Fotos schwere Texte auflockern und die beschriebenen Menschen nahbarer machen.
Auch Rühle selbst scheint die Reise vor allem als anstrengende, kraftraubende Betätigung zu empfinden, hin und wieder schweift er etwas poetisch aus, im Grunde bleibt er aber bei seinem Narrativ, dass die EU eine tolle Idee ist, aber einige Regionen und manche Länder das einfach nicht kapieren. Und natürlich wird dann auch gleich wieder auf Polen und Ungarn gezeigt, die alles Mögliche boykottieren, korrumpieren oder gleich komplett falsch machen. Leider kommt an diesen Stellen deutlich der linientreue SZ-Journalist zum Vorschein. Was die Beweggründe dieser „anderen“ Europäer sein könnten, wird einfach nicht erwähnt und die EU, der man ja nun wirklich auch ohne besonders weit greifen zu müssen, anti-demokratische, korrupte, menschenverachtende und kriegshetzerische Tendenzen vorwerfen kann, diese EU wird an keiner Stelle mal ernsthaft kritisiert.
Klar auch, dass die willkürliche, europäische Flüchtlingspolitik nur eine Nebenrolle spielt, dass die vasallenartige Abhängigkeit Westeuropas zu den USA nicht thematisiert wird, auch nicht der verbrecherische Umgang mit Subventionen oder der verschwenderische Umgang mit Finanzen überhaupt, der Überfall Russlands auf die Ukraine hatte anscheinend auch keine Vorgeschichte, sondern fiel einfach so vom Himmel und die menschenrechtswidrigen, europaweiten Corona-Maßnahmen waren alle hilfreich und richtig, ja er versteigt sich am Ende sogar zu der wirren Aussage der Impfstoff sei womöglich ein „Wundercocktail“, weil er während seiner Reise nicht krank wurde. Anscheinend ist dem Autor während seiner Abwesenheit entgangen, dass der „Impfstoff“ nie ein Impfstoff war, weil er Ansteckungen gar nicht verhindert hat (siehe Befragung von Janine Small in einem Sonderausschuss der EU). All das wirkt (für einen angeblichen Qualitätsjournalisten) geradezu irrsinnig uninformiert und stellt damit auch alle vorangegangenen seiner Aussagen ungewollt in ein fragliches, weil tendenziöses Licht.
Fazit: Man muss schon hart gesotten sein um diese Recherchereise durch die EU von Anfang bis Ende durchzulesen. Rühle ist ein ungewöhnliches, leider auch arg einseitiges Portrait einiger europäischer Regionen gelungen. Das war mit viel Arbeit und persönlichem Einsatz verbunden, das ist aller Ehren wert. Oft sind die von ihm beschriebenen Personen, allerdings in einer schwierigen Sackgasse ohne erkennbaren Ausweg. Kein Vorwurf, aber Rühle fällt dazu meist auch kein gangbarer Weg ein. Das bringt ihn jedoch nicht zum Zweifeln, ob die EU tatsächlich so gut funktioniert. Und das ist die große Unwucht seiner ausschweifenden, kleinteiligen Erzählung: Wenn so viele EU-Bürger sich für das Gute und Richtige einsetzen und die EU angeblich eine gute und richtige Idee ist, warum sind dann so viele Menschen unzufrieden? Was läuft da eigentlich schief? Das wäre die eigentliche Frage gewesen, der er hätte nachgehen sollen. Dafür hätte er vielleicht nicht Aktivisten, sondern ganz normale Menschen befragen sollen, Menschen außerhalb seines speziellen Meinungshorizonts und dafür hätte er gar nicht so weit und lange rumreisen müssen. Womöglich wären einige Antworten bei Mitbürgern in der eigenen Stadt, im eigenen Viertel, im eigenen Haus zu finden gewesen.
Fazit: Außer Spesen nicht sonderlich viel gewesen. Liebe Journalisten, redet doch mal weniger mit denen, die ihr sowieso versteht und deren Meinung ihr auch persönlich teilt und stattdessen etwas mehr mit denen, die ihr nicht versteht, die es anders sehen. Das würde zu etwas führen was mal ein journalistischer Grundsatz war, heutzutage aber fast schon altmodisch klingt: Eine differenzierte Sicht aus verschiedenen Perspektiven. Das wäre mal ein Anfang und erster Schritt zur Lösung von Problemen.
Das gebundene Buch erscheint im dtv Verlag, hat 416 Seiten und kostet 25 Euro.