Buch: „Basistexte Musikästhetik und Musiktheorie“ von Werner Keil (Hg.)

MusikKeilBereits 2007 erschien bei UTB das Arbeitbuch „Basistexte Musikästhetik und Musiktheorie“. Werner Keil hat als Herausgeber 23 Texte zum Thema zusammengestellt. Die Entstehungszeiten erstrecken sich über fast 2500 Jahre und reichen von antiken Philosophen wie Platon und Aristoteles bis zu modernen Theoretikern wie Carl Dahlhaus und Hans Heinrich Eggebrecht. Das Buch beginnt mit einem knappen Vorwort des Herausgebers, das auch gleich die Danksagung umfasst. Werner Keil, der als Professor für Musikwissenschaft an der Hochschule für Musik in Detmold tätig ist, begründet die Auswahl der Texte und macht einige Anmerkungen zu Übersetzung und Aufbereitung. Er erwähnt Studium, Seminare, Übungen und es wird klar, dass sich die Textsammlung in erster Linie an Studierende der Musikwissenschaft richtet.

Die folgenden 23 Texte sind chronologisch nach ihrer Entstehung angeordnet und in die drei Oberkapitel „Antike, Mittelalter, Renaissance“, „17. und 18. Jahrhundert“ und „19. und 20. Jahrhundert“ unterteilt. Zu Beginn jedes Kapitels führt der Herausgeber kurz aber prägnant an das Thema heran. Nach einem biographischen Abriss, werden das Werk und die Grundpositionen des Autors beschrieben, die Auswahl des folgenden Textes begründet und die Bedeutung innerhalb des Gesamtwerkes erklärt. Bei der Vielzahl der im Büchlein präsentierten Autoren enthalten diese kompakten Einführungen wertvolle Informationen, die dem Leser Orientierung geben und die Lektüre der oftmals sperrigen Texte deutlich erleichtern. Besonders die antiken und mittelalterlichen Schriften, aber auch etliche andere Texte bis zum 18. Jahrhundert wären ohne diese Kommentierung nur schwer lesbar, vielleicht kaum oder gar nicht verständlich, weil die thematischen Bezüge fehlen oder heutzutage weitgehend unbekannt sind. Ob sie über ihre historische Relevanz hinaus irgendeinen Nutzwert haben, wie der Herausgeber im Vorwort behauptet, bleibt vorerst fraglich. Musiktheoretische Inhalte kommen bei der Textauswahl übrigens so gut wie gar nicht vor, im kompletten Buch gibt es nur wenige Darstellungen und davon keine einzige in Notenschrift, warum der Begriff „Musiktheorie“ explizit im Titel benannt wird und nicht in einem gesonderten Buch umfassend behandelt wird, ist nicht ersichtlich.

Das Buch bietet einen guten Überblick über mitteleuropäische Texte zur Musikästhetik und wird somit seinem Titel auf den ersten Blick wenigstens zur Hälfte gerecht. Wie bei vergleichbaren Textsammlungen (z.B. „Texte zur Musikästhetik“, Reclam) muss man allerdings hinzufügen, dass es sich – wie in der deutschen Musikwissenschaft bedauerlicherweise üblich – um eine extrem eurozentristische, klassisch-romantische und männerdominierte Sicht auf das Thema handelt. Die neuzeitlichen Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts bestehen ohne Ausnahme aus deutschen Männern, es gibt keine einzige Äußerung von einem Nord- oder Südamerikaner, Afrikaner oder Asiaten, übrigens wohlgemerkt auch von keiner einzigen Frau. Der aktuellste Text stammt aus dem Jahr 1991 (Eggebrecht), Texte aus dem 21. Jahrhundert gibt es nicht. Dabei ist es nicht so, dass sich nicht auch andere zum Thema geäußert hätten. Aktuelle Buchpublikationen wie „Audio Culture“ von Cox & Warner (Hg.), „The Rest is Noise“ von Alex Ross oder „The Ambient Century“ von Mark Predergart zeichnen da ein differenzierteres Bild und beziehen sich bereits im Titel auf eine bestimmte Epoche, einen Stil, ein musikalisches Sujet, nehmen den Mund also nicht ganz so voll. Diese Art der Bescheidenheit würde den eurozentristischen Experten der deutschen Musikwissenschaft auch gut zu Gesicht stehen und somit wäre ein korrekter Titel für das Studienbuch: „Historische Texte zur deutschen Musikästhetik der klassisch-romantischen Tradition“.

Im Nachwort äußert sich der Herausgeber unerwarteterweise kritisch über den Wahrheitsgehalt und Aussagewert der von ihm selbst ausgewählten Texte. Er weist teilweise recht ausführlich auf Fehler, Irrwege und Widersprüche hin (dazu sehr passend auf dem Titelseite des Buches: Abbildung im Miniaturformat der Weltenorgel von Athanasius Kircher, dem Renaissance-Großmeister aller Irrung und Verwirrung). Diese Erklärungen sind allerdings auch dringend nötig, denn der Leser, der bis hierhin durchgehalten hat, stellt sich ganz sicher die Frage, was diese sehr theoretischen, sprachlich unnötig komplizierten und fachlich zum überwiegenden Teil überholten Texte mit dem aktuellen Geschehen in Musikästhetik – ganz zu schweigen von Musiktheorie – zu tun haben sollen. Keil scheint das auch selbst aufzufallen, aber er wagt nicht den Blick nach vorne, bleibt der erzkonservativen Ausrichtung seines Fachgebiets viel zu sehr verhaftet. Und das ist bedauerlich, denn die kritischen Ansätze sind da, aber es werden leider keine Konsequenzen daraus gezogen. Interessant und vermutlich auch gefragt wäre dagegen mal ein ausführlicher Überblick der Positionen, Ausrichtungen und Tendenzen der letzten Jahrzehnte, also des gesamten musikästhetischen Diskurses seit Mitte des 20. bis Anfang 21. Jahrhundert und das dann bitte gerne über den deutschsprachigen Raum hinaus. Das wurde leider sträflich vernachlässigt, aber dazu wäre der Herausgeber vermutlich in der Lage. Werner Keil bitte übernehmen Sie!

Das broschierte Taschenbuch hat ein gut lesbares Format, erscheint bei UTB und kostet 19,90 Euro.

7 Gedanken zu „Buch: „Basistexte Musikästhetik und Musiktheorie“ von Werner Keil (Hg.)

  1. Unter den deutschen Historischen Musikwissenschaftlern grassiert im großen Maße ein allgemeiner musikalischer Analphabetismus. Der drückt sich geradewegs darin aus, dass man sich auf die eurozentristischen Positionen und auf das Wiederkäuen klassisch-romantischer Aspekte beschränkt. In der Regel enden solche Darstellungen im 20. Jahrhundert. Alles, was sich jenseits dieser Musik, die ja nur einen Bruchteil dessen ausmacht, an Musik und Ästhetiken begibt oder ereignet, wird sträflich ignoriert. Eine solche Ignoranz führt aber zwangsläufig zur Inkompetenz, zum musikalischen Analphabetismus. So zweifle ich, dass Autoren, die sich so beschränken, Wesentliches oder Gehaltvolles zum Gros der sich ereignenden Musik etwas sagen können, eben weil sie alles, was den persönlichen klassisch-romantischen Geschmack nicht trifft, vernachlässigen bzw. gar nicht wahrnehmen (wollen). Zum Beispiel klammert der Autor Werner Keil in seinem weiteren Werk zur „Musikgeschichte im Überblick“ die gesamte Populäre Musik aus und redet sich damit raus, dass ein Kollege die honorige Absicht hegt, irgendwann hierzu etwas vorzulegen. Meine Vermutung ist, gäbe es diese Absichtserklärung des Kollegen nicht, würde ein anderes Argument als Alibi angeführt werden, um der Populären Musik sich nicht stellen (sprich nicht dazuzulernen) zu müssen. Die Folge einer solchen eingeschränkten Sicht sind Darstellungen zur Ästhetik und zur Musik, die ebenfalls massiv einschränken und dem eigenen Anspruch nicht gerecht werden. Da man sich selbst aber eine privilegierte Sicht zuschreibt, glaubt man, umfänglich zur Musik was zu sagen, und merkt nicht einmal, dass man sich in einer Nische bewegt, die immer weniger rezipiert wird bzw. zu der man sich eine eigene Meinung bildet. Solche Werke, wo der Unwille gegeben ist, der Vielfalt der Musik sich zu stellen und so ein musikalischer Analphabetismus im Raume steht, marginalisieren sich selbst.

    • Herzlich willkommen auf diesem Blog und danke für den meinungsstarken Kommentar. Ich teile Ihre Einschätzung, leider gibt es meines Wissens im deutschsprachigen Raum keine alternativen Darstellung, die Betrachtungen werden nach wie vor durch den imaginierten Graben zwischen E und U geteilt.

      Im anglo-amerikanischen Raum findet man erfrischende alternative Darstellungen z.B. „The Rest is Noise“ von Alex Ross, „The Ambient Century“ von Mark Prendergast oder „Audio Culture“ von Christoph Cox & Daniel Warner. Wissen Sie noch von weiteren ergänzenden Publikationen (oder Blogs) zum Thema? Freue mich über konstruktive Vorschläge!

  2. Ein Buch, welches ich schätze, wenngleich es sich nicht explizit auf Populäre Musik bezieht, sondern dem Bereich der so genannten Klassik verbunden bleibt, heißt:
    Michael Krausz (Ed.): The interpretation of music. Philosophical essays. Oxford university press 1993. Die Frage nach der Möglichkeit der Interpretation von Musik wird hier m.E. nicht so eng gefasst.

    Den Gedanken des musikalischen Analphabetismus und weitere Probleme im Kontext von Bildungshumanismus und der Fachdisziplin Musik verfolge ich zudem in meinem Buch: Als Musik und Kunst dem Bildungstraum(a) erlagen. Vom (Neu-)Humanismus als Leitkultur, von der „Wissenschaft“ der Musik und von anderen Missverständnissen. Göttingen (Vandenhoeck und Ruprecht) 2016.
    Und vielleicht darf ich darauf hinweisen, dass im Frühjahr – auf der Basis eines von mir erstellten Konzeptes – ein opulentes Schulbuch für die Oberstufe (ca. 560 Seiten) erscheint, das m.E. neue Wege geht, indem es der musikalischen Gegenwart einen anderen Stellenwert zuweist. Bei der Erstellung des Buches bzw. des Konzeptes zum Buch spielten des Weiteren aktuelle Theorien (Konstruktivismus, Dekonstruktivismus, Medientheorie u.a.) eine Rolle. Es hebt zudem die Epocheneinteilung auf u.a.m. Titel: Michael Ahlers/Robert Lang/Norbert Schläbitz (Hg.): O-Ton Oberstufe. Paderborn (Schöningh) 2017. Vielleicht kann auch das von Interesse sein, auch deshalb, weil wir hier auf Schülerebene den Bruch mit der vermittelten Tradition wagen. Möglicherweise kann man von dieser Ebene aus für ein anderes Wertesystem werben. Die Musik der Vergangenheit taucht selbstredend auch in diesem Buch auf, erhält aber einen anderen Stellenwert. Sie steht in einer Linie mit Populärer Musik wie auch mit außereuropäischer Musik.

    • @Norbert Schläbitz: Danke für den Buchtipp, kenne ich noch nicht und werde ich mir bei Gelegenheit mal näher ansehen.

      Ihr aktuelles Buch liegt bereits bei mir auf dem Schreibtisch und habe ich mir für Anfang des Jahres vorgenommen. Nach erster Durchsicht erscheint es jedoch als schwere Kost, wird also wohl etwas dauern.

      Dagegen sollte „O-Ton Oberstufe“ doch der Zielgruppe gemäß etwas zugänglicher formuliert sein, oder? Das Konzept klingt hoch interessant, hilft ja nichts immer nur zu meckern, man muss es besser machen, wenn’s kein anderer in die Hand nimmt. Respekt schon mal dafür, bin gespannt wie das Konzept umgesetzt ist und würde mich über ein Rezensionsexemplar freuen. Da sind die Chance auch sehr gut, dass es zügig auf diesem Blog präsentiert und besprochen wird, weil es vermutlich auch auf breites Interesse stößt.

      Würde mich freuen, wenn Sie weiterhin vorbei schauen und noch mehr, wenn sie sich hin und wieder per öffentlichem Kommentar zu Wort melden. Das bereichert den fachlichen Austausch. (System-)Kritische Geister sind hier hochwillkommen.

  3. ich werde sicher Ihre Plattform immer wieder besuchen. Ihr Konzept finde ich überzeugend, und Ihre Beiträge zu den Büchern sehr informativ. Und sicher werde ich mich hier und da wieder zu Wort melden.
    Ich selbst gehöre noch einer Generation an, die dem Buch sich sehr verpflichtet fühlt, spüre aber, dass daneben eine neue Kultur der Verständigung und des Austausches sich etabliert, die den Zeitgeist spiegelt und zeitgemäß mir auch erscheint. So wird die überkommene Medien- und Kommunikationskultur angereichert auch durch eine neue Diskussionskultur im Raum der Wissenschaft, die möglicherweise auch die Musikwissenschaft aus ihrem Dornröschenschlaf holt, in der deren Vertreter – regsam schreibend die ästhetische Welt und die Gemüter schon lange nicht mehr bewegend – gefallen sind. Voraussetzung dafür ist gleichwohl ein genereller Mentalitätswandel, bei dem gegenwartsrelevante Themen und Theorien sowie wissenschaftsorientierte Verfahren endlich eine Rolle spielen.
    Persönlich erlebe ich, dass meine im Internet zugänglichen Texte eine angenehm große Breitenwirkung erzielen. Ich freue mich über jeden Besucher, jeden Download, jeden Leser, den ich dort verzeichnen darf.
    Gerne übersende ich Ihnen ein Rezensionsexemplar von O-Ton Oberstufe, das – wie wir hoffen – adressatengerecht abgefasst ist. Das mag aber noch zwei, drei Monate dauern. Die letzte Korrekturfahne, bevor es in den Druck geht, liegt uns noch nicht vor. Wir erwarten sie gleichwohl jeden Tag.

  4. @Norbert Schläbitz: In meiner aktuelle Buchbesprechung „Jack White. How he built an Empire from the Blues“ bestätigt sich übrigens ihre Aussage von der GfPM-Tagung, dass viele, wenn nicht die meisten substanziellen Beiträge zur Popularmusikgeschichte gar nicht von Musikwissenschaftlern, sondern von Liebhabern und (Musik-)Journalisten stammen. Eine wahre, aber auch ernüchternde Feststellung, die ich meiner Erfahrung nach voll bestätigen kann. Genau genommen kann man da den Laden eigentlich zumachen oder soll man bei diesem Gesamtzustand wirklich auf eine inhaltiche Veränderungen hoffen?

    Ich bin selbst hin und her gerissen, tendiere aber zu ersterem. Um es mal provokant zu formulieren: Eine Schließung sämtlicher deutschen musikwissenschaftlichen Institute wäre für mich persönlich kein Verlust, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach eine Befreiung. Wenn sich Musikforscher dem freien Markt ausgesetzt sähen, blieb den Lesern wahrscheinlich ein Haufen Gelaber erspart, die Autoren würden sich genau überlegen, worauf sie ihre dann plötzlich sehr wertvolle Zeit verwenden. Übrig blieben dann die, die wirklich was zu sagen haben und deren Texte wirklich jemanden interessieren. Das wäre meiner Ansicht nach nicht unbedingt ein Nachteil. Es wäre einen Versuch wert, steht aber wohl leider nicht zur Diskussion.

    Ich habe diesen etwas frechen letzten Diskussionsbeitrag in die Kommentare zum oben erwähnten Buch kopiert. Da kriegen es mehr Leser mit. Vielleicht haben sie Lust auf meinen provokante Aussage zu antworten?

    http://www.dennisschuetze.de/blog/2016/11/28/buch-jack-white-von-nick-hasted/

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