Buch: „Die Gitarrenverzerrung in der Rockmusik“ von Jan-Peter Herbst

Jan-Peter Herbst studierte E-Gitarre in München und Los Angeles und Musikwissenschaft in Detmold und Paderborn. „Die Gitarrenverzerrung in der Rockmusik“ wurde im Oktober 2016 veröffentlicht und basiert auf seiner Masterarbeit aus dem Jahr 2014. Der Autor hat sich mit seiner Schrift über Gitarrenverzerrung ein in der Rockmusik wesentliches, aber aus musikwissenschaftlicher und -pädagogischer Sicht kaum beachtetes Thema vorgenommen. Er beschreibt und analysiert umfangreich, aus verschiedenen methodischen Blickwinkeln und präsentiert seine Ergebnisse auf mehr als 400 Seiten.

Das Buch beginnt mit einem freundlichen Geleitwort der Herausgeber und einem kurzen Vorwort des Autors, es folgen neuen Kapitel und ein ausgedehnter Anhang. Das erste Kapitel startet mit einer Übersicht über die bisher erschienene wissenschaftliche Literatur der letzten Jahrzehnte zum Thema. Im Anschluss werden in den Kapiteln „E-Gitarrensound“ und „Rockgitarrensound“ die technischen und ästhetischen Grundlagen geklärt und die Methode der experimentellen Untersuchung reflektiert. Hier wie auch im weiteren Verlauf geht Herbst sehr gründlich und auffällig kritisch mit der eigenen Herangehensweise um, benennt ungeschönt Probleme und die jeweiligen daraus folgenden Konsequenzen. Auf diese Weise entwickelt er auf mitunter etwas langwierige Art und Weise sehr anschauliche und kluge Thesen, die durch die Vielzahl der Annäherungen vorhandene Einschätzungen auf wissenschaftlichem Wege überprüft und präsentiert außerdem etliche eigene Erkenntnisse. Die sind dann für erfahrene Gitarristen zwar nicht immer völlig neuartig, aber durch seinen Ansatz oft erstmals wissenschaftlich belegt.

Die Schwierigkeit seines analytischen Ansatzes ist, dass er keinen direkten Zugriff auf gitarristische Einzelspuren klassischer Einspielungen hat. Wo setzt also eine Analyse von Gitarrensound und Verzerrung an? Bei Spielweise, Gitarrentypus, Poti-Einstellung, Kabel, Pedalen, Verstärkertyp und -einstellung, Abnahme, Mikrofontyp und Platzierung? Bereits vor der eigentlichen Aufnahme gibt es eine Vielzahl von variablen Faktoren. Wird aufgenommen auf Band, ADAT oder Festplatte? Welche klangtechnischen Manipulationen folgen im Mix, woraus besteht das soundtechnische Umfeld des Tracks. Was passiert beim Mastern, auf welches Medium wird übertragen und auf welcher Anlage verstärkt und abgehört. Alles zusammen erscheint wie ein unendlicher Ozean von klanglichen Möglichkeiten.

Herbst behilft sich indem er ausgewählte, charakteristische E-Gitarrenpassagen der Rockmusikgeschichte als Faksimile einspielt und diese auf digitaler Ebene mit verschiedenen Methoden untersucht. Das ist zwar nicht authentisch, aber trotzdem glaubhaft, noch dazu widersteht Herbst der Versuchung die eigenen Einspielungen mit den Originalen (Was genau ist das Original?) gleichzusetzen. Interessant und praktisch verwertbar ist seine nachfolgende Bewertung der voraus gegangenen, experimentellen Studien und die daraus abgeleiteten Impulse für den Instrumentalunterricht. Eine wesentliche Erkenntnis ist, dass technisch anspruchsvolle Übungen clean gespielt werden sollten. Auf der anderen Seite beeinflusst der Sound aber die Spielweise dermaßen, dass ebenso mit dem für den jeweilige Musikstil üblichen Sound geübt und gespielt werden sollte, nicht zuletzt um einen eigenen Sound (weiter) zu entwickeln.

Abschließend folgt die Auswertung einer Online-Befragung einer zufälligen Auswahl von E-Gitarristen, die zwar nicht als repräsentativ gelten kann, aber trotzdem einige interessante und genre-typischen Einschätzungen widerspiegelt. Selbst ausgebildeter E-Gitarrist, geht der Autor hier besonders kritisch mit einem umfangreichen Katalog von Zielsetzungen und Hypothesen um. Das ist wissenschaftlich konsequent, aber etwas mühsam nachzulesen. Wesentlich erquicklicher ist das Fazit, das auf zehn Seiten den Abschluss des Hauptteils bildet und die vorangegangen Ausführungen pointiert zusammenfasst. Der Anhang umfasst Literatur-, Abbildungs-, und Tabellenverzeichnisse, die Dokumentation der experimentellen und der empirischen Studie.

Fazit: Herbst hat hervorragende Arbeitet geleistet. Er nähert sich dem etwas ungreifbarem Thema betont seriös und wissenschaftlich, seine Methoden sind dabei zeitgemäß und stets sehr transparent. Damit leistet er einen überaus konkreten, anschlussfähigen und somit willkommenen Beitrag zur wissenschaftlichen Popmusikforschung. Für Nicht-Wissenschaftler vermutlich eine anstrengende und nicht ganz so ergiebige Lektüre.

Anmerkung: Obwohl der Autor offensichtlich mit Pedal- und Verstärkersimulationen auf digitaler Ebene vertraut ist, wurde anscheinend nicht der Versuch unternommen entsprechende kommerzielle Anbieter (z.B. Native Instruments, Berlin) zu kontaktieren und zum Thema zu befragen. Dort haben sich Techniker und Informatiker jahrelang umfassend mit der Simulation von Verstärker- und Verzerrungscharakteristika beschäftigt und in der Folge brauchbare und überzeugende Produkte entwickelt. Eine Befragung hätte vermutlich einige interessante, zusätzliche Erkenntnisse liefern können.

Das Buch hat 418 Seiten, erscheint bei Lit und kostet sportliche 44,90 Euro.

7 Gedanken zu „Buch: „Die Gitarrenverzerrung in der Rockmusik“ von Jan-Peter Herbst

  1. ..wie einfach hatten es doch da AC DC – keine Kohle für gute Verstärker, deshalb overdrive by lack of money, style geprägt und durchgezogen – fertig.

    • @Bernhard: AC/DC haben meines Wissens amtliche Marshall Verstärker und Gibson SG bzw. Gretsch Gitarren verwendet. Die kriegt man nicht für keine Kohle, das ist zwar Stangenware, aber deswegen nicht billig oder minderwertig.

      Du hast recht, dass sie keine großen Effektketten oder andere technischen Tricks einsetzten. Bei deren gestackten Verstärkerwänden musste du aber auch immer noch das Umzugsunternehmen mir reinrechnen, das die Marshall-Türme auf- und abbaut und in die nächste Stadt transportiert!

      • @Dennis schon klar, das bezog sich auf die Ursprünge und die Herkunft des Sounds. Dass das heute andere Dimensionen hat, wenn man Stadien mit zigtausend Leuten bespielt is klar; aber vor 40 Jahren hatten Marshall amps auch noch keine Distortion Kanal soweit ich weiss (hab einen im Keller) und die waren finanziell auch eher so wie Jack White zu seinen Anfängen aufgestellt – und gerade der beweisst doch auch noch heute, dass der ganze moderne Technikkram nicht das entscheidende Element ist.

        • Er äußerte sich dazu in einem Interview wie folgt: „Ich verwende hauptsächlich alte 100-Watt-Marshalls, die ich irgendwann gebraucht in Australien gekauft habe. Sie haben noch nicht diese Preamp-Geschichten, die heute so üblich sind. Das interessierte mich nicht. Ich mag die alten und puren Sounds. Und das ist auch schon alles.“

          da hammers doch
          http://www.gitarrebass.de/equipment/gibson-sg-das-equipment-die-gitarren-von-angus-young/

          • Hier gilt das gängige Rock-Klischée: Alle Regler auf Anschlag nach rechts, fertig ist der klassische AC/DC-Sound.

            Kann man heute quasi nicht mehr bringen. Ist mir ein Rätsel wie die das früher ausgehalten haben. Kein Wunder, dass die Protagonisten heute alle massive Gehörschäden haben.

    • @Bernhard: Rick Rubin hat das AC/DC-Album „Ballbreaker“ (1995) produziert, danach kam es zu keiner weiteren Zusammenarbeit. Es ist das 12. international veröffentlichte Album der Band. Zu diesem Zeitpunkt war der AC/DC-Sound längst etabliert, das Album selbst gilt nicht gerade als herausragend im Gesamtwerk der Band. Die Marker sind immernoch die Atlantic-Alben: „Highway to Hell“ (1979), „Back in Black“ (1980), „For those about to rock..“ (1981).

      Rubins Umgang mit Kompression im Masteringprozess ist durchaus umstritten. Ich empfinde das gar nicht als „geil“, sondern als massiven negativen Eingriff in das Werk der von ihm betreuten Künstler. Die in den letzten Jahren von ihm produzierten Alben kann ich deswegen nicht mehr hören, obwohl ich die Künstler und deren Werk allgemein schätze. Der hohe Grad an Kompression bei z.B. „Death Magnetic“ (2008), „La Futura“ (2012) von ZZ Top oder „13“ (2013) von Black Sabbath ist kaum auszuhalten.

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