Gestern Nachmittag habe hintereinanderweg folgende Alben durchgehört: „Blue“ (1971) von Joni Mitchell, „Transformer“ (1972) von Lou Reed, „Everyboy knows this is nowhere“ (1969) von Neil Young, „Pink Moon“ (1972) von Nick Drake, „Sit down young stranger/If you could read my mind“ (1970) von Gordon Lightfoot.
Es sind alles Alben aus US-amerikanischer Produktion, die kurz vor oder kurz nach meiner Geburt erschienen sind. Beim Hören fielen mir mehrere Sachen auf: Das Album, mit +/-10 Tracks und einer Laufzeit von 35-45 Minuten, ist eine vollendete und sehr stimmige musikalische Form. Die Songwriter der frühen 1970er haben das begriffen und keine Sammlung von Einzeltracks, sondern im besten Fall ein balanciertes Gesamtkunstwerk produziert. Zusammengehalten wird das ganze von einem Sänger und Songschreiber, seinen/ihren Songs, gleichbleibender Instrumentierung und Arrangements, einer Attitude und dem Albumsound, der von Mitmusikern, Studio und Aufnahmeleiter geprägt war. Heraus kam eine Klang gewordene Momentaufnahme einer künstlerischen Entwicklung.
Dabei ist auffällig, dass die Aufnahmen nicht immer einwandfrei oder fehlerlos sind, ganz im Gegenteil, immer wieder kommt es zu unpräzisen Einsätzen, leichten Verstimmungen, schleppender Rhythmik, missratenden Klängen, unfreiwilligen Geräuschen, hohes Bandrauschen, seltsamen Fadeouts etc. pp. Alles Artefakte, die man heutzutage problemlos und ohne jede Skrupel wegeditieren würde. Diese Möglichkeit gab’s damals nur in begrenztem Umfang, vor allem aber gab’s gar nicht das Bewusstsein dafür, dass etwas derartiges falsch wäre und verbessert werden müsste. Wenn man den Turnus berücksichtigt, in dem zu der Zeit Alben veröffentlicht wurden (zum Teil 2-3 Alben pro Künstler im Jahr), ist auch unwahrscheinlich, dass da jeweils lange rumgedoktert wurde. Man sammelte die stärksten seiner neuen Songs zusammen, probte bestenfalls mal mit der Band, vielleicht aber auch nicht, ging ins Studio, dort blieb einem gar nichts anderes übrig als sich den Technikern anzuvertrauen, sang und spielte seine Lieder, nach ein paar Tagen war das erledigt, an zusätzlichen Spuren, Mix, Tracking oder Master war man meist schon nicht mehr beteiligt, anschließend ging man auf Tour und schrieb neue Lieder für die nächsten Aufnahmen. Es waren viele Menschen an der Produktion eines Albums beteiligt, die sich zum Teil kaum oder gar nicht kannten, viele Entscheidungen waren destruktiv, soll heißen, waren Entscheidungen mal getroffen und ausgeführt, waren sie unumkehrbar und nicht mehr rückgängig zu machen. Dazu braucht man heute eine Menge Mut, damals nicht, denn es gab keinen anderen Weg, man musste im Hier und Jetzt sein, sich auf den Prozess einlassen, alles geben und auf das Beste hoffen.
Ich finde, das hört man diesen alten Produktionen an. Da schwingt sehr viel Herzblut, Hingabe und Zeitgeist mit. Die aufnahmetechnischen Ungereimtheiten fallen gar nicht weiter auf, sondern fügen sich problemlos in den klanglichen Flow, werden zum Teil des großen Ganzen.
Wieder was gelernt. Mal sehen was ich davon in zukünftige eigene Projekte mitnehmen kann.
Ich finde, das ist ein sehr guter Artikel!
„Dazu braucht man heute eine Menge Mut, damals nicht, denn es gab keinen anderen Weg, man musste im Hier und Jetzt sein, sich auf den Prozess einlassen, alles geben und auf das Beste hoffen.“
Man fragt sich wirklich, was die heutzutage geforderte (praktizierte) Perfektion so alles an ungewünschten Sideeffects im Schlepptau mit sich bringt. Es könnte ab einem gewissen Punkt wie im Leben gelten „Weniger ist manchmal mehr“.