Ted Gioia ist US-amerikanischer Pianist, Jazzautor und Musikwissenschaftler. Er wuchs im Großraum Los Angeles auf, studierte englische Literatur, Politik und Philosophie in Oxford und Stanford und arbeitete jahrelang als Wirtschaftsberater. In den 1980er Jahren entwickelte er ein Jazz-Studienprogramm für die Universität Stanford, teilweise in Zusammenarbeit mit dem Jazzsaxophonisten Stan Getz. Er ist Autor von „The Imperfect Art“ (1988), „History of Jazz“ (1997) und „West Coast Jazz“ (1998). 2016 erschien „How to listen to Jazz“ bei Basic Books, im Sommer 2017 wurde die deutsche Übersetzung unter dem Titel „Jazz hören, Jazz verstehen“ bei Henschel Bärenreiter veröffentlicht.
Ted Goitia ist zweifellos ein Fachmann auf seinem Gebiet. Im Laufe seines Lebens hat er sich als Musiker, Wissenschaftler, Pädagoge und Autor verschiedenste Herangehensweisen an Blues und Jazzmusik erarbeitet und damit sich und anderen neue Perspektiven eröffnet. In seinem aktuellen Buch gibt er nun eine Anleitung dazu, wie man sich der Stilisitk Jazz mit den eigenen Ohren nähert. Es fasst seine umfangreichen Tipps, Tricks und Empfehlungen unter dem Begriff „Hörstrategien“ zusammen. Dies ist aller Ehren wert, denn der Begriff Jazz umfasst nicht nur eine mehr als hundertjährige Geschichte, sondern auch eine ideologisch aufgeladene Mythologie, die Nachgeborenen und/oder Nicht-Amerikanern das Genre heutzutage unzugänglich erscheinen lässt. Will man sich einen Zugang schaffen, so ist Gioias nachvollziehbare These, dass Jazz nur hörend begriffen werden kann. So weit, so naheliegend bei einer überwiegend nicht notierten Musik, die vorwiegend konzertant und in Form von Tonaufzeichnungen weitergegeben wird. Aber wo fängt man an, worauf achtet man, was sind wesentliche Elemente, formale Strukturen, grundsätzliche Ideen dieser Musik? Hier bietet „Jazz hören, Jazz verstehen“ einen sehr hilfreichen und nützlichen Einstieg. Alles, was ein Interessent dazu braucht, sind ein Satz funktionstüchtiger Lauscher und die entsprechenden Einspielungen.
Nach einer persönlichen Einleitung erklärt Gioia den rhythmischen Aufbau, Form und Strukturen der Stilistik. Immer wieder kommt er dabei rückblickend auf seine eigene Annäherung an die Musik als junger Mann zurück, er bleibt dabei bodenständig, verzichtet auf Fachsprache und verliert sich nicht unnötig in Details. Grundsätzlich empfiehlt er klassische Einspielungen, zeitgenössische Konzerte und Jamsessions anzuhören und zwar einerseits herausragend gute von etablierten Profis, aber auch durchwachsene z.B. von studentischen Combos. Gioia rät das große Ganze intuitiv zu genießen, sich aber auch immer wieder analytisch auf bestimmte Details zu konzentrieren. Hilfreich sind dabei die Kapitel „Entwicklung der Jazzstile“ und „Jazz-Neuerer“, in denen er die entscheidenden, stilistischen Veränderungen aus Hörersicht darlegt und erläutert und gleichzeitig auf musiktheoretische Ausführungen verzichtet. Er gibt hier jeweils sehr konkrete und deswegen wertvolle Hörempfehlungen. Das erspart dem unerfahrenen Einsteiger einige lästige Umwege und unnötige Anschaffungen. Er verweist dabei auch immer wieder auf mittlerweile klassische Mitschnitte von Liveeinspielungen, die als Filmclips frei im Internet zu finden sind und somit neben der eigentlichen Hörerfahrung auch noch eine visuelle Komponente bieten.
Fazit: Gioias Büchlein ist erfahrungsgesättigter, außergewöhnlicher und wertvoller Beitrag zur Hörerziehung und Gehörbildung. Er schreibt zugänglich, unterhaltsam und pointiert. Er wechselt in seinem Erzählstil geschickt zwischen persönlichen Erfahrungen und allgemeinen Erkenntnissen. Dadurch ist es eine Freude den Text zu lesen. Außerdem wäre es wohl sehr in seinem Sinne, wenn man die Lektüre nach Lust und Laune unterbricht und einigen seiner unzähligen Empfehlungen nachgeht und sich feine Musik zu Gemüte führt. Dem Autor gelingt eine ungewöhnlich anregende und inspirierende Höranleitung zu dieser einzigartigen, amerikanischen Musikkultur. Dicke Empfehlung!
Das gebundene Buch erscheint bei Henschel Bärenreiter, hat 208 Seiten und kostet 24,95 Euro.
Jazz offenbar nicht jedermanns Sache….
@Gerhard: Wie hast du deinen Weg als Jazzhörer gefunden?
Das ist eine lange Geschichte!
Willst Du sie hören? 🙂
In short:
Mein Bruder hörte u.a. Jazz (wie ich wusste).
Zum 4. Jazzfestival in Grombühl schnupperte ich erstmals hinein.
Es war spannend, aber ich blieb nicht dabei.
Erst zum 14ten Festival kam ich wieder.
Es brauchte eine gewisse Zeit für mich, in die Musik rein zu kommen.
Jetzt ist es so, daß ich Jazz zuhause wenig höre, es gibt soviel Spannendes auch.
Aber Jazz in Konzerten, also live, schätze ich sehr. So ist es eigentlich mit jeder Musikrichtung: Live ist es meist spannender als auf Platte.
Zum einen, weil ich in Konzerten (notgedrungen) aufmerksam bin (!), zuhause aber meist nur nebenbei höre. Leider!
Der Fluch der knappen Zeit.
@Gerhard: Das geht mir leider auch oft so. ich brenne mir Musik, die mich wirklich anspricht auf CD und höre dann im Auto. Dort hab ich Ruhe und Zeit.
@Gerhard: Interessant. Und was ist für dich an Jazzmusik hörenswert? Ist es das improvisatorische Element, die Mechanismen des Zusammenspiels, die Abwesenheit von Gesang? Könnte mir Vorstellen, dass dich das spontane kreieren im Moment und im Kollektiv interessiert, vielleicht deswegen das Faible für Konzerte?
Bei konzerten kann ich die einsatze und das tun der musiker beobachten. Das tragt zum verstandnis bei. Den bass nehme ich oft nicht wahr, da hilft die optische prasenz sehr.
Studierten jazz mag ich nicht. Je freier umso besser. Elektronik erweitert fur mich deutlich das spektrum.
Im pop mag ich sehr jazzelemente. Das ist meist sehr wohltuend und macht die Musik frischer und vielfältiger.