Jessica Wynne ist eine US-amerikanische Fotografin. Mit „Do Not Erase“ veröffentlichte sie 2021 ihr erstes eigenes Fotobuch. Gezeigt werden mathematische Tafelbeschriftungen, Formeln, Rechnungen und Graphiken, aufgeschrieben und gezeichnet mit weißer und farbiger Kreide auf schwarzen und dunkelgrünen Wandtafeln. Nun erscheint das Buch in deutscher Übersetzung („Bitte nicht wegwischen“).
„Do not erase“ steht auf einem kleinen Schildchen, das an die Tafel gelehnt wird damit sie von anderen nicht einfach saubergewischt wird um neues, anderes draufzuschreiben. Mathematiker im akademischen Betrieb, an Forschungseinrichtungen und Universitäten tun das, wenn sie sich mitten in einem unabgeschlossenen Denkprozess befinden, aber den Raum mit der Wandtafel vorübergehend verlassen. Mit den Tafelbeschriftungen werden die eigenen Ideen, Gedanken und Lösungsversuche festgehalten und anderen Interessierten nachvollziehbar gemacht. Es sind jedoch oft keine fertigen Konstrukte, sondern klassisches Work in Progress, das sich über Stunden, ja Tage und Wochen ziehen kann. Die Großformatigkeit von Tafeln in Klassenzimmern und Vorlesungsräumen setzt nochmal andere Prozesse in Gang als das Arbeiten auf kleinformatigem Papier. Hier kann man buchstäblich Abstand einnehmen und Kollegen und andere Personen(gruppen) an der Entwicklung teilhaben lassen.
Jessica Wynne hat die eigene Kindheit auf dem Campus eines Internats verbracht, weil die Eltern dort als Lehrer arbeiteten und wohnten. Nachmittags, am Wochenende und in den Ferien verbrachte sie zusammen mit ihren Schwestern viel Zeit in den verlassenen Klassenzimmern mit stehengebliebenen Tafelbildern. Die waren wohl für ein Kind ohne weitere Heranführung zum größten Teil schwer oder gar nicht zu verstehen, wurden von ihr jedoch als eigene Kategorie mit ästhetischer Qualität wahrgenommen. Viele Jahre später entstand aus einer Begegnung mit dem Mathematiker Benson Farb das Konzept Tafelbilder zu fotografieren und die entstandenen Fotos zu sammeln. Mehrere Jahre besuchte Wynne Mathematische Institute und Kongresse im In- und Ausland und vertiefte sich immer mehr in das selbstgesetzte Thema.
Im querformatigen Fotobuch ist rechtsseitig die Abfotografie des Tafelbildes auf weißem Grund abgedruckt, links eine Kurzbio und der Versuch einer Erklärung oder zumindest inhaltlichen Umrahmung der Darstellung durch den verantwortlichen Mathematiker.
Wynne versteht die Tafelbilder aus mathematischer Sicht nicht und auch für den Betrachter des Buches ist das nicht erforderlich. Ihr gelingt es sehr gut die bildliche Darstellung hochkomplexer mathematischer Gedankenverläufe auf eine ästhetische Ebene mit hoher künstlerischer Qualität zu übersetzen. Nun kann man sagen, dass das Abfotografieren der Aufzeichnungen anderer noch keine künstlerische Leistung ist, aber das stimmt nicht. Wynnes Leistung ist es die Idee gehabt zu haben, den Gedanken verfolgt zu haben, viele Menschen kontaktiert und besucht zu haben. Sie hat Klassenzimmer und Vorlesungsräume betreten, die Fotos gemacht, sie ausgewählt, beschriftet, zusammengestellt und sie mit der Buchveröffentlichung nebeneinander und gegenübergestellt. Es ist daher im wahrsten Sinne des Wortes eine aufwändig kuratierte Komposition. Zwar ohne besonderen fotografischen Anspruch, aber mit hohem inhaltlichem und konzeptionellem Anspruch.
Das gebundene Buch erscheint im Antje Kunstmann Verlag, hat 248 Seiten und kostet 40 Euro.
Konzeptfotografie in neuem Gewand