Buch: „Der letzte Mann, der alles wusste“ von John Glassie

DerLetzteMannJohn Glassie ist Journalist, Fotograph und Schriftsteller und lebt in Brooklyn, New York. Viele Jahre hat er Interviews und Artikel über Literatur und Kunst in teilweise renommierten Zeitschriften und Zeitungen veröffentlicht. Hinzu kommt ein Buch mit der Fotoserie ‚Bicycles Locked to poles’ (2005), einige Ausstellungen und etliche Beiträge zu Anthologien. Mit „Der letzte Mann, der letzte alles wusste“ legt er eine umfangreiche, (populär-) wissenschaftliche Publikation in Buchformat vor, die ein sehr spezielles Thema behandelt. Die deutsche Übersetzung des Buches trägt den Untertitel „Das Leben des exzentrischen Genies Athanasius Kircher“ und genau darum geht es, aber auch um ein bisschen mehr.

Athanasius Kircher war ein deutscher Jesuit und Universalgelehrter, er lebte von 1602 bis 1680 und verbrachte die meiste Zeit seines Lebens am Collegium Romanum in Rom, wo er forschte und lehrte. Er beschäftigte sich mit Ägyptologie, Geologie, Medizin, Mathematik, Physik und Musiktheorie. Er stand mit einigen der führenden Forschern und Gelehrte seiner Zeit brieflich in Verbindung und veröffentlichte im Laufe seines Lebens eine beträchtliche Anzahl von umfangreichen und aufwändig illustrierten Büchern, die in den gebildeten Schichten ganz Europas bekannt waren und war somit für einige Jahrzehnte eine dominante Persönlichkeit des internationalen, wissenschaftlichen Diskurses.

Das Buch beginnt mit einer „Apologetischen Vorbemerkung“ und ist danach in drei umfangreich Kapitel aufgeteilt: Das erste Kapitel beschreibt seinen persönlichen Lebensweg aus einem Dorf in der hessischen Rhön bei Fulda über den Eintritt beim Jesuitenorden in Paderborn und die anschließenden Wanderjahre über Köln, Würzburg und Avignon. Das zweite Kapitel beginnt mit seiner Ankunft in Rom, wo er ab 1638 lehrte und ab 1645 vom Dienst freigestellt wurde und fortan hauptsächlich forschte und veröffentlichte. Das dritte Kapitel beschreibt die Lebensjahre ab 1671 bis zu seinem Tod und die Rezeption und Wirkung seines Werkes über seinen Tod hinaus.

Kircher war und ist ein heute weitgehend vergessener und in Fachkreisen ein immer noch umstrittener Gelehrter. Der zu Lebzeiten hohe Grad der Verbreitung und Wirkung seiner Schriften steht im krassen Widerspruch zu den oftmals beträchtlichen Fehleinschätzungen, unwissenschaftlichen Ausschweifungen und offensichtlichen Plagiaten in seinen Äußerungen. Teilweise konnte er die Dinge nicht besser wissen, spekuliert und theoretisiert aufgrund lückenhafter und falscher Informationen, andererseits behauptet er aber auch Dinge von denen er weiß, dass sie nicht stimmen (Antrieb einer Uhr mit der Energie eines Sonnenblumenkerns, Entschlüsselung der Hieroglyphen, geozentrisches Planetensystem, etc.). Immer wieder entstehen daraus aberwitzige und für einen Menschen mit heutigem Wissen hochamüsante Geschichten. Allerdings war diese Arbeitsweise für das Zeitalter Kirchers nicht unüblich. Theorien wurden formuliert und die praktischen Erkenntnisse aus Mangel an Erkenntnis angepasst. Der wissenschaftliche Anspruch von Wiederholbarkeit eines Experiments war noch nicht etabliert. Aber Kircher wird mit zunehmenden Alter zur tragischen Figur, denn der Paradigmenwechsel, das Zeitalter der Aufklärung steht unmittelbar bevor. Und so muss der vormals unantastbare Gelehrte im vorangeschrittenen Alter mitansehen wie zentrale Thesen und Schriften seines Werkes von nachwachsenden Forschern massiv in Zweifel gezogen und seine Integrität in Misskredit gebracht wird. Nichtsdestotrotz haben auch seine fehlerhaften Theorien auf verschiedensten Wissensgebieten bis weit nach seinem Tod immer wieder für interessante Impulse gesorgt und tun es immer noch wie Literatur und Ausstellungen der zurückliegenden Jahre belegen.

Glassie schreibt routiniert, zugänglich und unterhaltsam. Immer wieder werden witzige Anekdoten und Querverbindungen zwischen die allgemeinen Ausführungen gestreut. Der Stil ist ernsthaft, solide recherchiert, aber angenehm unakademisch. Externe Quellen sind sauber markiert und in Fußnoten ausführlich dokumentiert. Der Autor leistet keinen eigenen Forschungsbeitrag, holt die Figur Kircher aber aus der Obskurität, gewährt neben der Biographie auch einen Einblick in die zeitgenössische Wissenskultur und deren Wandel. Damit gelingt ihm ein hochinteressanter und unterhaltsamer Einblick in eine entscheidende Phase der modernen Wissenschaftsgeschichte.

Die Übersetzung aus dem Amerikanischen stammt von Bernhard Kleinschmidt und ist angesichts der Herausforderung (trockene Materie, altdeutsche & lateinische Texte) bemerkenswert gut gelungen. Nur der Titel des Buches klingt im Amerikanischen etwas mehr auf den Punkt (‚A Man of Misconceptions. The Life of an Eccentric in an Age of Change’), aber vielleicht hat da der Verlag mitreingeredet. Das Buch enthält neben dem Text 17 kleinformatige, s/w-Abdrucke von Illustrationen aus Kirchers Werken.

Das gebundene Buch erscheint im Berlin Verlag, hat 350 Seiten und kostet 24,99 Euro.

4 Gedanken zu „Buch: „Der letzte Mann, der alles wusste“ von John Glassie

  1. Ja, sehr interessant!
    Ich frage mich, wieso die Gelehrten dieser Zeit die Tendenz und den Anspruch entwickelten, sich auf allen möglichen Gebieten zu “tummeln”. Gab es etwa im Bereich der Physik immer nur begrenzt drängende Fragen (was durchaus denkbar wäre) und man sich deswegen auch zwischenzeitlich anderen Feldern zuwandte? Musste ein Gelehrter zu allen Dingen Auskunft geben können, um als solcher gelten zu können? War es eine Frage des eigenen Marketing, zu allem etwas beisteuern zu können?
    “Trennschärfen” zwischen den Wissenschaften gab es wohl damals noch nicht. Um 18:00 wurde ja z.B. erstmals der Begriff “Biologie” verwandt.
    Wissenschaftsgeschichte ist per se ein recht interessantes Gebiet, in dem es viel Aufhellendes zu entdecken gibt..

  2. Noch etwas: “A Man of Misconceptions” finde ich ganz schön reisserisch, denn solcher Konzepte aufzusitzen, willentlich oder unwillentlich, ist ja nahezu unumgänglich gewesen. Ich habe mal angesichts der Theorie des Sehens über sehr vielfältige und letztlich untaugliche Konzepte im Laufe der Geschichte gelesen, die aber allesamt als Basis für die Weiterforschung in den nächsten Generationen dienten, sodaß man heute sehr viel mehr weiß.

    • @Gerhard. Naja, Kircher war schon ein eitler und machtbewusster Zeitgenosse. Es ging ihm nicht so sehr um Erkenntnisgewinn als vielmehr um Deutungshoheit und das ist mitunter bedenklich bzw. auch abstoßend, war aber offizielle Doktrin der Jesuiten: Machterhalt durch Kontrolle von Wissen oder so.
      Als er von Descartes, Kepler, Newton, Leibniz etc. wissenschaftlich widerlegt wurde, setzte er durch geschickte Winkelzüge alles daran, dass seine falschen oder fehlerhaften Theorien trotzdem weitergegeben wurden (hat aber nicht lange funktioniert), deswegen finde ich den englischen Titel passender als den deutschen. Trotzdem ist seine Karriere und sein Wirken beachtlich und hochinteressant. Allerdings muss man als moderner, aufgeklärter Mensch bei etlichen Passagen doch ordentlich mit dem Kopfschütteln bzw. schmunzeln wie Kircher teilweise diametral entgegengesetzte Positionen zwischen katholischem Hardlinertum und angeblich ergebnisoffener Experimente unter einen Hut brachte.
      Glassie weist am Ende zurecht darauf hin, dass auch uns das passieren könnte. Die Menschen in einigen hundert Jahren werden sich vermutlich köstlich darüber amüsieren wie unaufgeklärt und unwissend wir am Anfang des 21. Jahrhundert waren. Schon jetzt verstehen jungen Leute ja nicht mehr wie man ohne Mobiltelefon und Facebook leben konnte und das ist gerade mal ein paar Jahre her. Wie hat das damals nur alles funktioniert?

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