Berthold Seliger ist freier Autor und betreibt seit vielen Jahren eine Konzertagentur. Im Frühjahr 2013 legte er mit dem Buch „Das Geschäft mit der Musik: Ein Insiderbericht“ (Tiamat) einen bestens informierten, aufklärenden und meinungsstarken Text vor, der ungewohnte Einblicke in die Mechanismen der modernen Musikwirtschaft gewährte. Seliger ist ein engagierter Kämpfer für die gute Sache. Sein soeben erschienenes Nachfolgewerk trägt den Titel „I have a stream“ und ist ein ausführliches Plädoyer für die Abschaffung des – wie er es formuliert – „gebührenfinanzierten Staatsfernsehens“. Nach einer etwas provokanten Einführung, die an das vermeintlich trockene Thema heranführt, folgen zwölf umfangreiche Kapitel, die sich mit einzelnen Facetten auseinandersetzen. Die Überschriften lauten: Fernsehgeschichte, Öffentlich? Rechtlich?, Fernsehwirtschaft, Programm, Propaganda, Sozial.Demokratisch, Ideologie, Shows, Sport, Musik, Stream, abschließend folgt eine kompakte Zusammenfassung seiner grundsätzlichen Forderungen unter der Überschrift: Abschaffen!
Seliger beginnt im ersten Kapitel ganz von vorne, entwickelt die Fernsehgeschichte in Deutschland, beschreibt die Gründung der ARD und der anhängenden Regionalsender und die etwas undurchsichtige Gründung des ZDF, immer wieder kommt er auf die Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Fernsehens zu sprechen, die im Rundfunkstaatsvertrag (RStV) gesetzlich geregelt ist. Darin heißt es unter §11, Absatz 1:
„Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist es, […] als Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten haben in ihren Angeboten einen umfassenden Überblick über das internationale, europäische, nationale und regionale Geschehen in allen wesentlichen Lebensbereichen zu geben. Sie sollen hierdurch die internationale Verständigung, die europäische Integration und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Bund und Ländern fördern. Ihre Angebote haben der Bildung, Information, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Sie haben Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten. Auch Unterhaltung soll einem öffentlichrechtlichen Angebotsprofil entsprechen.“ (Hervorhebungen: D.S.).
Auf diese gesetzliche Maßgabe beruft sich Seliger immer wieder und gleicht sie in eloquenten und pointierten Ausführungen mit der bundesdeutschen Medienwirklichkeit der letzten Jahrzehnte ab. Und dabei nimmt er nun wirklich kein Blatt vor den Mund, es werden in atemberaubendem Tempo und auf sprachlich hohem Niveau öffentlich-rechtliche Absurditäten, Fehler und Peinlichkeiten aufgezählt. Der Autor legt ausführlich dar, dass es dabei nicht um einzelne Ausfälle handelt, sondern um einen organisierten, systemischen Missstand. Viele der angesprochenen Umstände hat man als Beobachter der sog. öffentlich-rechtlichen Fernsehsender in der ein oder anderen Form schon selbst beobachten können, ob das nun die unseligen Quizshows, behämmerte Heimatfilmchen zur besten Sendezeit oder der maßlos überteuerte Einkauf von Sportübertragungsrechten sind. Seligers ganz große Stärke ist es, diese Beobachtungen bis ins letzte Details aufzuklären und nachvollziehbar darzulegen. Er leistet damit wertvolle, aufklärende Arbeit, benennt uns Zwangsgebührzahlern die grundsätzlichen Systemfehler, die Falschauslegungen und offenkundigen Gesetzesbrüche. Er gibt unendliche Beispiele, erzählt von Skandalen, Betrügereien, dabei fallen auch die Namen von Mitwissern, Akteuren, Profiteuren, darunter viele Politiker, Möchtegern-Journalisten und Spielshowmoderatoren. Es ist unfassbar zu erfahren wie verschwenderisch mit öffentlichen Mitteln umgegangen wird, wie manipuliert und betrogen wird, wie eben gerade nicht ein „umfassender Überblick […] über das Geschehen […] in allen wesentlichen Lebensbereichen“ geboten wird, sondern die Bevölkerungen mit niveaulosen Quizsendungen, dumpfen Serien und bekloppten Bergidyll- und Urlaubsschmonzetten auf Groschenheftniveau ruhig gehalten und für dumm verkauft wird, während gleichzeitig wertvolle Beiträge auf hinterletzte Sendeplätze geschoben werden oder am besten gleich gar nicht produziert oder gesendet werden. Auch heikle Themen wie Zensur, Korruption und Propaganda lässt Seliger nicht aus, macht sie fassbar und findet treffende Beispiele, die einen sprachlos machen.
Es ist schwer angesichts dieser Situation nicht in bitteren Sarkasmus zu verfallen, doch dem Autor gelingt das über weite Teile des Buches. Sein Stil ist dabei geschliffen, intelligent und auf den Punkt, der Inhalt wird mit hoher Pulsrate, aber durchwegs prägnant, sachlich und in einer gut lesbaren, unakademischen Sprache präsentiert. Ihn würde man gerne in entsprechenden Talkshows sehen und hören, er legt den Finger in die Wunde. Nach diesem Buch ist eine baldige Einladung vom überfinanzierten sog. öffentlich-rechtlichen Fernsehen allerdings eher nicht zu erwarten.
Fazit: Mit diesem ausführlichen Plädoyer hat Seliger hervorragende aufklärerische Arbeit geleistet. Dafür kann ihm jeder Zwangsgebührenzahler, also seit neustem jedes Mitglied eines deutschen Haushalts, nur danken. Im letzen Kapitel fordert er in fünf Punkten die konsequente Auflösung des sog. öffentlich-rechtlichen Fernsehens innerhalb der nächsten vier Jahre. Die technischen Voraussetzungen, die ein solches System in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch erforderlich gemacht haben, haben sich verändert. Dass diese Forderung aus heutiger Sicht utopisch klingt, weiß er selbst, seine steile These lautet dennoch: Streamingdienste werden in naher Zukunft die Aufgaben der „Staatssender“ übernehmen. Auch wenn man diese Schlussfolgerung vielleicht nicht teilt, das Buch ist großartig: Dicke Empfehlung, unbedingt lesen!
Die Aussage des Buches wird von einem lesenswerten Blog mit monatlichen Eintragungen flankiert, leider ist die Kommentarfunktion dauerhaft deaktiviert. Das Taschenbuch erscheint bei Tiamat und kostet 16 Euro.
damn- how do you come across all these super interesting books?
and when the hell do you actually have the tym to read ‚em?
@MariUS-A: I’m a quick reader and saved „Time in Bottle“ (Jim Croce) 😉
mannmannmann denk ich auch immer bei deinen posts, und das bei vier kids – WIE GEHT DAS?
Irgendjemand muss diese ganzen Schwarten doch lesen und lobend erwähnen. Hab doch sonst nix zu tun.
Vielen Dank von einem Ex-Schweinfurter für diesen umfang- und aufschlussreichen Kommentar zu einem wirklich sehr empfehlenswerten Buchtitel, den ich mir soeben bestellt habe. Nieder mit der GEZ! 🙂