Buch: „Texte zur Musikästhetik“ von Frieder von Ammon & Elisabeth Böhm (Hg.)

MusikästhetikReclamBereits 2011 erschien bei Reclam das kleine, gelbe Büchlein „Texte zur Musikästhetik“. Frieder von Ammon und Elisabeth Böhm haben als Herausgeber 25 einflussreiche Texte zum Thema zusammengestellt. Die Entstehungszeiten erstrecken sich über mehr als 2000 Jahre und reichen von Platon bis Pierre Boulez. Das Buch beginnt mit einer Einleitung der Herausgeber, darin führen sie an das Thema heran, erklären die Problematik, begründen die Auswahl der Texte und weisen abschließend hin auf weiterführende Lektüre. Das alles ist plausibel und nachvollziehbar und bietet dem Leser einen angenehmen Einstieg.

Die folgenden 25 Kapitel sind chronologisch nach ihrer Entstehung angeordnet. Zu Beginn jedes Kapitels führen die Herausgeber auf 2-3 Seiten in das Thema ein. Nach einem biographischen Abriss, werden das Werk und die Grundpositionen des Autors beschrieben, die Auswahl des folgenden Textes begründet und die Bedeutung innerhalb des Gesamtwerkes erklärt. Bei der Vielzahl der im Büchlein präsentierten Autoren enthalten diese kompakten Einführungen wertvolle Informationen, die dem Leser Orientierung geben und die Lektüre der oftmals sperrigen Texte deutlich erleichtern. Besonders die antiken und mittelalterlichen Schriften (Martin Luther z.B. in Originalrechtschreibung) wären ohne diese Kommentierung nur schwer lesbar, vielleicht kaum oder gar nicht verständlich, weil die thematischen Bezüge fehlen oder heutzutage weitgehend unbekannt sind. Ob sie über ihre historische Relevanz hinaus irgendeinen Nutzwert haben, bleibt dem Leser überlassen.

Das Buch bietet einen guten Überblick über bedeutende Texte zur Musikästhetik und wird somit seinem Titel auf den ersten Blick gerecht. Man muss allerdings hinzufügen, dass es sich – wie in der deutschen Musikwissenschaft üblich – um eine extrem eurozentristische, klassisch-romantische und männerdominierte Sicht auf das Thema handelt. Musik bedeutet hier wieder einmal westeuropäische, klassische Musik. Musik aus anderen Teilen der Welt wird in keinem der ausgewählten Texte jemals auch nur am Rande erwähnt. Musik außerhalb des klassisch-romantischen Ideals ist nicht existent. Folklore, Jazz, Popmusik? Fehlanzeige. Unter den 25 Autoren ist genau ein einziger Nicht-Europäer (John Cage), kein Afrikaner, kein Südamerikaner und kein Asiat, übrigens auch keine einzige Frau. Und es ist nicht so, dass sich nicht auch andere zum Thema Musikästhetik geäußert hätten. Aktuelle Buchpublikationen wie „The Pop, Rock, and Soul Reader“ von David Brackett, „Audio Culture“ von Cox & Warner (Hg.), „The Rest is Noise“ von Alex Ross oder „The Ambient Century“ von Mark Predergart geben da ein differenzierteres Bild und beziehen sich bereits im Titel auf eine bestimmte Epoche, einen Stil, ein musikalisches Sujet. Diese Art der Bescheidenheit würde den eurozentristischen Experten auch gut zu Gesicht stehen und somit wäre ein korrekter Titel für das Büchlein: „Ausgewählte Texte zur Musikästhetik der klassisch-romantischen Tradition“.

Abgesehen von dieser Einschränkung handelt es sich um eine brauchbare Kompilation historischer Aussagen und Positionen. Inwieweit diese auf aktuelle und zukünftige Musikphänomene anzuwenden sind, bleibt allerdings fraglich.

Das Taschenbuch erscheint im Reclam und kostet 11,80 Euro.

3 Gedanken zu „Buch: „Texte zur Musikästhetik“ von Frieder von Ammon & Elisabeth Böhm (Hg.)

  1. @Dennis: Danke für die sachliche Rezension.

    Das mit dem Eurozentrismus siehst du zwar ganz richtig, andererseits hat die Klassische Indische, Persische, Arabische, Türkische oder Chinesische Musik nach meinem Kenntnisstand aber keine derart rasante Entwicklung während der letzten paar 100 Jahre durchlaufen wie die Europäische Kunstmusik.

    Aber existieren tun diese Außereuropäischen Musiken ja schon und sie haben auch ihre Ästhetik und ihre Theoretiker (vgl. auch den Artikel „Klassische Indische Musik“ in der Wikipedia und dort v. a. „Geschichte“). Dass die Autoren dies alles unterschlagen, ist, so gesehen, tatsächlich ein postkolonialistisches Symptom.

    • @Stefan: Das 20. Jahrhundert wird in dem Büchlein gerade mal von sechs der 25 Texte abgedeckt, der jüngste Text stammt ursprünglich aus dem Jahr 1989 (Pierre Boulez), Texte aus dem 21. Jahrhundert kommen gar nicht vor, .

      Aber selbst wenn man die Zusammenstellung als historischen Überblick zur mitteleuropäischen Musikästhetik versteht, fehlen immer noch die Bereiche Folklore, Jazz, Rock, Pop, Elektro etc. Das ist schon eine sehr starke und bedauerliche Verengung des Blickwinkels, die leider an keiner Stelle begründet oder erklärt wird. Ist das den Herausgebern oder dem Verlag gar nicht aufgefallen? Irgendwie seltsam.

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