Buch: „Musikgeschichte im Überblick“ von Werner Keil

Musikgeschichte(Keil)2014 erschien bei UTB „Musikgeschichte im Überblick“ in der zweiten überarbeiteten Auflage. Der Text basiert auf einer zweisemestrigen Vorlesung zur Musikgeschichte und entstand mit „umfassender Hilfe“ von Mitarbeitern und studentischen Hilfskräften am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold/Paderborn, wo der als Autor angegebene Werner Keil eine Professur für Musikwissenschaft bekleidet. Das Buch beginnt mit einem knappen Vorwort des Autors, das auch gleich die Danksagung umfasst. Werner Keil macht einige Anmerkungen zur Aufbereitung und verweist ohne nähere Angaben auf Musikbeispiele, die z.B. bei Youtube oder in CD-Sammlungen von Musikbibliotheken zu finden seien. Es folgt ein fünfseitiges Inhaltsverzeichnis und eine Einleitung. Hier werden Aufbau und Struktur der folgenden Kapitel begründet, es ist die Rede von Studium, Seminaren und Übungen und es wird klar, dass sich das Buch in erster Linie an Studierende der Musikwissenschaft und verwandten Fachrichtungen richtet. Die folgenden 27 Kapitel sind chronologisch angeordnet und in die zwei, umfänglich etwa gleich großen Hälften „Ältere Musikgeschichte bis 1800“ und „Neuere Musikgeschichte“ unterteilt. Über das Buch verteilt sind Notenbeispiele und historische s/w-Abbildungen, es endet mit Anmerkungen, einem Glossar der Abkürzungen und einem Personenregister.

Werner Keil bietet mit dieser Veröffentlichung einen sorgfältig ausgearbeiteten Überblick über den von der deutschen Musikwissenschaft etablierten Kanon der mitteleuropäischen Kunstmusik von der griechischen Antike bis ca. Mitte der 20. Jahrhunderts. Im besonderen Fokus stehen dabei die Kunstmusikkulturen von Italien, Deutschland, Österreich und Frankreich. England, Holland und Polen kommen am Rande vor. Skandinavien, Südosteuropa, die iberische Halbinsel sowie sämtliche andere Kontinente werden überhaupt nicht erwähnt. Dieser für die deutsche Musikwissenschaft zwar typische, aber unglaublich eng gefasste Blick auf die Geschichte, ist geradezu in einem peinlichen Ausmaß euro-zentristisch. Es kommt dazu, dass auch sämtliche europäische Entwicklungen aus den Bereichen Folklore, Jazz, Pop/Rockmusik ausgespart bleiben, übrigens mit dem Verweis, dass ein Kollege an einer entsprechenden Darstellung arbeitete (eine entsprechende Ankündigung war weder beim Verlag, noch beim genannten Autor zu finden). Gerade im 20. Jahrhundert führt das zu einigen sehr einseitigen Schlussfolgerungen. Wieder einmal wird Schönbergs Zwölftontechnik eine Bedeutung zugeordnet, die sie zum Zeitpunkt ihrer Entstehung und auch in der musikalischen Praxis nie hatte, serielle Kompositionsweisen und einige andere spezielle Verfahren werden noch gestreift, danach bricht die Geschichte schlagartig ab, so als wäre in den letzten 50 Jahren nichts erwähnenswertes mehr passiert. Tatsächlich bewegte sich die deutsche Neue Musikszene ab diesem Zeitpunkt in eine Sackgasse aus der sie bis heute nicht mehr herausgekommen ist. Dass die Entwicklungen in anderen Teilen der Welt (und anderen Stilistiken sowieso) durchaus weiterging wird geflissentlich unterschlagen. Man kann angesichts dieses Umstands nur mutmaßen welche wesentlichen Entwicklungen auch in den weiter zurückliegenden Epochen weggelassen wurden. Obwohl der Rückblick in der griechischen Antike beginnt, erfährt man z.B. mit keinem Wort was bis Ende des Mittelalters eigentlich in Mitteleuropa so musiziert wurde, stattdessen werden haargenau irgendwelche physikalische Formeln griechischer Mathematiker erklärt. Später dann genau umgekehrt: Kein Wort mehr über Griechenland, dafür ellenlange Textanteile über die Musikkultur im deutschsprachigen Kulturraum.

Auch phänomenal: Die Protagonisten sind ohne Ausnahme christliche Männer, es gibt ab dem Mittelalter keine einzige Darstellung von angehörigen anderer Religionen, natürlich auch nicht von Nord- oder Südamerikanern, Afrikanern oder Asiaten, und wohlgemerkt auch von keiner einzigen Frau. Bei all dem hat Werner Keil einen durchaus angenehmen Schreibstil, geht stellenweise mit zeitgenössischen Ansichten kritisch ins Gericht. Besonders interessant sind seine Ausführungen zu den epochetypischen Positionen der Musikwissenschaft, also seiner eigenen, akademischen Disziplin, deren Tendenziösität er immer wieder auf erhellende Weise offenlegt. Bei sich selbst fallen ihm vergleichbare Unwuchten leider nicht auf, bzw. werden sie nicht weiter thematisiert. Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner auffällig selektiven und erzkonservativen Themenschwerpunkte wirkt das Buch in sich geschlossen und kann als begleitende Lektüre jedem Studenten der deutschen Musikwissenschaft uneingeschränkt empfohlen werden. Andere musikgeschichtliche Themen werden einem im Studium ziemlich sicher nicht abverlangt, zumindest nicht in Deutschland. Um diesen lückenhaften, musikgeschichtlichen Überblick etwas zu vervollständigen empfehlen sich u.a.:

„Audio Culture“ von Cox & Warner (Hg.), „The Rest is Noise“ von Alex Ross, „The Ambient Century“ von Mark Predergart, „Early Jazz“ und „The Swing Era“ von Gunther Schuller, „A new History of Jazz“ von Alyn Shipton und „Bossa Nova“ von Ruy Castro.

Flankierend zum Buch erscheint, ebenfalls bei UTB, das Poster „Musikgeschichte im Überblick“ (6,99 Euro). In zwei unterschiedlichen 80er-Jahren-Designs (vorn/rück) werden hier, aufgeteilt nach kunstmusikalischen Epochen, bedeutende Komponisten inkl. Lebensdaten und einiger herausragender Werkbezeichnungen gelistet. Leider etwas lieblos und ohne großen Nutzwert. Das broschierte Taschenbuch hat ein gut lesbares Format, erscheint bei UTB und kostet 29,99 Euro.

8 Gedanken zu „Buch: „Musikgeschichte im Überblick“ von Werner Keil

  1. Auch hier ein (sanfter) Verriss. Gut geschrieben. Folgende unschuldig-naive Frage stellt sich mir: Wieso schreibst du eigentlich nicht ein derartiges Kompendium, wenn du doch in der Lage bist, Lücken und Auslässe ausfindig zu machen? Deine alternativen buchvorschlaege betreffen leider nur sehr abgezirkelte Themen.

    • @Gerhard: Danke für den Kommentar und die hoffentlich ernst gemeinte Frage. Nur weil ich Bücher rezensiere, will ich nicht gleich selbst ein besseres Buch schreiben. Verstehe meine Rezensionen als konstruktive Fachkritik und Beitrag zum kritischen Diskurs.
      Betätige mich ja, wie du weißt, sowieso schon in diversen Disziplinen und Formaten. EIn Buch habe ich bereits geschrieben, das war meine Dissertation, an der ich jahrelang gearbeitet habe und die immer noch als ebook erhältlich ist.
      Mir liegen aber eher die keinen Formate wie z.B. Blogbeiträge, Interviews, Erfahrungsprotokolle, Reiseberichte, Kurzgeschichten und Songs etc.

      Die Buchvorschläge behandeln abgezirkelte Themen, das ist richtig. In Kombination ergeben sie einen ganz guten Überblick. Ein Versprechen, den das besprochene Buch zwar in Aussicht stellt, aber leider nicht erfüllt. Wäre meines Erachtens auch ein sehr schwieriges bis unmögliches Unterfangen, wenn ein einzelner Autor die gesamte Musikgeschichte der Menschheit und sei es auch nur im Überblick darstellen will.

      • …ein sehr schwieriges bis unmögliches Unterfangen…ja, das ist natürlich auch meine Meinung, die angesichts der Fülle des Materials, der zu betrachtenden Zeiträume, der mannigfaltigen Orte des Musizierens, der jeweiligen Interpretation, was Musik eigentlich ist, wirklich nicht schwer zu finden ist.

        Mein Vorschlag war sozusagen halbernst: Dein musikgeschichtliches Wissen würde für ein breit angelegtes Essay alle Mal reichen.

  2. and here it is:
    die nächste spannende und aufschlussreiche Rezension – von mir mit wirklich großem Interesse gelesen.
    TOLL.
    Die von Gerhard gestellte Frage glaube ich beantworten zu können:
    So sehr man sich das auch wünschen mag…
    I imagine that would be a huge challenge timewise…
    Seems to me the author is simply too occupied w/ many other activities.

      • @ gerhard:
        haha… yeah, and while he’s busy doin’ that, why not have him solve the war refugees problem too?

        and if he’s still not busy enough… maybe have him in yet another band?
        like a thrash outfit or something like so out of his range he has to practice all day to keep up… haha.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert