Aufsatz: My Favourite Tracks – Meine allerliebsten Lieder, Teil 2

von Dennis Schütze
Erschienen in der Schriftenreihe “Lied und populäre Kultur” (59. Jg., 2014) des Zentrums für Populäre Kultur u. Musik zum Thema “Lieder/Songs als Medien des Erinnerns“

Produktionsjahre der Tracks in Relation zum Lebensalter

Weil neben dem Produktionsjahr der Tracks auch das Lebensalter der Talk-Gäste zum Zeitpunkt des Interviews ermittelt wurde, ist es möglich, diese Daten miteinander in Beziehung zu setzen. In einem ersten Schritt wurde für alle 510 Tracks das individuelle Alter eines Talk-Gastes bei Erscheinen eines Tracks ermittelt (Lebensalter minus Produktionsjahr). Hier war in einigen Fällen ein negatives Ergebnis möglich, wenn das Produktionsjahr vor dem individuellen Geburtsjahr lag. Die Verteilung der Produktionsjahre aller Tracks in Relation zum individuellen Lebensalter wird in Diagramm 3 dargestellt.

MFTGrafik4Diagramm 3: Verteilung der Produktionsjahre der Tracks in Relation zum Lebensalter (relativ)

Es ist bei der Gesamtbetrachtung deutlich zu erkennen, dass von den Talk-Gästen nur wenige Tracks mit einem Produktionsjahr gewählt wurden, das vor dem eigenen Geburtsjahr liegt. Die erste bemerkenswerte Anzahl von Track-Nennungen findet um das eigene Geburtsjahr (-1 bis 1) statt, ab dem fünften Lebensjahr steigert sich die Anzahl der Nennungen und im Alter von 15 Jahren ist ein erster Höhepunkt zu verzeichnen (16 Nennungen). Einen bemerkenswerten Einbruch kann man im Alter zwischen 24 und 28 erkennen, danach pegelt sich die Kurve auf stabile Werte um durchschnittlich ca. 10-11 Nennungen pro Jahr ein. Die immer weiter abfallende und im weiteren Verlauf ausfransende Kurve ab dem Lebensalter 45 ist zum Teil damit zu erklären, dass einige der Talk-Gäste das entsprechende Lebensalter noch nicht erreicht hatten. Es bleibt festzustellen, dass die Produktionsjahre der individuellen Track-Auswahl in der Regel kurz vor der eigenen Geburt einsetzen, in den Lebensphasen 12-22 und 28-38 ihre Spitzenwerte erreichen und danach abflachen. Tracks, deren Produktionsjahr vor dem eigenen Geburtsjahr liegt, scheinen für eine persönliche Biographie nur in sehr wenigen Ausnahmefällen eine besondere Bedeutung zu haben.

Diese Erkenntnis lässt sich auch durch eine weitere Darstellung erhärten. Betrachtet man das Produktionsjahr der Tracks in Relation zum Lebensalter pro Talk-Gast, so lassen sich individuelle Minima, Maxima und eine zeitliche Spanne der Produktionsjahre der Tracks in Relation zum individuellen Lebensalter darstellen (Diagramm 4).

MFTGrafik2Diagramm 4: Verteilung der Produktionsjahre der Tracks pro Gast in Relation zum Lebensalter (relativ)

Im Vergleich der Talk-Gäste untereinander sind zum Teil beträchtliche Varianzen zu erkennen. Bei den Minima sind zweistellige Negativwerte, also Produktionsjahre die zehn oder mehr Jahre vor dem eigenen Geburtsjahr liegen, die deutliche Ausnahme (5/51). Bezeichnenderweise sind es tendenziell die jüngeren Talk-Gäste, die diese seltenen negativen Werte erreichen. Sie haben aufgrund ihres jungen Lebensalters die Möglichkeit, auf eine große Anzahl von Tracks zurückzugreifen, die deutlich vor ihrem Geburtsjahr produziert wurden, und können somit auf Werte individueller Minima kommen, die von älteren Talk-Gästen aufgrund ihres weit zurückliegenden Geburtsjahres so gut wie gar nicht erreicht werden können. Es gibt nun mal nur eine sehr eingeschränkte Auswahl von Tondokumenten aus dem 19. oder beginnenden 20. Jahrhundert.
Die Jüngeren sind dagegen im Bereich der Maxima deutlich beschränkt, weil der Wert des Produktionsjahres in Relation zum Lebensalter das Alter zum Zeitpunkt des Talks rein rechnerisch nicht übertreffen kann. Hier haben wiederum die Älteren aufgrund ihres höheren Lebensalters die Möglichkeit, auf Werte der Maxima zu kommen, die von jungen Talk-Gästen gar nicht erreicht werden können. Im Bereich der Maxima werden mehrfach Werte über 50 (15/510), dreimal gar Werte über 60 (3/510) erreicht, d.h. 15 Talk-Gäste waren zum Zeitpunkt der Produktionsveröffentlichung ihrer jüngsten Tracks bereits 50 Jahre oder älter.
Aus den Minima und Maxima pro Talk-Gast lässt sich abschließend die Spanne der Produktionsjahre einer Auswahl in Relation zum individuellen Lebensalter berechnen und darstellen. Hieraus kann man unabhängig von musikstilistischen Faktoren die Breite des zeitlichen Bogens ablesen, den ein Talk-Gast mit seiner Auswahl in Relation zu seinem Lebensalter gespannt hat. Die Ergebnisse reichen von einer zeitlich eng begrenzten Spanne von 7 Jahren bis zu einer zeitlichen Ausdehnung von 72 Jahren, also nahezu einem Dreivierteljahrhundert. Der Durchschnitt der zeitlichen Spannen aller 51 Talk-Auswahlen beträgt 37 Jahre.

Diversität der Datenformate und Trägermedien
Mediengeschichtlich interessant ist in welchen Datenformaten und auf welchen Trägermedien die Talk-Gäste ihre ausgewählten Tracks mitbrachten. Es gab dazu keine technischen Vorgaben und es wurde ausnahmslos versucht, die angelieferten Datenformate und Trägermedien vorbehaltlos und ohne Formatanpassung zu präsentieren. Durch diese puristische Herangehensweise wurde mitunter bereits das einfache Abspielen der Tracks zur technischen Herausforderung, weil entsprechende Gerätschaft erst organisiert und aufgebaut werden musste. Von der Vinylschallplatte (Single, LP, Klangfolie) und Magnettonbändern (Schnürsenkel, Kompaktkassette), über VHS-Videos, Compact Discs (original & selbstgebrannt) und MiniDisc, bis zu MP3s (iPods, Laptops, Mobiltelefone) war alles dabei. In den letzten Jahren gab es zusätzlich von Beamern projizierte Video-Tracks und Musikclips von DVD, Festplatte oder als Stream aus dem Internet. Einige Tracks wurden im Verlauf der neun Staffeln auch live mit Playback oder Begleitung (Piano, Gitarre, Ensemble) performt. Bei den allermeisten Talk-Abenden handelte es sich aber um eine Kombination mindestens zweier oder aber auch mehrerer verschiedener Datenformate und Trägermedien. Den Talk-Gästen kann somit insgesamt und altersübergreifend ein unverkrampfter Umgang mit sowohl klassischen als auch zeitgenössischen Medien attestiert werden. Legt man die Erfahrungen dieser Talkshow-Reihe zugrunde, so ist unsere Gesellschaft von standardisierten Speicher- und Wiedergabemedien für Tonträger weiter entfernt denn je.

Schlusswort
Unter den 51 Talk-Gästen, die sich und ihre Favourite Tracks der Öffentlichkeit präsentierten gibt es einige soziokulturelle Gemeinsamkeiten. Alle sind kulturell engagiert, stehen in der Öffentlichkeit, befinden sich in einem mittleren oder vorangeschrittenen Lebensalter, leben in derselben fränkischen Universitätsstadt, besitzen eine deutsche Staatsangehörigkeit, verfügen über ein vergleichbares Bildungsniveau und haben ein respektables berufliches Wirkungsfeld gefunden. Trotz dieser wesentlichen Gemeinsamkeiten überraschte die Gesamtheit der Track-Auswahlen auf den ersten Blick durch ihren hohen Grad an Diversität. Den Mehrfachnennungen von klassischen Komponisten liegen jeweils verschiedene Werke zugrunde. Es gibt nur wenige direkte oder indirekte Dopplungen (4 bzw. 2) von einzelnen Tracks. Musikstilistisch reichen die gewählten Tracks von Klassischer Musik über Modern Jazz, Pop/Rock und World Music bis zu Elektronischer Musik und zeitgenössischer Klassik. Die Produktionsjahre umfassen in etwa die Jahre 1956 bis 2010 (Diagramm 2). In Bezug auf das individuelle Lebensalter beginnt eine Auswahl oft mit dem eigenen Geburtsjahr (Diagramm 4) und endet in aller Regel kurz vor oder zum Zeitpunkt des Interviews, beinhaltet also meist auch aktuelle Tracks (Diagramm 2). Trotz der soziokulturellen Homogenität der Talk-Gäste wirkt die Gesamtheit ihrer Track-Auswahlen bei dieser Betrachtung also ausgesprochen heterogen.
Es wurde bisher der naheliegenden Frage nachgegangen: Welche Tracks wurden von den Talk-Gästen gewählt? Man kann die Frage aber auch umkehren und fragen: Welche Tracks wurden von den Talk-Gästen nicht gewählt? Bei dieser Betrachtung ergibt sich ein etwas anderes Bild. Selten oder gar nicht gewählt wurden Tracks mit einem Produktionsjahr vor 1955 oder einem Produktionsjahr vor dem individuellen Geburtsjahr eines Talk-Gastes. Selten bis gar nicht gewählt wurden Tracks aus direkten Nachbarländern Deutschlands (Dänemark, Polen, Tschechien, Österreich, Schweiz, Frankreich, Niederlande, etc.) oder traditionelle europäische Folklore (Jiddische Musik, Gypsy/Sinti-Jazz, Böhmische Polka, Flamenco, Fado, Rembetiko etc.) Selten bis gar nicht gewählt wurden Tracks aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Ozeanien. In der Gesamtauswahl gibt es nicht einen Track aus den wirtschaftlich aufstrebenden BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika). Aber auch Tracks mit dezidiert lokaler oder regionaler Provenienz sind auffällig dünn gesät. Selten oder gar nicht wurden Tracks aus Würzburg, Unterfranken, Bayern oder aber auch Süddeutschland gewählt, keine Dialektlieder, wenig oder gar keine deutsche Volksmusik, volkstümliche Musik oder deutsche Schlager.
Die Gesamtheit der Track-Auswahlen wird eindeutig dominiert von anglo-amerikanischer Popularmusik aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und modernen Einspielungen mitteleuropäischer Kunstmusik. Innerhalb dieser scharf abgegrenzten Segmente kann den Track-Auswahlen eine beeindruckende stilistische Breite und ein gewisses „Qualitätsbewusstsein“ attestiert werden. Kommerziell erfolgreiche oder in weiten Teilen der Bevölkerung populäre Tracks werden vermieden zugunsten von Tracks, die ein gewisses bildungsbürgerliches Profil erkennen lassen sollen. Die eigenwillige „Heterogenität innerhalb homogener Verhältnisse“ der Track-Auswahlen lässt sich als Binnendiversifizierung oder Binnendiversität bezeichnen.
Als Repräsentanten für die eigene Biographie werden von den Talk-Gästen in erster Linie Tracks aus westlichen Musikkulturen gewählt. Auffällig dabei ist, dass sich diese Vorliebe nicht auf das lokale bzw. regionale Umfeld erstreckt. Hier sprechen die erhobenen Daten ein klare Sprache: Von Musik aus der Region (unabhängig von ihrer Stilistik und ihrem Produktionsjahr) scheint man gründlich entfremdet zu sein. Eine starke Identifikation ist zumindest bei den Track-Auswahlen in keinem Fall zu erkennen.
Von Beginn an war es ein erklärtes Ziel der Talkshowreihe durch die spezielle und persönliche Form der Präsentation das Interesse der Talk-Gäste füreinander anzuregen und dadurch die interdisziplinäre Vernetzung der regionalen Akteure zu befördern. Leider muss konstatiert werden, dass dies nur in sehr bescheidenem Ausmaß gelungen ist. Talk-Gäste einer gemeinsam beworbenen Staffel oder fachliche Kollegen benachbarter Kultursparten besuchten nur dann die Show eines anderen, wenn bereits vorab eine Freundschaft oder Bekanntschaft bestand oder sich zumindest ein repräsentativer Besuch empfahl. Dies mag natürlich auch mit der im Kulturbetrieb (und nicht nur dort) allgegenwärtigen Kompetitivität zu tun haben. Das Publikum der Talkshows setzte sich demzufolge zumeist aus persönlichen Freunden, Bekannten, sowie kulturinteressierten Frauen und Männern im mittleren Alter (ca. 40-60 Jahre) zusammen.
Die persönlichen Bestenlisten von „My Favourite Tracks“ sind natürlich nicht repräsentativ für die deutsche Gesamtbevölkerung, für die untersuchte Gruppe von Akteuren der regionalen Kulturszene einer mittelgroßen deutschen Universitätsstadt dürften sie aber zumindest einen gewissen Prägnanzwert besitzen. Je nach Erhebungszeitraum sind die absoluten Werte der Produktionsjahre der Track-Auswahlen variabel, aller Voraussicht nach aber blieben die Werte der Produktionsjahre in Relation zum Lebensalter und die sich daraus ergebenden zeitlichen Spannen in etwa stabil. Der Zeitraum ab der eigenen Geburt bis zur jeweiligen Gegenwart und ein aus Kindheit und Jugend vertrauter, aber überregionaler Kulturkreis wird wohl in den meisten Fällen auch weiterhin den Bezugsrahmen einer Auswahl von „Favourite Tracks“ bilden, die für das eigene Leben repräsentativ sind.

Die Namen aller Talk-Gäste sowie deren Kurzbiographien und Tracklisten sind zu finden unter: www.myfavouritetracks.de

Ende Teil 2, (Teil 1)

2 Gedanken zu „Aufsatz: My Favourite Tracks – Meine allerliebsten Lieder, Teil 2

  1. Auch diesen zweiten Teil finde ich sehr interessant.
    Bzgl. dem Fehlen von Dialektlieder: Unlängst konnte ich in einer Kneipe in „Kölle“ solche Lieder hören und sie gefielen mir sehr. In ihnen war vom einfachen Mann um die Jahrhundertwende, seinem schweren Leben und seinen ihm möglichen Vergnügungen zu hören.
    So etwas ist mir hier in unserem Raum nicht bekannt. Aber ein solcher wehmütig/fröhlicher Track wäre bei mir vermutlich mit im Boot gewesen.

    Daß auch keine „interdisziplinäre Vernetzung“ stattfand, ist schade.

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