Hottentottenmusik

Als ich heute morgen noch etwas verschlafen durch den Wohnungsflur ins Badezimmer schlurfte, standen dort meine beiden Söhne (8 u. 10 Jahre alt) am Waschbecken und putzen sich gerade die Zähne. Vom Fensterbrett ballerte ein unsäglicher musikalischer Blödsinn aus dem aufgedrehten Kofferradio. Sie hatten wieder mal meinen Standard- und Lieblingssender „Deutschlandradio Kultur“ verstellt (wie ich das hasse) und mir knallte irgendein Shubbie-Du-Lalala-Chorus eines süddeutschen Formatradiosenders entgegen. Noch ehe ich aktiv nachdenken konnte, kam mir der Satz „Was ist das für Hottentottenmusik?!“ über die Lippen. Kaum hatte ich das letzte Wort ausgesprochen, zuckte ich innerlich zusammen, weil mir gleich klar war, was für eine schwache, unüberlegte und klischeebesetzte Ansage das nun gewesen war, aber ich hatte es tatsächlich für einen Augenblick ernst gemeint. Mein Söhne hatten mein Innehalten bemerkt, feixten sich eins und grinsten sich triumphierend an: Papa genervt, Mission erfüllt, ich schüttelte verständnislos den Kopf, ging rückwärts raus und ärgerte mich derweil über mich selbst. Aber irgendwie stimmt es doch, oder etwa nicht? Ist es nicht meine Pflicht als Elternteil, die Musik, die meine Kinder so großartig finden, ein bisschen scheiße zu finden, mich davon zu distanzieren und mich vor ihnen bestenfalls auch abfällig darüber zu äußern? Ist so eine Opposition nicht wichtig für ihre eigenständige kulturelle Entwicklung? Wogegen sollen sie sich auflehnen, wenn ich alles immer „eigentlich auch irgendwie ganz okay“ finde? Sie sollen früh lernen für die eigenen Überzeugungen einzustehen. Und ein kleiner intrafamilärer Kulturkampf hat auch noch keinem geschadet, oder liege ich da falsch?

Die Episode ließ mir heute Vormittag dann keine Ruhe mehr und ich habe im Netz versucht zu recherchieren, was da morgens genau gelaufen war. Ganz sicher bin ich mir nicht, aber es könnte David Guetta feat. Sam Smith mit „Dangerous“ gewesen sein. Das Video kann unfassbar viele Zugriffe auf Youtube verzeichnen, es scheint also vielen Menschen auf der ganzen Welt zu gefallen, ich müsste mit Seelenlosigkeit, Ausverkauf und gnadenlosem Kommerz argumentieren, wenn ich eine Diskussion darüber vertiefen wollte. Will ich aber nicht, damit würde ich mich nur immer tiefer reinreiten, habe bereits vor Augen wie sich meine Söhne über meine Ernsthaftigkeit dem Thema gegenüber kaputtlachen. Andere Frage: Warum kenne ich die Produktion als erklärter Popmusiker nicht? Warum gefällt sie mir nicht, wenn sie doch so vielen anderen gefällt? Bin ich von gestern? Zu alt? Nicht mehr am Puls der Zeit? Ein alter Sack? Oh Mann, hätte ich heute Morgen bloß den Mund gehalten.

Wikipedia: „Hottentotten war eine in der Kolonialzeit von den Buren erstmals verwendete Sammelbezeichnung für die in Südafrika und Namibia lebende Völkerfamilie der Khoikhoi, zu der die Nama, die Korana und Griqua (Orlam und Baster) gehörten. Man geht heute davon aus, dass die holländische Bezeichnung Hottentot seit ihrer Einführung hauptsächlich abwertend rassistisch und diskriminierend verwendet wurde. Außerdem wurde das englische Wort Hottentots auf Menschen mit vermeintlich unterlegener Kultur und Mangel an intellektuellen Fähigkeiten übertragen.“

15 Gedanken zu „Hottentottenmusik

  1. Oh man, mir geht es genauso!!!
    Mein Sohn möchte immer meine Reaktion sehen, wenn er wieder ein neues Lied für gut befindet. Und mir fällt regelmäßig die Kinnlade runter und ich gebe auch meinen Senf dazu. Natürlich prallt das meistens ab und ja, wir gehören natürlich zu den “Alten” ! Interessant finde ich dann, dass mein Sohn immer auf die Klickzahlen verweist und ihm die Anzahl der Klicks als Argument reicht, dass es ein guter Song ist.

    • Ist es nicht so? Wir hatten doch schon mal, in anderer Runde, das Thema Klickzahlen. Mehr Klickzahlen bedeutet: Es gefällt vielen. Keine Klickzahlen: Es interessiert niemanden 😉

  2. ,,,manchmal is der massengeschmack auch nicht schlecht! früher war ich stolz krudes zeug zu kennen (lounge lizards, neubauten usw) habs gehört auch wenns mir gar nicht gefallen hat und dadurch aber auch erst zugang zu nicht eingängiger musik gewonnen, kann also nicht schaden den blick weit zu halten…

    • Ja, man muss immer mal wieder den unvoreingenommenen Blick über den eigenen Tellerrand wagen, sehe ich auch so, ich zwinge mich auch in regelmäßigen Abständen dazu. Das muss natürlich in möglichst viele Richtungen gehen, also nicht nur das anspruchsvolle und komplexe, sondern auch das banale und unterkomplexe, manchmal erscheint dann das vermeintlich einfache auf einmal ziemlich interessant oder aber auch das elitäre furchtbar gewöhnlich.

      Lounge Lizards habe ich auch gehört und fand das (für mich jetzt) revolutionär. Habe ich von einer Mitschülerin zum 17. Geburtstag geschenkt bekommen, ich tat natürlich so als wäre mir das alles bekannt und habe ganz selbstverständlich getan, in Wirklichkeit hat mich das total umgehauen und herausgefordert, quasi der erste Modern Jazz, bei dem ich richtig mitgehen konnte. Eines der besten Geschenke, das ich je bekommen habe, hab’s mittlerweile als CD und bin Tina heute noch dankbar, wäre damals nie von selbst drauf gekommen. Voice of Chunk!

      • Bei mir war das Jazzanova. Ein befreundeter Bassist leihte mir eine Compilation von Jazzanova, early works.
        Ich fand die CD nicht beeindruckend. Beim Wiedertreffen sagte ich es ihm. Der war völlig baff, so eine Wertung von mir zu hören. Also setzte ich mich zuhause nochmal hin und hörte mir die CD genauer an und befand: Hey, das war richtig gute ausgefeilte Musik! Und ich kaufte danach alles von Jazzanova auf, kam danach auch auf deren Mentor Gilles Peterson und kaufte a.l.l.e.s , was er bisher veröffentlicht hatte, sogar über discogs ganz rare Sachen.

  3. @Alle: Vielleicht könnt ihr euch noch zum Thema Wertung von Musik und/oder Kultur äußern. Da würde mich eure Meinung interessieren. Habe den Eindruck, dass sich die meisten aus Unkenntnis oder Gleichgültigkeit sehr damit zurückhalten. Unterschwellig tut man tolerant und will alle leben lassen, oft wird aber auch süffisant gelächelt, wenn sich andere geschmacklich festlegen. Dabei halte ich begründete Wertung für einen integralen Bestandteil des kulturkritischen Diskurses. Wenn alles gleichwertig ist, ist irgendwie auch alles egal (und dann zählt eben die Quantität, die ist wenigstens handfest, aber leider nur selten diskutabel). Auch das wollte ich mit der kleinen Anekdote anstoßen. Was gibt es dazu zu sagen?

    • Natürlich werte ich Musik!
      Ich habe aber zumindest in der Vergangenheit vieles an Hörbarem ausprobiert, um nicht vorschnell zu urteilen. Manches erschliesst sich erst in seiner Eigenwertigkeit nach mehrmaligem Anhören…wenn der erste “Widerstand” mal abgetropft ist. Von vorneherein sagen, diese Musiksparte ist nicht mein Fall, das lasse ich kaum zu.
      Wenn Kids bestimmte Musik gut finden, aus “aussermusikalischen” Gründen wie Beliebtheit, dann kann man das so stehen lassen, auch wenn die Qualität nicht stimmt. Denn “Qualität festzustellen” ist eine andere Sache, die muß gelernt werden. In so einem Fall wird Musik zum “Studium” und ist nicht mehr “Hintergrundgerassel”.

      Musik hat auch grundverschiedene Funktionen, Musik ist nicht Musik. Da wird auch ein Fehler begangen. Wenn ich Musik zum Abtanzen brauche, dann höre ich mir einen DJ-Mix an, will ich mit einer Freundesgruppe zusammen zu einem Metal-Konzert gehen, dann um mit ihnen zusammen zu sein. Höre ich mir Songwriting an, dann interessieren mich völlig andere Anteile, so ich diesen Anteilen Raum geben will. Etwa einer Stimme. Eine Stimme hat ja normalerweise nix in einem DJ-Mix verloren.
      Zudem geht man ja in seiner musikalischen Biographie voran, schlängelt sich durch die Angebote und hört meist nicht mehr, was man vor 5 Jahren interessant fand. Es kann durchaus so sein, daß man eine alte Scheibe nimmt und feststellt: Das hat nachwievor etwas. Aber mittlerweile “kämpft man sich an einer anderen Front ab” und greift doch recht selten auf älteres Material zurück. So geht es zumindest mir.

      Einigermassen zufrieden, Dennis?

      • @Gerhard: Ja, sehr interessant, vor allem die Ausführungen zu den verschiedenen Hör- und Gebrauchssituationen. Eigentlich ja klar, aber muss man sich immer wieder bewusst machen und auch entsprechend berücksichtigen. Was beim Autofahren gut klingt, kann auf dem Dancefloor der total Ausfall sein, was als Filmmusik gut passt, kann im Konzertsaal vollkommen banal klingen und andersherum. Eine sehr wichtige Erkenntnis, es gibt also keine absoluten, immer gültigen Kriterien für die Bewertung gerade von Musik, weil man dabei oft noch etwas anderes macht/machen kann und sie für einen bestimmten Zweck oder anlässlich einer momentanen Stimmung eingesetzt werden kann, das ist bei anderen Kunstsparten nicht immer möglich. Musik bietet da definitiv mehr Einsatz- und Kombinationsmöglichkeiten.

        • Ja Dennis. Hinzu kommt auch noch ein neurologischer aspekt. Bestimmte schwingungen räsonieren besonders gut mit dem jeweilgen hirnwellenmuster und können so anders wahrgenommen werden als wenn sie diesbzgl nicht ” passen”. Erst kürzlich gelesen, dlf, Martin hubert.
          Hinzu kommen die ureigenen Erfahrungen mit Musik. Was habe ich alles bisher gehört , was klingt da seelisch an. Erinnert mich unbewusst die stimme an irfendjemanden aus meiner biographie? Auch das psychologische: Lehne ich unbewusst Musik ab, die etwas in sich trägt ( etwa eitelkeit), die ich ablehne, ohne darum zu wissen.
          Wäre Musik qualifizierbar, dann könnte man ohne weiteres ein Programm schreiben, das ein Musikstück bewerten kann…ohne wenn und aber!!

  4. Ich persönlich glaube, dass es vor allem daran liegt, dass es, je älter man wird, schwieriger wird aus den Socken gehaut zu werden. In jungen Jahren ist es einfach etwas besonderes, wenn man das erste Mal völlig weggeblasen wird von einer Musik, die einen einfach trifft. Die für einen alles richtig macht, Man wird… naja “entjungfert”.
    Das passiert danach einfach nicht mehr und die Musik die später kommt, reitet auf der Welle der Erfahrungen mit und kann nicht mehr so einschlagen wie es die ersten Stücke gemacht haben.
    Dann bildet sich ein Geschmack aus, also eine Form der Musik, die einem auch nach dem hundertsten Mal hören noch bekommt und das will man dann natürlich auch hören. So entwickelt es sich halt, dass man irgendwann früh ins Badezimmer kommt und irgendeinen elektronischen Schwachsinn wahrnimmt, der so gar nichts zum läuten bringt, sondern sich einfach nur furchtbar anhört….

    Die Sendung Southpark hat hier eine ganze Episode abgedreht, die das Phänomen “erklärt”. Einer der Protagonisten “Stan” wird 10 Jahre alt, und plötzlich klingt die Musik von früher schei***. Wer den etwas fäkalen Southpark Humor mag, wird hier seinen Spaß haben. Die Episode heißt treffend: “Hört sich wie sche*** an.” Auf der Homepage der Sendung kann man alle Folgen ganz legal kostenlos streamen.

    (http://www.southpark.de/alle-episoden/s15e07-hrt-sich-wie-scheie-an#source=e3748950-6c2a-4201-8e45-89e255c06df1:25eec0b8-ed8e-11e0-aca6-0026b9414f30&position=7&sort=!airdate)

  5. Ich möchte zu der Diskussion noch einen leicht anderen Gesichtspunkt hinzufügen. Auch wenn es unbestritten beim “Genuss” von Musik immer einen sehr subjektiven Anteil gibt, glaube ich, kann man durchaus auch (quasi-)”quantifizierbare” Kriterien festmachen. So würde ich zum Beispiel wagen, das besprochene Lied mit früheren Titeln von David Guetta zu vergleichen. Da fällt mir auf, dass viele Elemente, die seine Musik früher unverkennbar und auch irgendwie interessant (zumindest zum Tanzen) gemacht haben, in “Dangerous” einfach fehlen. DG hatte mal einen sehr eigenen Sound, der manchmal von ganz passablen Stimmen lebte, meistens aber von sehr eingängigen Beats und einem anzuerkennenden Geschick, den Titel “songdienlich” auszugestalten. Das vermisse ich in dieser für seine Verhältnisse eher balladesken Produktion. Es fehlt eine unverkennbare Hookline, stattdessen ist das Lied in Tempo und Rhythmus austauschbar gehalten. Und meine sehr subjektive Meinung zur Stimme: gruseliges Pop-Gequietsche, bei dem viel zu viel Tontechniker auf wenig Talent trifft.
    Um den Bogen wieder ein wenig zurück zu spannen: Auch wenn einem ein Genre nicht gefällt, gibt es in diesem doch immer wieder Künstler, denen man ein gewisses Geschick einfach anerkennen muss. Mitte der 2000ender etwa war das der sehr erfolgreiche Produzent Timberland, der (mit Justin Timberlake) es zumindest schaffte, einen unverkennbaren und neuen Sound zum Pop hinzuzufügen (meine Meinung). Mit Abstrichen würde ich das auch David Guetta zuschreiben, obwohl für meine Ohren bei ihm schon wieder deutlich mehr Bekanntes aus den 90ern mitschwingt. Um mal ein Beispiel aus einem anderen Genre zu bringen: Wir sind uns wahrscheinlich einig, dass Nirvana nicht zu den virtuosesten aller Rockbands gehörte und doch hatten sie einen Sound, der vielleicht gerade durch die instrumentale Einfachheit neu und vielleicht auch genial war und ein riesiges Publikum begeisterte. Vielleicht war es auch schlicht die Antithese zum Glamrock der 80er, der den Erfolg brachte – Dennis als Musikwissenschaftler weiß da vermutlich mehr…
    Also abschließend: Ich würde zustimmen, dass es Musik für gewisse Anlässe gibt und auch, dass es mit zunehmendem Alter schwieriger wird, sich an Neues oder Anderes zu gewöhnen. Davon abgesehen würde ich behaupten, dass man im Radio leider in letzter Zeit oft mit nachezu gleichgeschalteter, weich gespülter und ideenloser Musik drangsaliert wird, die tatsächlich eine gewisse Genialität vermissen lässt. Ich kann nur hoffen, dass das ein temporäres Phänomen ist, und bald wieder jemand mit frischen Ideen auf der Bildfläche erscheint. Hoffnung gibt mir, dass es immer wieder Phasen gab (einige zählen die kompletten 90er als solche), in denen wenig passierte, man dann aber doch immer wieder (angenehm) überrascht wurde.
    PS: Ja, ich finde es auch traurig, dass Klickzahlen ein Argument für Qualität zu sein scheinen. Andererseits kann ich es bei Jugendlichen auch verstehen, dass sie gegenüber dieser Gruppendynamik empfänglich sind. Die Erfahrung, dass man auch “dazu gehören” kann, wenn man eine abweichende Meinung hat, kommt wahrscheinlich erst später im Erwachsenwerden. Bei einigen vielleicht (leider) nie…

  6. Der vorherige kommentar passt hervorragent zum gerade laufenden gleichschaltungskontest, der mit seinem namen ja schon zum beenden seiner selbst aufruft “esc”

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