Norbert Schläbitz ist leitender Professor des Faches Musikpädagogik an der Westfälischen-Universität Münster. Seit vielen Jahren veröffentlicht er Arbeitshefte und Schulbücher für die Fächern Deutsch (EinFach Deutsch) und Musik (O-Ton). „Als Musik und Kunst dem Bildungstraum(a) erlagen“ erscheint bei V&R unipress und trägt den Untertitel „Vom Neuhumanismus als Leitkultur, von der »Wissenschaft« der Musik und von anderen Missverständnissen“. Die umfangreiche Schrift ist nichts weniger als eine fundamentale und knallharte Systemkritik. Aus dem Blickwinkel eines progressiven Geistes- und Musikwissenschaftlers stellt Schläbitz das überlieferte, deutsche Bildungsideal in Frage und zerlegt es nach allen Regeln der argumentatorischen Kunst in seine Bestandteile. Im Zentrum der Betrachtung steht dabei der Humboldt’sche Bildungshumanismus, den er als wirkmächtige Ideologie ohne Realitätsbezug versteht, die zu Ignoranz, Arroganz und Ausgrenzung führt.
Das Buch beginnt mit einer ausführlichen Einleitung, in der die Ausgangslage dargelegt und die weitere Vorgehensweise umrissen wird. Es folgen dreizehn Kapitel: Kritik der Medien, Bildungsfantasien, Bildungspraxen, Das Inhumane humaner Bildung, Musik als Sprache, Komplexitätslüge, Vom Wortlaut der Schrift, Lesbarkeit der Partituren, Geburt der Musikwissenschaft, „E“ und „U“, Gegenstand der Fachdisziplin, Fachdisziplin Musik, „Rücksturz zur Erde“, Aufbruch zu einer „transhumanistischen“ Bildung.
Wortreich, sachlich und belegt durch viele Beispiele erklärt Schläbitz in den ersten Kapiteln des Buches, was das Humboldt’sche Bildungsideal genau ist, woher die Idee stammt, wie sie gedacht war und was sie bewirken sollte. Gleichzeitig geht er damit aber bereits kritisch ins Gericht und zeigt auf wie wenig diese Ideale mit den damaligen oder gegenwärtigen gesellschaftlichen Zuständen zu tun haben. Eine zentrale, bildungshumanistische Idee ist es beispielsweise, dass die rückwärtsgewandte Betrachtung vermeintlicher kultureller Großtaten den Sinn für das Gute, Edle, Schöne entwickelt und der Mensch so auch selbst besser, edler und schöner (?) wird. Deswegen werden Schüler bis zum heutigen Tag an höheren Schulen mit Latein und Altgriechisch, Literatur-, Kunst- und Musikgeschichte gequält, müssen Theater-, Ausstellungs-, und Konzertbesuche über sich ergehen lassen, auch wenn sie damit in den seltensten Fällen etwas anfangen können und die Zwangsmaßnahme meist sogar einen gegenteiligen Effekt hat. Schläbitz belegt genauestens, dass Generationen von Schülern durch entsprechende Inhalte eben genau nicht besser und edler geworden sind, sondern ignoranter, arroganter und ablehnender. Und diese Entwicklung ist kein Zufall, sondern systematische Folge der zugrunde liegenden Idee: Wenn es, vorzugsweise in der Vergangenheit, zeitlose, idealtypische kulturelle Werte gibt (Griechen, Römer, Mitteleuropa), gibt es auf der anderen Seite, vorzugsweise in der Gegenwart, auch irrelevante, zu vernachlässigende, unterkomplexe Werte (Afrika, Asien, Amerika, Australien). Von diesen grundsätzlichen Überheblichkeitsgedanken waren u.a. Missionierung, Kolonialisierung, nationale Auseinandersetzungen und zwei fürchterliche Weltkriege geprägt. Am deutschen Wesen sollte die Welt genesen.
Im Folgenden nähert sich der Autor der speziellen Situation seines Fachgebiets Musikwissenschaft/-pädagogik und dekonstruiert argumentatorisch geschickt, immer wieder auch stark polemisch einige der zentralen, ungeprüften Mythen der Disziplin. Dazu gehören u.a. der angeblich so enge Zusammenhang zwischen Musik und Sprache, die rückhaltlos positive Bewertung von Komplexität in jeglicher Form und die gleichzeitige Abwertung von Einfachem (Unterkomplexem), die Übergewichtung von notierter Musik und die Vernachlässigung nicht-notierter Musik, der z.T vollkommen irrwitzige und äußerst unkonkrete musikwissenschaftliche Sprachduktus, die konstruierte und nur im deutschsprachigen Raum gebräuchliche Unterscheidung in „E“ und „U“ und nicht zuletzt der Problemkomplex „Neue Musik“. Diese Themen werden in einem ausufernden Mittelteil aufgearbeitet und ausführlich dargelegt.
Schläbitz ist ein begabter Polemiker und es ist sehr anregend und unterhaltsam zu verfolgen, wie konsequent er seine Kritikpunkte zu Ende denkt und auch auf Papier bringt. Zum Teil führt das zu weitreichenden Feststellungen und Forderungen, z.B. wenn er die Schließung oder zumindest komplette Neuausrichtung musikwissenschaftlicher Institute in Deutschland fordert oder die Streichung der finanziellen Förderungen für „Neue Musik“ um damit eine Hinwendung zu gesellschaftlichen Realitäten und Erfordernissen zu bewirken. Es bleibt zu vermuten, dass er mit diesen krassen, im Grunde aber durchaus nachvollziehbaren Forderungen bei Fachkollegen auf massive Ablehnung stößt. Es ist äußerst erfreulich, dass er dennoch so offen, kühn, ja fast todesmutig aufspricht, dabei hält er sich mit persönlichen Angriffen und persönlichen Anekdoten auffällig zurück.
Auch wenn es passagenweise den Anschein hat, verliert sich der Autor nicht in seiner gnadenlosen Kritik, sondern bleibt immer souverän und bietet im letzen Kapitel mit der Idee einer transhumanistischen Bildung einen konzeptionellen Ausblick, der einige Eckpfeiler für die dringend angeratene Erneuerung setzt. Zentrale Idee ist es, dass Schüler und Studenten das selbständige Lernen erlernen und das ist eine Forderung, die direkt an die ursprünglichen Vorgaben von Humboldt anschließt. Es ist dafür entscheidend zu verstehen, dass wir nicht weiterhin mit einem absoluten Kultur- und Wertesystem in eine ideale Vergangenheit zurückblicken, sondern dass wir die dynamisch sich verändernden Kultur- und Wertesysteme der Gegenwart und Zukunft betrachten und sie wahrnehmen, betrachten, genießen, analysieren, interpretieren, bewerten, nutzbar machen, transferieren usw. Schläbitz argumentiert, dass wir uns bzgl. Bildungsverbreitung mitten in einer entscheidenden Zeitenwende befinden. Die umfassenden Veränderungen der Digitalisierung und ihre Folgen empfindet er als ähnlich revolutionär und wegweisend wie die Gutenberg’sche Erfindung des Buchdrucks und der Vergleich leuchtet ein. Spätestens jetzt müssen Kinder, Jugendliche und Studenten auf die neuen Bedingungen vorbereitet werden. Informationen, Wissen, Produktionsmittel und Verbreitungsmedien stehen uns in einer digitalen Welt ungefiltert und größtenteils frei zur Verfügung. Wir müssen uns orientieren, bzw. die Befähigung zur Orientierung erlernen, Erfahrungen sammeln, ein Gefühl, einen eigenen Geschmack entwickeln, Beurteilungskriterien und Standpunkte festlegen, folgenreiche Entscheidungen in einer sich ständig verändernden Welt treffen, aber auch eigene Meinungen immer wieder überprüfen und bei Bedarf revidieren. Wir müssen Stimmungen aufgreifen, kritisch hinterfragen, essentielle Informationen sammeln, irrelevantes Wissen zur Seite legen, aber bei Bedarf darauf zurückgreifen. Wir müssen lernen mit neuen Medien umzugehen, vielleicht auch lernen sie nicht zu nutzen, wie müssen Fake-News von belegten Fakten unterscheiden und wir müssen akzeptieren, dass es längst keine vermeintlich ewig richtigen Wahrheiten mehr gibt, dass was heute richtig erscheint, morgen falsch sein kann und dass sich alles immer verändert und wir uns mitverändern. Dabei hilft kein „Bellum Gallicum“, kein Shakespear’sches Sonett und keine Sonatenhauptsatzform, sondern nur offensive, aufgeklärte Auseinandersetzung. Manchmal hat man heutzutage den Eindruck Kinder und Jugendliche sind da schon wesentlich weiter als die meisten Gelehrten der akademischen Institutionen.
Bei aller Sympathie für die berechtigten Ausführungen des Autors muss an dieser Stelle Kritik an Sprache und Stil geübt werden. Allein die schiere Länge des Textes (gut 400 engbedruckte Seiten, 5 Abbildungen s/w) ist für moderne Leser eigentlich eine Zumutung. Hinzu kommen die elend langen Haupt- und Nebensatzkonstruktionen, oft mit (vermutlich im Lateinunterricht) erlernten Partizipienkonstruktionen. Da hat anscheinend die Lektüre von musikwissenschaftlichen Texten aus dem 19. Jahrhundert stark auf den Schreibstil des Autors abgefärbt. Der Stil ist zwar eloquent und fein geschliffen, aber beim besten Willen nicht mehr zeitgemäß. Das fällt besonders auf, weil der Inhalt doch so modern und progressiv ist. Jedem Studenten hätte man gesagt: Fass dich kürzer, formuliere es prägnanter, straffe die Aussage. Naja, vielleicht für den Autor ein Grund mehr auch auf dieser Ebene die alte Denke zu überwinden und sich stilistisch der Gegenwart und Zukunft zuzuwenden. Ein nächstes sinnvolles Projekt wäre: Die Übersetzung der wertvollen Gedanken in zeitgemäße, prägnante Sprache inkl. bildungspolitischen Forderungen und das auf 120 knackigen Taschenbuchseiten. So, dass es auch ganz normale Menschen lesen und verstehen können. Was nützt ein kluger, kritischer Text, wenn er stilistisch unnahbar und rein vom Umfang her schlicht kaum zu bewältigen ist? (Der Rezensent hat mit Unterbrechungen mehrere Monate für die komplette Lektüre gebraucht, eine schöne Quälerei).
Fazit: Schläbitz ist mit seinem Buch ein wichtiger Beitrag zu bildungspolitischen Entwicklung gelungen und man kann sich nur wünschen, dass viele verantwortliche Professoren, Lehrer und Bildungspolitiker seinen Text, notfalls auch nur ausschnittsweise, lesen. Freilich sind seine Forderungen bzgl. Wandel zum transhumanistischen Ideal extrem, ja fast schon umstürzlerisch. Andererseits muss man aber auch sehen, dass insbesondere die deutsche Musikwissenschaft sich gedanklich (und sprachlich) größtenteils immer noch im 19. Jahrhundert befindet, seit Jahrzehnten jeglichen gedanklichen Fortschritt bewusst verweigert und sich so längst ins geisteswissenschaftliche Abseits manövriert hat. Nicht nur sind Folk, Jazz, Rock, Pop, Ambient, Techno, Electro, Noise und deren Geschichte immer noch nicht als Studienobjekte angekommen, auch sämtliche modernen Kulturtheorien werden in den traditionell ausgerichteten Instituten von deutschen Hochschulen und Universitäten bis heute gar nicht oder nur in Ausnahmefällen behandelt oder thematisiert. Was bleibt da übrig als ein sauberer Schnitt?
Das gebundene Buch hat 419 Seiten, erscheint bei V&R unipress und kostet knackige 55 Euro. Das ist teuer, ist aber in diesem Fall seinen Preis wert.
Danke für diese ausgezeichnete Rezension, Dennis 🙂