Reise: Party in Pärnu

In meiner letzten Nacht in Tallinn waren nur Frauen im Schlafsaal, also fast, bis auf einen Franzosen, aber der wäre auch fast als Frau durchgegangen. Angenehm zurückhaltende Atmosphäre und keine Schnarcher! Bin trotzdem relativ früh aufgestanden, ist ja immer auch schön, wenn Gemeinschaftsbadezimmer und Aufenthaltsräume noch nicht so voll sind. Ausserdem möchte man als Mann nicht im Weg stehen, wenn die Damen sich hübsch machen.

Schnelles Frühstück, dabei verwickelte mich ein Südkoreaner in ein Gespräch über Gott und die Welt, ungewöhnlich für einen Asiaten, die bleiben ja sonst gern unter ihresgleichen. Im Verlauf kamen wir beide zum Ergebnis, dass es in jeder Form von menschlicher Gemeinschaft auch einen gewissen Anteil von Idioten gibt. Und er erweiterte diese Einsicht mit einem koreanischen Sprichwort: Wenn du in deinem Dorf keinen Idioten erkennen kannst, bist du es wahrscheinlich selbst. Haha, sehr gut, vielversprechender Start in den Tag. Zu uns gesellten sich noch eine amerikanische Ingenieurstudenten und ein spanischer Festivalhopper. Beruflich irgendwas mit IT, er bezeichnete sich als Developer, was er entwickelte wurde auch auf Nachfrage nicht ganz klar. Als ich erzählen sollte, was ich beruflich mache, sagte ich, ich wäre auch Developer, als Lehrer helfe ich Menschen dabei sich selbst zu entwickeln. Alles sehr freundlich und respektvoll, aber auch herzlich. Alle halten mich immer für deutlich jünger als ich bin, keine Ahnung warum, wenn ich in den Spiegel schau, kann ich das nicht bestätigen, es kann nicht am Aussehen liegen. Und ein anderes immer wiederkehrendes Kompliment: Alle lieben Deutschland und die Deutschen, es ist fast ein wenig lästig. Ich versuche immer die Begeisterung zu relativieren, aber meine Gegenargumente sind zum grossen Teil wirklich schwach, wenn ich von den Problemen in den Herkunftsländern meiner Gesprächspartner erfahre. Irgendwann reisse ich mich los, Fotos raussuchen, Blogartikel schreiben, aufräumen, zusammenpacken, da sind die anderen schon längst los- oder weitergezogen.

Fast gleichzeitig mit einer Japanerin ziehe ich los durch die Altstadt zur Tramstation, von da aus zum Busbahnhof etwas ausserhalb. Das schwer beladene, zarte Mädchen ist unsicher und navigiert sich mit ihrem Smartphone durch die fremde Stadt. Dabei ignoriert sie offensichtliche Orientierungpunkte, starrt wie hypnotisiert auf den kleinen Bildschirm, rennt einmal fast gegen ein Strassenschild, es ist faszinierend zu sehen wie wenig sie den Blick auf die Stadt richtet, die sie doch extra besucht hat. Meine vorsichtig angeboten Hilfe will sie nicht annehmen, sie kann wohl nicht glauben, dass man auch ohne Smartphone den richtigen Weg finden kann. Etwas panisch wird sie als sie ohne Karte in der Tram steht und feststellt, dass sie gerade schwarz fährt. Zum ersten Mal nimmt sie Kontakt zu mir auf und fragt mich, wo ich mein Ticket gekauft hätte. Ich antworte ihr, ich hätte auch keins, hab einfach nicht verstanden wie das gehen soll, aber ist doch egal, sind doch nur 3-4 Stationen, wird schon gut gehen, da muss schon was anderes passieren um mich aus der Ruhe zu bringen. Sie schaut mich fassungslos an, glaubt vermutlich, ich ticke nicht mehr ganz richtig, egal.

Der Busbahnhof ist klein und fein, Ticket für die Fahrt nach Pärdu schnell gekauft, Abfahrt in 30 Min. Die Japanerin fährt irgendwo anders hin, ich verliere sie aus den Augen. Sie hatte ihr Ticket für 7,20 vermutlich schon von Japan aus online gebucht damit alles glatt geht. Ich warte in der Sonne auf den Bus, er kommt pünktlich, boarding. Schon am Busbahnhof waren mir einige kurgeschorrenen Männer aufgefallen, die angetrunken wirkten (um 13.00 mittags), beim Besteigen des Buses fällt mir auf, dass einige von denen in den hinteren Reihen Platz genommen haben. Ich habe zwar eine Platzkarte im hinteren Teil des Buses, aber bereits auf halber Höhe rieche ich die Alkoholfahnen und setzte mich lieber direkt hinter den Fahrer, der hat nichts dagegen, der Platz war sowieso frei. Vor mir eine kleine, halbhohe Trennwand, darüber eine Vorhang aus dickem Stoff an einem kleinen Drahtgestell, das an der Plastikverkleidung verankert ist, dahinter der Fahrer. Die Fahrt selbst unspektakulär, es gibt selbstverständlich freies WLAN, ich lasse die Landschaft an mir vorüber ziehen, mache ein kleines Nickerchen. Als ich wieder aufwache, steht der kurze, aber heftige dramaturgische Höhepunkt meiner Reise unmittelbar bevor.

Wir sind kurz vorm Ziel, befinden uns schon in einer Einfallsstrasse nach Pärnu. Von hinten kommt einer der angetrunkenen, offensichtlich wurde während der Fahrt weiter getrunken, er arbeitet sich nach vorne durch den Gang des fahrenden Buses und will dem Fahrer irgendwas sagen. Anscheinend will er nicht bis zum Zentrum mitfahren, sondern schon früher rausgelassen werden. Er steht neben meinem Platz im Gang, knapp hinter dem Fahrer, lallt den von der Seite an, der will sich verständlicherweise auf den Verkehr konzentrieren, muss aus irgendeinem Grund leicht abbremsen, der Typ im Gang kippt nach vorne, verliert das Gleichgewicht, greift hektisch um sich, erwischt den Trennvorhang direkt vor mir, der reisst mit dem Drahtgestell aus der Verankerung und senkt sich mit einer majestätischen Bewegung, etwas beschleunigt durch die Fliehkraft komplett über den Kopf des Fahrers. Ich selbst habe schlagartig freie Sicht nach vorne und sehe einen Busfahrer bei fast voller Fahrt mit einem blaugrauen Vorhang über seinen kompletten Kopf inklusive Schultern. Ich habe zwar nicht mein Leben in einem schnellen Film an mir vorbeirauschen sehen, aber ich dachte mir: Ach du scheisse, das könnte jetzt eng werden!

Der Busfahrer reagierte extrem besonnen, es wirkte fast so als hätte er genau diese Situation zigfach während der Fahrerausbildung einstudiert: Er hält das Steuer gerade mit beiden Händen und bringt das Fahrzeug langsam, immernoch mit Vorhang auf dem Kopf, zum Halten. Dann befreit er sich mit meiner Hilfe von dem Stoff, fährt rechts ran, macht die Warnleuchten an und wendet sich dem Verursacher zu. Der ist bei der Bremsung in die Ecke an der Ausstiegstür gefallen, hält sich den Kopf und jammert vor sich hin. Anscheinend ist ihm gar nicht bewusst, was für eine riesige Scheisse er gerade fast in Gang gesetzt hat. Alle im Bus sind gespannt was jetzt wohl passiert, wir haben gute Plätze und beste Sicht, es folgt der souveräne Showdown. Von irgendwo her greift sich der untersetzte, aber durchaus stämmige Fahrer einen Kleiderbügel und schreit den armen Tropf am Boden stinksauer an, er holt aus, aber schlägt nicht zu, es fällt das Wort „idioti“, das versteh sogar ich (mein erstes Wort auf estnisch), dann schmeist er den Typ auf offener Strasse raus, das Publikum. begeistert, Szenenapplaus. Der Fahrer braucht nur ganz kurz, hängt die labile Vorhangskonstruktion an ihren Platz, er sieht mir dabei ins Gesicht, ich lächle anerkennend, aber halte mein Klappe. 5 Min später kommen wir am Busbahnhof von Pärnu an. Gerade nochmal gut gegangen. Und etwas gutes hatte die Sache bei aller Dramatik trotzdem: Immerhin steht bereits ab Überfahren der Stadtgrenze fest, wer der Idiot dieses Städtchens ist.

Erstmal Tourist Info, nette ältere Damen, die nur etwas Englisch können, aber wir kommen zurecht, das Hostel „Strangers in the Night“ ist gleich um die Ecke, ich checke ein, stelle das Gepäck ab und ziehe gleich wieder los. Heute ist Grillfest, es ist fast 17.00 ich habe tierischen Hunger, also hin. Der Name passt, überall bruzzeln Grille und Riesepfannen, dazwischen kleine Marktstände mit regionalen Snacks, Lebensmittel, Grill- und Küchenutensilien. Kulturprogramm mit folkloristischem Tanz und Musik, feine Sache. Ich esse mich zum ersten Mal seit Tagen satt und laufe weiter zum Strand.
Jetzt nach 18.00 ist nicht mehr viel los, ich laufe barfuss durch*s Meerwasser, irgendwann stosse ich auf den Strand- und Surfclub Aloha, leicht erhõhte Terrasse, Blick auf den Strand, ich setze meine Sonnenbrille auf, lasse mir die salzige Brise durch die Haare wehen und die fetten Beats der Electronbis Dance Musikmassieren meine Trommelfelle. Genau für diese (Nicht)-Tätigkeit wurde die Wortschõpfung Chillaxen erfunden.

Um ca. 20.00 zurück zum Hostel, Lage checken und umziehen, es ist etwas kühler geworden. Im 5er-Zimmer lerne ich meine Mitbewohner kennen: Ein Este, der gerade keine Wohnung hat, ein Argentinier, der die ganze Zeit Stõppsel im Ohr hat und aufs sein Smartphone schaut und zwei hyperaktive, junge Frauen, beide alleinreisend, aber für diesen Abend zu zweit. Eine Deutsche und eine türkisch-stämmige Schwedin, beide sehr gesprächig und in formidabelster Party- und Schäkerlaune. Sie erzählen etwas von sich, dann bin ich dran und bringe ein paar gute Geschichten zum besten, habe ja fast den ganzen Tag mit niemandem geredet, da bekamen sie ein ziemlich verdichtetes Konzentrat in feinster Stoytellermanier. War unterhaltsam und lustig, die beiden hatten eine wahnsinnig schnelle Auffassungsgabe, guten Humor, waren allerdings auch ein kleine wenig fahrig. Alles richtete sich auf die unmittelbar anstehende Abendgestaltung, umziehen, schminken, Party. So nett wie das Aufeinandertreffen war, ich habe andere Pläne und mir schliesst sich der Este an, der die lustige Konversation zwischen mir und den Mädels mitgehört hat, aber sehr zurückhaltend, ja etwas gehemmt wirkt. Keine Ahnung warum, aber ich finde ihn eigentlich ganz nett und wir gehen zusammen zum Grillfest, dort spielt zum Abschluss  eine berühmte estnische Folkband, bestehend aus Fidel, Akkordeon, Gitarre/HiHat und E-Bass. Die erfahrenen Veteranen spielen richtig gute Tanz- und Unterhaltungs und singen abwechselnd auf estnisch. Die Leute: begeistert. Es wird mitgesungen und getanzt von jung bis alt, es wird geschunkelt, paargetanzt und einmal gibt es sogar eine spontane Polonaise, sehr schön, der Este agiert derweil als mein persönlicher Spontanübersetzer, anscheinend geht er normalerweise gar nicht aus, aber die Band kennt er, ein schöner Abend um 23.00 ist das Konzert zu Ende und buchstäblich mit dem letzten Akkord startet das Abschlussfeuerwerk.

Aber die Nacht ist noch nicht zu Ende. Eingeplant ist noch ein Hardrockkonzert im Tempel, gleich in der Nähe vom Grillfest. Der Este geht mit, erzählt mir auf dem Weg von seiner Begeisterung für Elvis Presley, da ist er bei mir natürlich an den richtigen geraten. Als er merkt, dass ich seine Vorliebe ernst nehme, ja teile, hört er nicht mehr auf zu reden. Wir treffen am Eingang zum Tempel noch einen anderen begeisterten und leicht angetrunkenen Esten, der uns enthusiastisch von seiner Lieblingshardrockband berichtet, die ja auch gleich spielen wird und er bietet uns selbstlos ein Bier (Marke: Rock, keine Witz) aus dem Kofferraum seines Autos an. Nein danke, für mich nicht, habe heute ja gesehen wozu Alkoholkonsum führen kann, mein Begleiter schlägt auch aus, aber scheint verwundert. Anscheinend hat er das noch nie gesehen: Ein erwachsener Mann schlägt ein Freibier aus.

Die Show im Tempel war auf 22.00 angesetzt, es gab aber irgendwelche technischen Probleme oder Missverständnisse. Die finnische Openerband „Smokin‘ Aces“ beginnt erst um 23.30, aber passt ja für uns, wir waren ja eben erst eingetroffen. Klassischer Hardrock ala Aerosmith, eigene Songs, tierischer Sänger, saugut, leider nur 5-6 Songs wegen der Verzõgerung. Der estnische Hauptact des Abends startet um ca. 0.30, gut gemachter Progressive Rock, mag ich eigentlich nicht so, aber heute Abend passt’s, hoher Rock and Rollanteil, kein selbstverliebtes Gefuddel, E-Gitarren fahren voll in die Fresse, Drummer prügelt sich die Seele aus dem Leib, Basser schon beim zweiten Song mit nacktem Oberkörper. Zusätzlicher Hingucker: Eine charmante Blondine an Rhythmusgitarre und Keyboard, ungewöhnlich bei dieser männerdominierte Musikart. Um 1.30 klingeln mir die Ohren, ich organisiere mir noch die aktuellen Alben der Bands mit dem Versprechen nach meiner Rückkehr darüber auf dem Blog zu schreiben, werde ich sicher auch machen.

Ab ins Hostel und ins Bett. Morgen ist Sonntag, morgens noch mal kurz zum Strand, dann geht’s weiter nach Riga.

7 Gedanken zu „Reise: Party in Pärnu

  1. Jaaaaaaaa…. Ein Aufatmen geht durch die Bloggemeinde! Ein Selfie! Hey, ist richtig gut geworden. Die Geschichte mit dem Smartphone und der Japanerin kann ich gut nachvollziehen. Öfter mal laufen mir in der Stadt Teenies oder Touristen in die Arme, die den Blick nur auf Smartphone gerichtet haben. Seltsam finde ich so etwas, um nicht zu sagen befremdlich….

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert