Immanuel Brockhaus ist Keyboarder und Dozent an der Hochschule der Künste in Bern. 2001 baute er dort den Studiengang „Musik & Medienkunst“ auf, seit 2003 ist er Leiter des Masters „Pop & Rock“. Als Spätberufener legte er erst zehn Jahre später (2013) im Alter von über 50 Jahren seinen eigenen Master ab und wurde 2016 promoviert. Mit der umfangreichen Schrift „Kultsounds“ kommt er nun der Veröffentlichungspflicht als letztem Schritt seines Promotionsstudiums nach. Zuvor waren das Arbeits- und Lernbuch „Der Piano- und Keyboardprofi“ (Leupelt, 2008) und dessen Überarbeitung „Der Keyboardprofi“ (Transcript, 2016) erschienen.
Brockhaus hat sich für die Forschung im Rahmen seines Promotionsstudiums ein gigantisches, schier unermessliches Feld im Bereich der sog. Sound Studies vorgenommen. In „Kultsounds“ sollen die prägendsten Klänge der Popmusik von 1960-2014 bestimmt und näher betrachtet werden. Diesem großen Unterfangen werden knapp 500 Buchseiten mit viel Text, Tabellen und Graphiken in insgesamt drei großen Kapitel plus umfangreichem Anhang eingeräumt.
Im ersten Kapitel werden – wie in der Wissenschaft üblich – der aktuelle Forschungsstand zusammengefasst und Fachausdrücke definiert. Unterschieden wird z.B. unter Schall, Ton, Klang, Klangfarbe und Geräusch, davon unabhängig werden die englische Begriffe Clangor, Tone, Timbre, Sound und Noise definiert und ihr von der eigentlichen Bedeutung abweichender Sprachgebrauch im Deutschen erklärt. Als Kapitelabschluss werden Sounds populärer Musik „neusortiert“ und poptypische Sounds wie Drums, E-Gitarre, E-Bass, Keyboards, Studioeffekte und Samples katalogisiert. Und damit sind wir auch schon mitten im Dilemma: Es wird abwechselnd spezifiziert und verallgemeinert, diversifiziert und zusammengefasst, verkleinert und vergrößert, vom amerikanischen in den deutschen Sprachgebrauch gewechselt. Zentrales Problem ist, dass das Forschungsgebiet zu weit bzw. in den Randbereichen gar nicht gefasst ist. Freilich ist es schwer Popmusik stilistisch einzugrenzen, aber wenigsten in den Kategorien geographische Verortung, popmusikalisches Genre, Instrumentengruppe, zeitlicher Rahmen, mediale Verbreitung oder sonst irgendwas hätte eine Form der Präzisierung erfolgen müssen. Bereits in den ersten beiden Kapitel ahnt man als Leser, dass dieser unlimitierte Forschungsansatz ins Unermessliche führen wird und das bestätigt die weitere Lektüre.
Ein sehr grober Rahmen wird ab dem dritten Kapitel, dem eigentlichen Hauptteil, vorgestellt: Untersucht werden im weiteren Verlauf die 40 kommerziell erfolgreichsten Singles der US-amerikanischen Billboard Pop Charts der Jahrgänge 1960-2014. Warum genau diese willkürlich anmutenden Jahrgänge zur Grundlage der Untersuchung werden, bleibt unbeantwortet. Es entsteht der Verdacht, dass der Autor damit die popmusikalische Prägung seiner eigenen Biographie nachzeichnet (*1960). Warum ausgerechnet die USA das Epizentrum der Entwicklung von Kultsounds sein sollen? Warum nicht Europa oder in den 1960er insbesondere Großbritannien? Gibt es wenigstens ein paar Einflüsse aus Südamerika, Asien, Afrika? Warum werden Kultsounds in kommerziell erfolgreichen Jahresbestseller-Singles vermutet, nicht aber in künstlerisch erfolgreichen Albumtracks? Etwaige Kultsounds könnten ja auch aus Folk, Jazz, Klassik oder Experimenteller Musik in den Popmainstream herüberschwappen? Diese und weitere naheliegende Fragen könnte man stellen. Eine vermutlich unbeabsichtigte Einschränkung gibt es, wie bei so vielen musik- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten, letztlich doch: Die persönlichen Vorlieben des Forschers. Der studierte Keyboarder Brockhaus betrachtet vorzugsweise elektronische und früh-digitale Klangerzeuger. Gerne analoge Synthesizer und digitale Plug-Ins, Kernthema ist für ihn als Kind der 1980er durchaus erwartbar und mit weitem Abstand das E-Piano des Yamaha DX7, auf das sich die Arbeit hätten beschränken können. Dazu gesellt sich im weiteren Verlauf die Rhythmusmaschine Roland TR-808 und als Kultsoundeffekt der Nuller-Jahren der sog. Auto-Tune-Effekt. Andere Instrumentengruppen wie E-Gitarren (!), E-Bass, Schlagzeug spielen eine deutlich untergeordnete Rolle. Wesentliche musikalische Kategorien wie Arrangement, Harmonisierung, Rhythmus, Instrumentierung, Orchestrierung, Aufnahmetechnik, Mastering, Trägermedium, Präsentationsform, Abhörtechnik etc., aber auch Vermarktung, Werbung, Darreichungsform, die selbstverständlich massiven Einfluss auf Klangformung und Wahrnehmung und somit Prägung haben, werden fast nicht mehr in Betracht gezogen. Offen bleibt im Übrigen auch die Frage wer von den angeblichen Kultsounds geprägt wird, denn da gilt ja nicht für alle Geprägten dasselbe. Auch hier drängt sich der Eindruck auf, dass Brockhaus in erster Linie von seiner eigenen, persönlichen Prägung spricht ohne dies jedoch explizit zu benennen (oder auszuschließen).
Trotz dieser methodischen Einschränkung bzw. inhaltlichen Nicht-Einschränkung und erkennbarer persönlicher Tendenzen bleibt „Kultsounds“ für am Thema interessierte eine lesenswerte Lektüre. Lässt man die aufgeblasene Heranführung und die mangelnde Forscherneutralität mal beiseite, so zeugt insbesondere der dritte, zentrale Teil der vermeintlichen Analyse von einem beeindruckendem popmusikalischem Erfahrungswissen. Da kommt dem Autor ziemlich sicher sein Instrumentalstudium, praktische Erfahrung und ein jahrzehntelanger, leidenschaftlicher Bezug zum Thema zu Gute. Immer wenn markante Beispiele genannt oder Bezüge zur musikalischen Praxis hergestellt werden, erkennt man, dass der Autor nicht aus dem Lehrbuch, sondern aus dem echten (Er-)Leben erzählt. Wenn man als Leser dann nicht an tadelloser, wissenschaftlicher Arbeit, sondern an verwertbarem Erkenntnisgewinn interessiert ist, so wird das Buch letztlich doch noch zu einem lohnenswerten Schmöcker. Dabei kann man sich gut und gerne vorstellen, dass Brockhaus ein inspirierender Dozent, evtl. auch kreativer Musikproduzent ist.
Die Frage ist und bleibt: Kann man (Pop-)Musik mit musikwissenschaftlichen Instrumentarium näher kommen? Jede Einzelperson für sich gesehen ja, abschließende allgemeingültige Antworten wird man durch autobiographische motivierte Ausrichtung und unspezifische Fragestellungen wohl nicht erhalten. Dieses Buch ist jedoch auch ein schöner Beweis für einen wunderbaren Nebeneffekt: Fragwürdige Methodik führt zu interessanten Antworten. Eine irrwitzige und gleichzeitig inspirierende Fleißarbeit!
Das Buch hat 450 Seiten, erscheint bei transcript und kostet krumme 44,99€.
wenn ich diese Rezession so lese frage ich mich doch welches Verständnis von wissenschaftlicher Arbeit der Autor wohl hat (fehlende Eingrenzung auf bearbeitbaren Rahmen) und ob er seine Promotion wohl ebenso verfasst hat….hm
Ich glaube ich schreibe jetzt auch die allgemeingültige Weltgeschichte mal schnell runter und lege fest was zählt!!